MS-Therapie: „Hit hard and early“ oder stufenweise eskalieren?

Eine aggressive MS-Therapie stoppt die Krankheitsaktivität mitunter komplett, birgt aber auch Risiken. In Berlin äußerten Experten unterschiedliche Auffassungen, wer solche Therapien erhalten sollte. Wird eine MS möglichst früh und mit einer aggressiven Therapie angegangen, die das Immunsystem ganz oder teilweise ausschaltet, lassen sich beeindruckende Erfolge erzielen. Selbst Patienten mit aggressivem Verlauf werden dann über Jahre hinweg von neuen Schüben verschont. Viele zeigen auch keine radiologischen Zeichen der Erkrankung und entwickeln keine neuen Behinderungen mehr – im Gegenteil, diese gehen oft zurück. Gezeigt werden konnte dies mit B-und/oder T-Zell-depletierenden Antikörpern wie Alemtuzumab, Ocrelizumab und Rituximab sowie mit der autologen Stammzelltransplantation. Wie lange der Erfolg anhält, ist noch unklar. Vielleicht kann die MS bei manchen Patienten komplett gestoppt werden, das müssen länger dauernde Beobachtungen jedoch erst noch zeigen. Jetzt schon klar ist, dass MS-Kranke umso mehr von einer aggressiven Therapie profitieren, je früher sie behandelt werden. Das führt zu einem Dilemma: Sollen Ärzte die hochpotenten Arzneien möglichst früh einsetzen und damit Patienten auch einem Risiko für seltene, aber erhebliche Nebenwirkungen aussetzen? Oder sollen sie es erst mit einem weniger riskanten Immunmodulator versuchen und dabei die Gefahr einer Krankheitsprogression eingehen? Behinderungen komplett zurückgegangen Professor Gavin Giovannoni vom Royal London Hospital sprach sich auf dem Kongress der europäischen MS-Gesellschaft ECTRIMS klar für ein „hit hard and early“ aus und nannte aus den Alemtuzumab-Studien zwei Beispiele junger Patienten mit einem zunächst sehr ähnlichen Krankheitsbeginn. Der eine, ein bekannter Golfspieler, wurde zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf mit dem Antikörper behandelt und ist nun, zwölf Jahre später, frei von jeglicher Krankheitsaktivität. Seine ursprünglichen Behinderungen haben sich komplett zurückgebildet, er spielt nach wie vor professionell Golf. Empfehlung der Redaktion Neurologische Notfälle – Themenseite Status epilepticus, Schlaganfall oder aber auch Migräne zählen zu den neurologischen Notfällen, mit denen Notärzte konfrontiert werden können. Empfehlungen für die Praxis aber auch aktuelle Nachrichten oder CME-Kurse finden Sie auf der Themenseite. Ein weiterer Patient bekam eine Interferontherapie, blieb darunter zunächst stabil, erlitt dann aber zwei schwere Schübe und hatte plötzlich einen EDSS-Wert von 6,5. Nach der Behandlung mit Alemtuzumab kam die MS-Aktivität auch bei diesem Patienten zum Stillstand, sein EDSS-Wert persistiert nun aber bei 3,5 Punkten. Er hat täglich mit Spastiken zu kämpfen und eine deutlich eingeschränkte Lebensqualität. „Es macht eben einen großen Unterschied, wann Sie mit einer solche Behandlung beginnen“, sagte Giovannoni. „Würfeln Sie nicht!“, riet er den Ärzten. Mit einer niedrigwirksamen Therapie liege die Wahrscheinlichkeit, die Krankheitsaktivität komplett zu stoppen, bei etwa 20%, mit einer hocheffektiven bei 80%. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Patient zu denjenigen gehöre, die unter einer niedrigeffektiven Therapie dauerhaft keine Krankheitsaktivität entwickeln, sei nun einmal sehr gering. Krankheitsaktivität bedeutet letztlich aber Behinderungsprogression, und die gelte es unter allen Umständen zu vermeiden. Giovannoni verwies auf die Rheumatologen, die dank früher und aggressiver Therapie praktisch keine verkrüppelten Hände mehr zu Gesicht bekämen. Auch in der MS müsse es darum gehen, irreversible Organschäden zu vermeiden, umso mehr als das Gehirn ein Organ sei, das sich im Gegensatz zu den Gelenken nicht ersetzen lasse. Daher sei auch die Normalisierung des Hirnvolumenverlusts ein wichtiges Ziel der MS-Therapie. Der Experte hält hochpotente MS-Therapeutika nicht unbedingt für riskanter, die Risikoverteilung sei jedoch anders. Hier liege die Gefahr in den Nebenwirkungen zum Therapiebeginn. Bei immunrekonstituierenden Therapien wie Alemtuzumab oder der Stammzelltransplantation sei die Therapie nach einem oder mehreren Zyklen abgeschlossen und die Patienten hätten dann bei Erfolg weitgehend Ruhe. Unter niederwirksamen Erhaltungstherapien akkumuliere jedoch mit der Zeit das Risiko für neue Schübe und Behinderungen. Die Gefahr von schweren Nebenwirkungen unter potenten MS-Mitteln lasse sich mittlerweile durch ein geeignetes Monitoring minimieren. Giovannoni nannte etwa Tests auf JCV-Antikörper unter Natalizumab sowie ein Screening auf Autoimmunkrankheiten unter Alemtuzumab. Der Neurologe sprach sich letztlich für eine Treat-to-target-Strategie aus, mit dem Ziel, die Krankheitsaktivität komplett zu stoppen und eine Schädigung des Gehirns zu vermeiden. Kanonen auf Spatzen? Eine andere Auffassung vertrat Professor Daniel Ontaneda von der Cleveland Clinic in den USA. Er warnte davor, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, der Schaden sei dann mitunter größer als der Nutzen. Zwar vertrat auch Ontaneda die Position, Schübe und radiologische Krankheitsaktivität durch eine geeignete Therapie zuverlässig zu unterbinden. Ärzte sollten dafür aber diejenige Therapie wählen, die bei ausreichender Effektivität die geringste Last für den jeweiligen Patienten darstelle. Hier könnten immunmodulatorische Erhaltungstherapien mit einem bewährten und gut bekannten Sicherheitsprofil glänzen. Das spreche für den Beginn einer moderat wirksamen Therapie und einer Eskalation bei bestehender Krankheitsaktivität – jedenfalls bei denjenigen Patienten, die kein übermäßiges Risiko für eine Krankheitsprogression zeigten. Empfehlung der Redaktion Highlights vom ECTRIMS-Kongress 2018 Das European Committee for Treatment and research in multiple sclerosis (ECTRIMS) traf sich zu seinem Kongress 2018 in Berlin. Themen waren u. a. frühe kognitive Probleme und Fatigue bei MS sowie die Effekte einer autologen Stammzelltransplantation als Erstbehandlung. Alle Berichte finden Sie gesammelt in unserem Kongressdossier. Anhaltspunkte könnte hierfür der bisherige Krankheitsverlauf geben: Patienten mit geringer Schubrate, wenigen T2-Läsionen und niedrigem EDSS-Wert hätten eine gute Prognose. „Wir dürfen solche Patienten nicht übertherapieren“, sagte der Neurologe. Allerdings würden die bisherigen Biomarker nicht ausreichen, um Patienten klar zu erkennen, die sofort eine hochwirksame Therapie benötigten, und solche, bei denen eine moderat wirksame Therapie genüge. Hier seien weitere Untersuchungen nötig. Was die Sicherheit betrifft, so sieht Ontaneda durchaus Fortschritte beim Monitoring, etwa auf JCV unter Natalizumab. Dadurch würden die hocheffektiven Therapien in der Tat sicherer. Allerdings bestehe weiter das Risiko für ZNS-Infekte durch Herpesviren, Pilze und atypische Bakterien sowie von Sepsis und Lungenentzündungen durch eine beeinträchtigte Immunabwehr. Solche Ereignisse seinen zwar recht selten, hätten aber gravierende und letale Folgen. Ähnliches gelte für das Krebsrisiko. Dieses sei bekanntermaßen unter älteren immunsupprimierenden Medikamenten erhöht. Neuere, teilweise noch potentere Arzneien gingen möglicherweise mit einem noch höheren Krebsrisiko einher, was sich aber erst nach vielen Jahren zeigen dürfte und dann nur schwer mit der Therapie in Verbindung gebracht werden könne. Entscheiden sich Ärzte hingegen für eine Eskalationstherapie, sollten sie rechtzeitig auf ein stärker wirksames Medikament wechseln, mahnte Ontanega. Dies sei jedoch häufig nicht der Fall. So lasse sich in der Praxis oft eine „therapeutische Trägheit“ beobachten: Trotz wiederaufflammender Krankheitsaktivität werde die bestehende Behandlung einfach fortgesetzt – oft auch dann noch, wenn das inflammatorische Zeitfenster geschlossen sei und die Arzneien kaum noch wirkten. „Anfangs wird häufig unter-, später übertherapiert.“ Damit die Eskalationsstrategie funktioniere, sollten Ärzte rechtzeitig eskalieren und später eventuell auch wieder deeskalieren, erläuterte der Experte. Für den Neurologen spricht ein weiterer Punkt gegen den frühen Einsatz hochpotenter Medikamente: Bisher gebe es keine Evidenz, dass eine solche Strategie der klassischen Eskalationstherapie überlegen ist. Immerhin wird dies nun in Untersuchungen geprüft. Ontanega verwies auf die Studien TREAT-MS und DELIVER-MS mit jeweils 800–900 Patienten. Sie erhalten entweder gleich eine hocheffektive Behandlung mit Natalizumab, Alemtuzumab, Ocrelizumab oder Rituximab oder zunächst eine Eskalationsbehandlung mit moderat wirksamen Immunmodulatoren. Endpunkte seien hier der Hirnvolumenverlust sowie die Behinderungsprogression. basierend auf: 34th Congress oft the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), Berlin, 10-12.10.2018. Hot Topic: “Hitting hard and early" or stepwise escalation: What is the best strategy?

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