Von der Aura zum Kopfschmerz

Eine kortikale Übererregung ist für die Entstehung einer Migräneattacke von großer Bedeutung. Sich kortikal ausbreitende Depolarisationswellen scheinen sowohl Auraphänomene als auch Kopfschmerzen zu triggern. Per Magnetstimulation lässt sich dieser Prozess hemmen. Viele Aspekte einer Migräne sind heute gut verstanden, etwa die Bedeutung des trigeminovasalen Systems, auf dem die meisten Migränemedikamente beruhen. Diese zielen bekanntlich primär auf die Vasodilatation in der Dura mater. Was bei der Migräne Ursache und was Wirkung ist, darüber wird aber noch immer diskutiert. Vieles spricht dafür, dass die Aktivierung des trigeminovasalen Systems die Endstrecke eines Prozesses ist, der im Kortex beginnt, und dort scheint sich häufig der okzipitale Kortex als Migränezentrum zu erweisen. Forschungen zur Migräne mit Aura, die auf dem Kongress der europäischen Neurologengesellschaft EAN vorgestellt wurden, legen einen solchen Zusammenhang nahe. Als Auslöser von Auraphänomenen gelten mittlerweile sogenannte Streudepolarisationen oder „cortical spreading depressions“ (CSD). Dabei kommt es durch einen Trigger und eine besondere Sensibilisierung zu einer massiven Depolarisation einer kritischen Menge von Nervenzellen. Auf biochemischer Ebene können bestimmte Neurotransmitter, eine Hypoxie oder erhöhte Kaliumkonzentrationen eine CSD auslösen. In Tierexperimenten lassen sich solche Depolarisationswellen etwa durch eine Stimulationselektrode, Glutamat oder Kaliumchlorid erzeugen und über Elektrodenableitungen oder spezielle bildgebende Verfahren gut beobachten, erläuterte Dr. Margarita Sanchez del Rio von der Clínica Universidad de Navarra in Madrid auf der Tagung. Durch den starken Reiz kommt es in den betroffenen Nervenzellen zu einer extremen Depolarisation mit einer Disruption der Ionenhomöostase: Kalium strömt dabei massiv aus den Nervenzellen, Natrium hinein. Letzteres zieht Wasser mit sich, worauf die Nervenzellen anschwellen, gleichzeitig schrumpft der extrazelluläre Raum, was die Kaliumkonzentration weiter erhöht. Kalium kann dann zusammen mit exzitatorischen Neurotransmittern aus den depolarisierten Nervenzellen die Nachbarzellen ebenfalls depolarisieren – der Prozess breitet sich wellenförmig aus, mit einer Geschwindigkeit von 2–5 mm pro Minute. Er hat also nichts mit der viel schnelleren synaptischen Erregungsweiterleitung zu tun, so Sanchez del Rio. Temporärer Knockout Tatsächlich werden die Nervenzellen dabei temporär ausgeschaltet – sind also für ankommende Signale nicht mehr empfänglich. Die Neurologin verglich das mit einer Batterie, die komplett entladen wird. Es dauert nach der Depolarisation etwa 10–15 Minuten, bis die Ionenhomöostase wiederhergestellt und genug Natrium heraus- sowie Kalium hereingepumpt wurde. Die Batterie muss also erst wieder aufgeladen werden, was viel Energie benötigt. Dann beginnt langsam wieder die übliche Aktivität. Gleich nach einer CSD erhöht sich zudem der Blutfluss in den betroffenen Regionen kurzfristig sehr stark, um dann aber für etwa eine Stunde in eine Hypoperfusion überzugehen. Dass eine CSD an der Migräne beteiligt ist, dafür sprechen nach Ansicht von Sanchez del Rio vor allem Hirnscans von Betroffenen während einer visuellen Aura: Hier sind Aktivierungswellen im visuellen Kortex zu sehen, die sich mit einer ähnlichen Geschwindigkeit ausbreiten wie eine CSD im Tiermodell, auch sind die von der Welle überrollten Areale danach für einige Minuten inaktiv. Dies geht einher mit visuellen Ausfallerscheinungen, die sich im Blickfeld der Betroffenen ebenfalls oft wellenförmig ausbreiten. Eine CSD mag also eine visuelle Aura und auch andere sensomotorische Phänomene gut erklären, sofern sie in andere Hirnareale übergeht oder in solchen beginnt. Der okzipitale Kortex sei aber durch seinen hohen Neuronen- und relativ geringen Gliagehalt besonders für CSD anfällig, die hohe Neuronendichte erleichtere die Übertragung der Depolarisation auf die Nachbarzellen, sagte Sanchez del Rio. Doch wie entsteht aus einer CSD der Migräneschmerz? Die Trigeminusfasern sind bekanntlich nicht gerade in der Nähe des okzipitalen Kortex. Die Neurologin Dr. Anna Andreou vom King’s College in London vermutet mehrere Mechanismen: Zum einen werden bei einer CSD massiv proinflammatorische und gefäßerweiternde Substanzen ausgeschüttet, welche das trigeminovasale System aktivieren können, etwa, indem sie trigeminale Fasen besonders sensibilisieren. Zum anderen scheint es einen weit spezifischeren Weg zu geben, der auch einige andere Phänomene wie eine Migräne ohne Aura oder eine Aura ohne Migräne erklären kann. Sensibilisierung im Thalamus Für Andreou liegt die Erklärung im Thalamus. Dort werden sowohl aufsteigende trigeminale Signale verschaltet als auch absteigende kortikale, wobei nur etwa 10% der absteigenden inhibierenden Signale die Schmerzwahrnehmung betreffen, so die Expertin. Ein massives Ereignis wie eine CSD sollte also auch im Thalamus Spuren hinterlassen, und diese konnte ein Team um Andreou in eigenen Experimenten nachweisen. Lösten die Forscherinnen und Forscher im Tiermodell eine CSD aus, so wurden manche Schaltneuronen im Thalamus stark erregt, andere wiederum wurden gehemmt oder waren gar nicht betroffen. Interessant ist nun das Verhalten von trigeminalen Neuronen dritter Ordnung im Thalamus: Diese waren häufig stark aktiv und fingen auch noch lange nach der CSD spontan an zu feuern. Offenbar wurden sie durch das Ereignis sensibilisiert. Andreou vermutet, dass diese sensibilisierten Neuronen das trigeminale System aktivieren und den Migränekopfschmerz im Anschluss an die Aura auslösen. Für die Sensibilisierung ist jedoch nicht einmal eine CSD nötig, oft genügte in den Experimenten auch eine erhöhte kortikale Erregung noch unter der Schwelle zu einer CSD, um den Prozess in Gang zu setzten. Letztlich sei die Balance zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Signalen, ausgelöst durch die kortikale Erregung, für das Ergebnis entscheidend, sagte Andreou. So könne eine Migräne ohne Aura durch eine kortikale Übererregung mit exzitatorischen Schwerpunkt im Thalamus ausgelöst werden, eine Aura ohne Migräne, etwa ein Flimmerskotom, durch überwiegend inhibitorische oder neutrale Auswirkungen einer CSD auf den Thalamus. Bestätigt sieht Andreou die Übererregbarkeitshypothese durch Studien mit transkranieller Einzelpuls-Magnetstimulation (sTMS). Im Tiermodell ließ sich damit die Schwelle für eine CSD deutlich erhöhen, auch breitete sich eine CSD unter inhibitorischer Stimulation weniger gut aus. In ähnlicher Weise scheinen wiederholte TMS-Anwendungen die kortikalen Neuronen auch bei Migränekranken zu desensibilisieren. Andreou verwies auf eine randomisiert-kontrollierte Studie, dabei erreichten 46% mit TMS und nur 20% mit Scheinstimulation eine Halbierung der Migränetage. In einer eigenen prospektiven Analyse schafften etwa 60% der Betroffenen eine Reduktion der Migränetage um 30%. Dies sei im Bereich dessen, was auch mit Medikamenten erzielt werde. In Großbritannien und den USA ist mittlerweile ein tragbares TMS-Gerät zugelassen, das sich die Betroffenen selbst auf den Hinterkopf setzen können, so die Neurologin. Empfehlung der Redaktion Berichte vom Kongress EAN 2022 – das Kongressdossier Im Dossier finden Sie unsere Highlights und Berichte vom 8. Kongress der European Academy of Neurology (EAN). Sie lesen zum Beispiel zu Parkinsonmutationen und der damit verbundenen Lebenserwartung, zum neuen Komplementhemmer bei NMOSD und erfahren, welche Forschungsergebnisse die Entstehung von Migräne mit Aura weiter entschlüsseln. Quelle: 8th Congress of the European Academy of Neurology (EAN). Wien und virtuell, 25-28.6.2022. Symposium 5: Migraine Cortical Spreading Depression – from pathophysiology to clinical expression.

Live-Webinar: Aktuelle Leitlinien bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Springer Medizin

Von der Aura zum Kopfschmerz

Weiterführende Themen

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Antihypertensiva schützen auch alte Menschen noch vor Demenz

Fünf Dinge, die im Kindernotfall besser zu unterlassen sind

Delir kann Demenz begünstigen

Manche Gestagene können das Risiko für Meningeome erhöhen