Hintergrund
Im Rahmen psychiatrischer und psychotherapeutischer Arbeit ist es nicht selten, dass sich Symptome und die sich davon ableitenden Diagnosen im Behandlungsverlauf ändern. Hierbei ist jedoch nicht nur ein Hinzutreten eines neuen Störungsbildes gemeint, sondern auch eine teilweise oder komplette Änderung der gesamten Symptomkonstellation, welche durch neue Beschwerden abgewechselt wird. Dies ist zumeist mit schwerwiegenden Störungen zusammenhängend. Dabei können vor allem Störungen, die im weiteren Sinne in die Gruppe der traumaassoziierten Störungen [
1] eingeordnet werden, der Symptomatik zugrunde liegen, welche erst im Verlauf klar diagnostiziert werden können.
Ein besonderer Stellenwert kommt hierbei den dissoziativen Störungen zu, welche sich oft erst im Verlauf neben anderen Symptomen zeigen können oder auch als einziges Störungsbild vorliegen können. Im Rahmen aller dissoziativer Störungen kommt es zu einem partiellen oder kompletten Verlust der Integration von Bewusstsein, Erinnerung, Identität, der Sinneswahrnehmungen oder auch einem Verlust der Kontrolle von Körperbewegungen ohne organisches Korrelat. Sie können mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen in Zusammenhang stehen.
Aus psychodynamischer Sicht wird darunter ein Bewältigungsversuch der Psyche für Situationen mit großer Anspannung, Angst oder anderweitig emotional nicht bewältigbarer Eindrücke vermutet. Im Kontext der frühkindlichen Traumata wird die Entwicklung der dissoziativen Identitätsstörung als Konsequenz dessen gesehen, dass das Kind (besonders mit einer genetischen Prädisposition fürs Dissoziieren) wegen der wiederholten Traumatisierungen, der Unberechenbarkeit der Reaktionen von anderen häufig von unerträglich starken Emotionen überflutet wird. Diese Zustände muss es alleine bewältigen, da Trost oder Unterstützung nicht vorhanden sind. Das Aufwachsen unter diesen Umständen verhindert die Entwicklung des einheitlich erlebten Selbst und die unerträglichen Emotionen werden durch dissoziative Prozesse von der entwickelnden Persönlichkeit abgekoppelt [
2].
In diesen Bereich fällt auch die dissoziative Identitätsstörung DSM‑V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) [
3]: 44.81, F44.9 ICD 11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) [
4]: 6B64 und 6N65;), bei welcher bei den Betroffenen häufig erst nach durchschnittlich fünf bis 12,5 Jahren [
5] die Diagnose gestellt wird. Meist erhalten die Betroffenen einen bunten Strauß von Diagnosen, insbesondere der Borderline-Störung oder kombinierte Persönlichkeitsstörungen. Das Störungsbild ist gekennzeichnet durch eine fundamentale Desintegration der Identität, welche in manchen Fällen zur Ausbildung von mitunter nur teilweise bewussten Ich-Anteilen führt. Dabei zeigen die Betroffenen unterschiedliche, dem Kernselbst nicht entsprechende Verhaltensweisen, bis hin zur Veränderung der Intonation, Mimik und Gestik, als auch veränderte Motive, Wünsche und Vorstellungen.
Dissoziative Symptomatik liegt häufig im Bereich der Traumafolgestörungen
Die internationale Fachtraumagesellschaft (ISSTD) beschreibt eine Person mit dissoziativer Identitätsstörung als jemand, die/der getrennte Identitäten erfährt, die unabhängig voneinander funktionieren und voneinander autonom sind. Die Identitäten werden dabei auch als „Alters“ unabhängig mit unterschiedlichen Verhaltensweisen und Erinnerungen beschrieben. Die Betroffenen beschreiben dabei ihr Erleben häufig als diskontinuierlich, häufig auch mit dem Auftreten von Erinnerungslücken. Dabei liegt die Beziehung zur Borderline-Störung oftmals nahe, da auch hier eine oft schwerwiegende Identitätsstörung vorliegen kann und neben dem Abwehrmechanismus der Spaltung dissoziative Symptome bei einem Teil der Betroffenen ebenfalls hinzutreten können [
6].
Gleichzeitig kann im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen ebenfalls ein Auftreten von außen „angebotenen“ z. B. von anderen Patient:innen beschriebenen Beschwerden „angenommen werden“ aufgrund der vorliegenden Instabilität der Identität. Während der Begriff der Dissoziation erstmals von Pierre Janet Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde [
7], wurde die Störung erstmals 1980 in das Amerikanische Klassifikationssystem für Psychische Störung (DSM-III) [
8] unter dem Begriff der „Multiplen Persönlichkeit“ mitaufgenommen, welche in der Wissenschaft auch kontrovers diskutiert wurde.
Die ICD-11 ermöglicht die Diagnose der partiellen dissoziativen Identitätsstörung
Nach aktuellem Stand der psychiatrischen Forschung wird jedoch davon ausgegangen, dass ein bis fünf Prozent der Bevölkerung unter diesen Störungen leiden. Es wird angenommen, dass neben der voll ausgeprägten Form auch eine partielle Form existiert, die nicht alle Diagnosekriterien erfüllt und erstmalig in der ICD-11 als eigenständige Diagnose aufgenommen wurde. Als für die Entstehung relevant gelten hauptsächlich schwerwiegende – vor allem für das Entwicklungsalter nicht verarbeitbare – traumatische Lebenserfahrungen (sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, schwerer emotionaler Missbrauch), insbesondere vor dem fünften Lebensjahr, bei gleichzeitig fehlender emotional stützender Versorgung [
9]. Im Folgenden wollen wir einen Fall darstellen, welcher aufgrund der Symptomatik und Vorgeschichte in Bezug auf die dissoziative Identitätsstörung diskutiert werden kann. Hierbei wollen wir auch auf etwaige Differentialdiagnosen eingehen.
Symptomatik
Die 52-jährige Patientin gelangte durch Zuweisung des ambulanten Psychiaters zur stationären Aufnahme. Der Aufnahmegrund war die Erstmanifestation einer vielfältigen dissoziativen Symptomatik im vergangenen Jahr durch plötzlich auftretende traumatische Kindheitserinnerungen im Rahmen einer stationären Behandlung der seit einigen Jahren bekannten komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 [
10]: F43.1). Im Rahmen der dissoziativen Störung mit gemischten Symptomen (F44.7) kam es bei der Patientin zur Derealisation, zum Zittern und Taubheitsgefühl in den Extremitäten, zur Amnesie an bestimmte Lebensereignisse und Lebensphasen sowie Alltagsgeschehnisse, zu dissoziativen Anfällen mit partieller oder voller Bewusstlosigkeit und gelegentlich zu dissoziativen Krampfanfällen. Aufgrund der breiten dissoziativen Symptomatik entwickelte sich sekundär eine Agoraphobie (F40.0).
Außer der Vorstellungssymptomatik zeigten sich in der Anamnese der Patientin weitere relevante, psychische Störungsbilder, wie eine mittlerweile remittierte Panikstörung (F41.0) seit dem 18. Lebensjahr und eine rezidivierende depressive Störung, meistens mit mittelgradigen Episoden (F33.1) seit der dritten Lebensdekade. In ihren Vierzigerjahren sei es zu einem Übergewicht und daraufhin zu einer extremen Kompensation durch ein restriktives Essverhalten gekommen, die rückblickend die Kriterien einer atypischen Anorexie (F50.1) erfüllt haben dürfte. Seit dem Alter von 46 seien regelmäßige Essattacken (F50.4) vorhanden, die sie so erlebe, als ob sie nicht sie selbst wäre, obwohl sie sich an die verzehrten Lebensmittel immer erinnern und diese protokollieren könne.
Im Weiteren zeigte sich eine über die vorher erwähnten Diagnosen hinausgehende Spaltung der persönlichen Identität bei der Patientin. Sie berichtete von zehn unterschiedlichen „Persönlichkeitsanteilen“, die in unterschiedlichen Lebensaltern zustande gekommen seien. Einige dieser entsprachen dem Persönlichkeitskonzept der bekannten psychologischen Psychotherapien beziehungsweise der Schematherapie, zum Beispiel „der innere Kritiker/Antreiber“. Andere Persönlichkeitsanteile hatten auch eigene Namen, wie „die kleine Kitty“ (verletztes Kind), „die wütende Kitty“ (wütendes Kind) oder „Friderike“ (glückliches Kind).
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Das verletzte und das wütende Kind trugen den eigenen Vornamen der Patientin, das glückliche Kind den zweiten, nicht verwendeten Vornamen der Patientin, was der Patientin bis zur aktuellen stationären Psychotherapie nicht bewusst gewesen sei. Bei manchen dissoziativen Anfällen sind durch das Hervortreten bestimmter Persönlichkeitsanteile („die kleine Kitty“, „der Böse“) intensive Emotionen der Furcht, Ekel oder Hass erlebt worden, die im Alltag der Patientin fehlten. Die Essattacken wurden durch einen eigenen Persönlichkeitsanteil „Gisela“ verkörpert. Weitere Persönlichkeitsanteile waren zum Beispiel „Wonderwoman“, die einen starken, selbstbewussten und kämpferischen, aber emotionslosen Anteil der Persönlichkeit verkörpert habe, oder „Marie“, der depressive Anteil der Patientin mit Suizidgedanken.
Außerdem hatte sie einen im frühen Alter entstandenen „Wächter“, dessen Funktion war, Frau G. vor potenziellen Verletzungen durch sozialen Rückzug oder die Dissoziation zu schützen. Die meiste Zeit hatte die erwachsene Persönlichkeit von Frau G. die Kontrolle. Die Patientin hatte keinen Einfluss darauf, welcher Anteil gerade die Oberhand hatte, aber rückblickend konnte sie es immer bewusst machen. Außerdem berichtete die Patientin, die miteinander diskutierenden Stimmen der Persönlichkeitsanteile regelmäßig zu hören.
Aufgrund dieser Symptomatik ergab sich, unter der Berücksichtigung der fehlenden Amnesie auf das Hervortreten der unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile, die Verdachtsdiagnose einer partiellen dissoziativen Identitätsstörung (ICD 11: 6N65). Ähnlich wie Gast und Wirtz [
11] beschreiben, zeigte sich bei der Patientin eine Mischung diverser dissoziativer und posttraumatischer Symptome, die in eine Matrix unspezifischer und nicht primär traumabezogener Symptome eingebettet waren, wie Depression, Panikstörung oder Essstörung.
Auch bei Frau G. wurde der Fokus in der vorherigen Diagnostik auf die im Vordergrund stehenden Symptome gelegt. Auf der Persönlichkeitsebene sind in unterschiedlichen Behandlungssettings unterschiedliche Persönlichkeitsstörungsdiagnosen gestellt worden: 2023 selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6), 2020 narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung (Z73.1), 2009 kombinierte Persönlichkeitsstörung (F61.0) mit schizoiden, depressiven und emotional-instabilen Tendenzen. Wegen der Widersprüchlichkeit der Vorbefunde und der Vielfältigkeit der dissoziativen Symptome wurde ein ergänzender psychodiagnostischer Prozess auf unserer Station eingeleitet.
Anamnese
Frau G. sei in einer Familie mit drei Töchtern als mittleres Kind aufgewachsen. Sie berichtet vom schweren körperlichen und emotionalen Missbrauch seitens beider Eltern, vor allem seitens des strafenden und fordernden Vaters, der bei den bewaffneten Diensten tätig gewesen sei. Sie habe bis zum Alter von 18 wegen der unberechenbaren harten Bestrafungen in ständiger Unsicherheit und Angst gelebt. Durch das Miterleben des körperlichen Missbrauchs ihrer älteren Schwester sei es auch zu sekundärer Traumatisierung gekommen. Mit 11 Jahren habe die Patientin sexuelle Belästigung in der Schule von einem etwas älteren Mitschüler erlebt, ohne von den Erwachsenen in der Schule oder zu Hause Unterstützung oder Schutz bekommen zu haben.
Als die Patientin 18 Jahre alt war, kam es zur Scheidung der Eltern. Sie habe weiterhin bei der Mutter gelebt und zu studieren begonnen, wobei sie zwei Studiengänge jeweils nach einigen Jahren abgebrochen habe. In der Zeit habe sich die Panikstörung manifestiert. Die Patientin habe ihr Bachelorstudium erst deutlich später, im Alter von 43 in der Mindeststudienzeit mit Auszeichnung abgeschlossen, aber nie in dem Bereich gearbeitet. Beruflich sei sie überwiegend im Handel tätig gewesen sowie eine kurze Zeit im Sicherheitsdienst. Sie sei zweimal verheiratet gewesen, in der zweiten Ehe, während und nach der zweiten Scheidung habe sie viel psychische und körperliche Gewalt erlebt. Im Alter von 37 Jahren kam es zur ersten stationären psychiatrischen Behandlung aufgrund ihrer Angst- und depressiven Symptomatik, die seitdem von zahlreichen weiteren stationären, tagesklinischen und ambulanten Behandlungen sowie Rehabilitationsversuchen gefolgt wurde. Seit fünf Jahren ist sie berufsunfähig. Aktuell wohne sie mit ihrer Mutter im gemeinsamen Haushalt; werde von ihrer älteren Schwester und auch von ihrem Schwager unterstützt.
Diagnostik
Es wurden die folgenden Selbstbeurteilungsinstrumente erhoben: Beck Depressionsinventar-II (BDI-II) [
12], State-Trait-Angstinventar (STAI) [
13] und die deutsche erweiterte Version der Dissociative Experiences Scale (DES) [
14], der Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen (FDS) [
15], anhand dessen auch der DES-Wert ermittelt wurde. Sowohl der Mittelwert von FDS als auch der anhand des FDS ermittelte DES-Wert lagen über den für dissoziative Störungsbilder ausschlaggebenden Cut-off-Werten für FDS (13 Punkte) und DES (15 Punkte) nach Rodewald und Kollegen [
16]. Obwohl während des diagnostischen Prozesses bei der Patientin keine depressive Episode und keine Panikstörung mehr vorhanden waren, kann bei einem BDI-Wert von 31 von einer depressiven Verstimmung und bei einem T‑Wert von 72 auf der STAI-Trait-Skala von erhöhter Angst als Persönlichkeitsmerkmal ausgegangen werden.
Zur Erfassung der dissoziativen Symptomatik wurde die Kurzversion des SKID-D-Interviews (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV für Dissoziative Störungen) [
17] durchgeführt. Der Schweregrad der Symptomatik war in den Bereichen der Amnesie, Derealisation und Identitätsunsicherheit bei der Patientin als „mäßig“ und in den Bereichen der Depersonalisation und Identitätswechsel als „schwer“ einzuschätzen. Die diagnostischen Kriterien einer potenziellen dissoziativen Identitätsstörung wurden bei der Patientin auch nach Dell [
18] und Gast [
19] überprüft. Von den A‑Kriterien (Dissoziative Symptome des Gedächtnisses und der Wahrnehmung) wies die Patientin die erforderlichen vier (Gedächtnisprobleme, Depersonalisation, Derealisation und somatoforme Dissoziation) und von den B‑Kriterien die erforderlichen sechs (innere Dialoge, herabsetzende innere Stimmen, teildissoziierte Emotionen, teilweise dissoziiertes Verhalten, zeitweise nicht zu sich gehörig erlebte Fertigkeiten, wie Verlust der Schreibfertigkeit oder Unfähigkeit zwischen links und rechts zu unterscheiden, teildissoziierte Selbstzustände) auf. Von den C‑Kriterien erfüllte die Patientin nur eins, nämlich das Vorhandensein der Hinweise auf kürzlich ausgeführte Handlungen, an die sie sich nicht erinnern könne. In Anbetracht der Ergebnisse der psychologischen Untersuchung kann bei Frau G. von einer nicht näher bezeichneten Dissoziativen Störung (ICD-10: F44.9) oder einer „dissociative disorder not otherwise specified“ (DDNOS, DSM-IV-TR [
20]) oder einer partiellen dissoziativen Identitätsstörung (ICD-11: 6N65) ausgegangen werden.
Im Rahmen der stationären Behandlung von Frau G. wurde der Fokus zusätzlich zur Stabilisierung auf die Akzeptanz der eigenen Person und Geschichte, den Umgang mit Schuld- und Schamgefühlen und die ersten Schritte Richtung der Integration der Persönlichkeitsanteile gelegt.
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