Beginnt die MS im Dünndarm?

Im Dünndarm werden möglicherweise "Schläfer-T-Zellen" aktiviert, die eine MS triggern. Deutsche Forscher konnten im Tiermodell eine solche Aktivierung in den Darmzotten nachweisen. Jetzt sind sie auf der Suche nach dem Auslöser – und haben Keime im Verdacht. Was genau bestimmte T-Zellen im Darm finden, das sie zu Neuronenkillern macht, ist noch unklar. Wo genau sich das Drama abspielt, hingegen schon: in der Lamina propria der Darmvilli des Ileum. Falls es einen Ort gibt, der den Beginn einer Multiplen Sklerose markiert, dann vielleicht dieser. Der Neuroimmunologe Professor Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried vermutet schon seit einiger Zeit einen bedeutsamen Einfluss der Darmflora bei der MS-Entstehung. Möglicherweise triggern im Darm befindliche Keime bei Personen mit einer genetischen Prädisposition für Autoimmunkrankheiten eine Kreuzreaktion gegen Myelin. Der Verdacht beruht auf Forschungen an einem Mausmodell: Forscher um Wekerle haben genveränderte Tiere mit myelinreaktiven T-Zellen hergestellt. Solche Tiere entwickeln immer wieder demyelinisierende Schübe, ähnlich wie MS-Patienten. Das tun sie allerdings nicht, wenn sie in keimfreier Umgebung aufgezogen werden, dann bleiben sie von der Nager-MS verschont. Die autoreaktiven T-Zellen "schlafen" in solchen Tieren offenbar, doch sobald sie mit den üblichen Darmbakterien in Kontakt kommen, werden sie aktiviert und greifen das Nervensystem an. Versuche mit Stuhl von Zwillingen Hat das aber wirklich etwas mit einer MS bei Menschen zu tun? Aufhorchen lassen Versuche, die Wekerle vor drei Jahren beim DGN-Kongress in Düsseldorf präsentierte. In den Darm genveränderter Mäuse wurden Stuhlproben von menschlichen Zwillingen transferiert, von denen einer eine MS hatte, der andere nicht. 60 Prozent der Mäuse mit Stuhlproben von MS-Kranken entwickelten binnen zwölf Wochen die Autoimmunerkrankung, bei den anderen Mäusen waren es nur halb so viele. Offenbar haben MS-Patienten ein Darmmilieu, das autoreaktive T-Zellen anstachelt. Auch bei Menschen wird angenommen, dass jeder über ein Reservoir schlafender autoreaktiver T-Zell-Klone verfügt. Erst wenn diese durch unbekannte Trigger aktiviert werden, greifen sie die jeweiligen Zielorgane an, so Wekerle auf dem Kongress der europäischen Neurologengesellschaft EAN in Lissabon. Und diese Trigger können offenbar aus dem Darm stammen. Auf der Suche nach dem auslösenden Keim Inzwischen haben viele Forscher nach Unterschieden in der Darmzusammensetzung von MS-Patienten und Gesunden gesucht, allerdings wenig gefunden. Die menschliche Darmflora mit ihren rund 2000 auf unterschiedliche Darmabschnitte verteilten Bakterienspezies sei hochkomplex, so der Forscher. Viele der Arbeiten konnten nicht reproduziert werden, am konsistentesten scheinen sich die Därme in Studien bei der Besiedelung mit Akkermansia- und Sutterella-Spezies zu unterscheiden. Erstere treten bei MS-Kranken etwas seltener, Letztere häufiger auf. Wekerle sprach jedoch von eher subtilen Differenzen. Im vergangenen Herbst hatten japanische Forscher auf dem ECTRIMS-Kongress in Paris Untersuchungen bei MS-Kranken präsentiert, wonach diese einen Mangel an ballaststoffabbauenden Darmbakterien aufweisen. Solche Bakterien produzieren unter anderem kurzkettige Fettsäuren, vor allem Buttersäureester, die wiederum für die Induktion regulatorischer T-Zellen benötigt werden. Diese Fettsäuren scheinen die autoreaktiven T-Zellen im Schlafmodus zu halten; ändert sich die Ernährung, könnte sich das MS-Risiko erhöhen. Dies würde wiederum eine Erklärung liefern, weshalb die MS-Inzidenz in Japan in den vergangenen Dekaden dramatisch zugenommen hat: Immer mehr Menschen verzichten auf die traditionelle ballaststoffreiche Ernährung und kopieren den westlichen Lebensstil. Erweckung der T-Zellen im Ileum Doch welche Prozesse im Darm autoreaktive T-Zell-Schläfer in den Alarmmodus versetzen, sei letztlich noch nicht wirklich verstanden, so Wekerle. Forscher um den Neuroimmunologen konnten nun allerdings zeigen, wo genau das geschieht, und zwar mit einem speziellen fluoreszenzmikroskopischen Verfahren, der Zwei-Photonen-Mikroskopie. Sie markierten autoreaktive T-Zellen mit einem Farbstoff, der bei massivem Kalziumeinstrom im Laserlicht aufleuchtet. Ein solcher Einstrom wird als Zeichen der Aktivierung gedeutet. In ihrem Mausmodell konnten die Forscher in vivo auf diese Weise die Aktivierung von T-Zellen beobachten. Sie fanden die Lichtsignale der geweckten T-Zellen ausschließlich in der Lamina propria der ilealen Zotten. Sollte sich ein ähnlicher Mechanismus auch bei Menschen bestätigen lassen, würde dies neue Therapie- und Präventionsmöglichkeiten eröffnen: Vielleicht können regulatorisch wirkende Fettsäuren eine MS bei Risikopatienten verhindern. Optionen wären auch eine selektive Antibiose gegen MS-triggernde Keime oder eine Mikrobiomtransplantation. Letztere wird offenbar schon von einigen verzweifelten MS-Patienten praktiziert. Wekerle warnte jedoch explizit davor: Noch gebe es keinerlei Evidenz, dass sich mit einer Stuhltransplantation der MS-Verlauf verbessern lasse. basierend auf: Presidential Symposium, 4th Congress of the European Academy of Neurology. Lissabon, 16.–19.6.2018 Weitere Artikel finden Sie in unserem EAN-Kongressdossier: Empfehlung der Redaktion Berichte aus Lissabon EAN 2018 – das Kongressdossier Die aktuelle Berichterstattung zum 4. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) finden Sie in unserem Kongressdossier. Darin: Rasagilin kann das Leben von ALS-Patienten etwas verlängern. Und: Morgentypen bekommen eher Parkinson.

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