Multiple Sklerose: Was taugen die neuen McDonald-Kriterien in der Praxis?

Mit der Revision der MS-Diagnose-Kriterien lässt sich eine MS in Einzelfällen früher als bisher nachweisen. Das erhöht nach Ansicht von Experten das Risiko für Fehldiagnosen, ermöglicht Patienten mit aggressivem Verlauf aber einen rascheren Therapiebeginn. Auf dem Treffen der europäischen MS-Gesellschaft ECTRIMS vor einem Jahr wurden erstmals die überarbeiteten McDonald-Kriterien zur MS-Diagnose vorgestellt. In diesem Jahr diskutierten Experten darüber, ob sich die neuen Kriterien in der Praxis bewährt haben und die Diagnose erleichtern oder ob eher das Gegenteil der Fall ist. Zur Erinnerung: Nach den neuen Kriterien kann der Nachweis von oligoklonalen Banden (OCB) im Liquor das Kriterium der zeitlichen Dissemination ersetzen. Zudem werden nun symptomatische und asymptomatische Läsionen gleichgesetzt. Als dritte wesentliche Änderung können auch kortikale Läsionen eine räumliche Streuung anzeigen (wir berichteten). Risiko für zu frühen Therapiebeginn Für Professor Frauke Zipp von der Uniklinik in Mainz stellen die Änderungen nicht unbedingt eine Vereinfachung dar, vielmehr könnten sie zu Fehldiagnosen oder einem zu frühen Therapiebeginn verleiten. „Die MS-Diagnose zieht in der Regel eine Therapie nach sich“, sagte die Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie auf der Tagung. Zipp verwies auf die aktuelle Leitlinie der US-Neurologengesellschaft AAN, die auch die Option vorsehe, auf eine Therapie zu verzichten, wenn bislang unbehandelte MS- oder CIS-Patienten seit zwei Jahren schubfrei sind und keine MRT-Auffälligkeiten zeigen. Als Hilfsmittel bei der Beobachtung der Patienten könnte sich auch die Messung von Serum-Neurofilament eignen, da die Werte gut mit der MS-Aktivität korrelierten. Damit lasse sich eine CIS von einer MS auch nach den neuen Kriterien unterscheiden. Solche Biomarker sollten daher stärker berücksichtigt werden. Ein zu früher Therapiebeginn berge zudem das Risiko, dass die Patienten Nebenwirkungen wie Infekten, allergischen Reaktionen, Veränderungen der Leukozytenzahl oder einem erhöhten Tumorrisiko ausgesetzt seien. Empfehlung der Redaktion Highlights vom ECTRIMS-Kongress 2018 Das European Committee for Treatment and research in multiple sclerosis (ECTRIMS) traf sich zu seinem Kongress 2018 in Berlin. Themen waren u. a. frühe kognitive Probleme und Fatigue bei MS sowie die Effekte einer autologen Stammzelltransplantation als Erstbehandlung. Alle Berichte finden Sie gesammelt in unserem Kongressdossier. Besonders kritisch sieht Zipp die Substitution der zeitlichen Dissemination durch OCB. So lasse sich nun bei CIS-Patienten mit OCB eine MS diagnostizieren. Dies könne jedoch schiefgehen. Die Neurologin nannte als Beispiel einen 54-jährigen Mann aus ihrer Klinik mit Paraparese, periventrikulären und juxtakortikalen Läsionen sowie einer leichten, wenngleich fragwürdigen Kontrastmittelanreicherung im Rückenmark. Der Patient zeigte zudem OCB und erfüllte somit die wesentlichen Kriterien für eine MS-Diagnose. Auffallend war jedoch der hohe Proteingehalt im Liquor sowie eine hohe Konzentration von löslichem Interleukinrezeptor (sIL-2R) im Serum. Zusammen mit Lungenknötchen und vergrößerten mediastinalen und hilären Lymphknoten sprachen die Befunde klar für eine Sarkoidose. Das Autorenpanel stellte in der 2017er-Revision zwar fest, dass die Kriterien nicht entwickelt wurden, um eine MS von anderen Krankheiten zu unterscheiden, sondern um bei CIS-Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine MS festzustellen, wenn andere Krankheiten ausgeschlossen werden können. Entsprechend müssten Ärzte nach den neuen Kriterien noch gründlicher auf Warnzeichen für andere Krankheiten achten, etwa ein Alter unter 16 und über 50 Jahre, Erbkrankheiten in der Familie, rheumatologische Leiden, Krampfanfälle, eine bilaterale Optikusneuritis oder bilaterale Hirnstammläsionen. Bei Liquoranalysen sollten mehr als 50 Zellen pro Mikroliter oder über 100 mg/dl Protein verdächtig wirken, ebenso IgA sowie die Abwesenheit von IgG. All das zu prüfen, vereinfache die MS-Diagnostik nicht unbedingt. Vorteil bei aggressivem Verlauf Klare Vorteile der neuen Kriterien sieht hingegen Professor Jiwon Oh von der Universität in Toronto. „Die Spezifität der neuen Kriterien ist zwar etwas geringer, die Sensitivität jedoch viel höher“, sagte die Neurologin. Dies ermögliche in einigen Fällen eine frühere Diagnose und lasse die Patienten weniger lange im Ungewissen. Neurologen könnten sich oft zusätzliche MRT-Aufnahmen sparen, was Zeit und Ressourcen schone. Lediglich der Test auf OCB stelle einen zusätzlichen Aufwand dar. Letztlich seien die neuen Kriterien aber im klinischen Alltag einfach anzuwenden und hätten für Ärzte und Patienten viele Vorteile. „Sie lassen sich viel leichter in den klinischen Alltag implementieren als frühere Revisionen“, sagte die Expertin. Empfehlung der Redaktion Neurologische Notfälle – Themenseite Status epilepticus, Schlaganfall oder aber auch Migräne zählen zu den neurologischen Notfällen, mit denen Notärzte konfrontiert werden können. Empfehlungen für die Praxis aber auch aktuelle Nachrichten oder CME-Kurse finden Sie auf der Themenseite. Für wichtig hält sie auch, dass die neuen Kriterien die Prognosefähigkeit von OCB und kortikalen Läsionen würdigten. Letztere gehen mit einem hohen Risiko für Behinderung und damit einer schlechten Prognose einher. Nach ihrer Auffassung sollten die 2017er-Kriterien Ärzten aber vor allem bei einem MS-typischen CIS eine raschere MS-Diagnose ermöglichen. Ob Patienten ein solche CIS aufweisen, erfordere nach wie vor eine hohe klinische Expertise und den Ausschluss anderer Ursachen für die Beschwerden und Befunde. „Letztlich bleibt die klinische Beurteilung der Schlüssel zur Diagnose.“ Als Beispiel nannte Oh eine 27-jährige Frau aus ihrer Klinik mit partieller Myelitis, rechtsseitigen motorischen und sensorischen Defiziten sowie mehr als 30 juxtakortikalen, paraventrikulären und infratentoriellen Läsionen im ersten MRT. Trotz der Vielzahl der Läsionen, die auf einen aggressiven Verlauf deuteten, hätte nach den alten Kriterien keine MS diagnostiziert werden können. Die Frau hätte sich zu einem späteren Zeitpunkt einer erneuten MRT-Untersuchung unterziehen müssen, um eine zeitliche Dissemination nachzuweisen. „Darauf müssen manche Patienten schon mal ein halbes Jahr warten“, sagte Oh. Durch den OCB-Befund habe nun ohne weitere Verzögerungen eine MS-Diagnose gestellt werden können. Oh wies darauf hin, dass natürlich nicht jedem Patienten mit MS sofort eine Therapie aufzudrängen sei, durch die frühere MS-Diagnose hätten die Patienten aber mehr Behandlungsoptionen als bei einem CIS. So könnten Ärzte rascher intervenieren, wenn alle Zeichen auf einen aggressiven Verlauf deuteten. Die Verzögerung einer Therapie könne gerade bei solchen Patienten irreversible Folgen haben, dafür spreche eine Vielzahl von Studien. Die Expertin sieht auch wenig Sinn darin, zwischen CIS und MS zu unterscheiden, letztlich handele es sich hier um ein Krankheitskontinuum. Die Frage sei vielmehr, ob das CIS durch eine MS-Pathologie oder eine andere Ursache bedingt ist. Mit den neuen Kriterien lasse sich eine wahrscheinliche MS-Pathologie nach einem ersten Schub viel eher erkennen und damit zutreffend als MS bezeichnen – das könne für viele Patienten von Vorteil sein. basierend auf: 34th Congress oft the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), Berlin, 10-12.10.2018. Burning Debate: The new McDonald diagnostic criteria are controversial making them difficult to use in clinical practice.

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