„Hit hard and early“ bremst MS am stärksten

Einer weiteren Registeranalyse zufolge verlangsamt eine frühe intensive Therapie den MS-Verlauf stärker als eine Eskalationsstrategie. Endgültige Klarheit sollen nun zwei kontrollierte Interventionsstudien schaffen. Die Diskussion ist fast so alt wie die ersten Langzeitdaten zu hochwirksamen MS-Mitteln: Wäre es nicht besser, den MS-Verlauf mit einer möglichst intensiven Therapie so früh wie möglich zurückzudrängen, statt erst später, wenn das Nervensystem schon deutlich geschädigt ist, auf solche Therapien zurückzugreifen? Die Antwort ist bislang nicht eindeutig. Zwar gibt es ein „window of opportunity“, in dem eine intensive Therapie die besten Erfolge zeigt. Wird dieses verpasst, schneiden die Patienten langfristig schlechter ab als bei einen rechtzeitigen Beginn. Auf der anderen Seite kommt doch ein gewisser Teil der MS-Kranken mit einer Basistherapie lange klar und wird bei einer intensiven Behandlung vielleicht unnötigen Risiken ausgesetzt. Große Registeranalysen haben in den vergangenen Jahren immerhin recht konsistent einen Nutzen einer frühen und intensiven Therapie angedeutet: So hatten Patienten, die früh mit hochwirksamen MS-Arzneien behandelt wurden, langfristig weniger Schübe, sie akkumulierten weniger Behinderungen und gelangten wesentlich später in eine progrediente MS als MS-Kranke mit einer Eskalationsstrategie. Bestätigt werden diese Beobachtungen nun durch eine Analyse des italienischen MS-Registers. Auf dem virtuellen ACTRIMS/ECTRIMS-Kongress präsentierte Dr. Pietro Iaffaldano von der Universität in Bari einen Vergleich von Patienten, die als Ersttherapie Basistherapeutika wie Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat oder Teriflunomid erhielten und später auf hochwirksame Arzneien wie Natalizumab, Alemtuzumab, Fingolimod oder Ocrelizumab wechselten, mit solchen, welche die hochwirksamen Mittel als Ersttherapie bekamen. EDSS-Differenz von 0,7 Punkten Berücksichtigt wurden Patienten mit schubförmiger MS und einer Nachbeobachtungsdauer im Register von mindestens fünf Jahren. Um einen Indikationsbias zu vermeiden – Patienten mit hochaktiver MS erhalten eher eine intensive Therapie –, wurde jedem MS-Kranken mit Hit-hard-and-early-Strategie einer mit Eskalationsstrategie gegenübergestellt, der dasselbe Geschlecht sowie ein ähnliches Alter und eine ähnliche Krankheitsaktivität zu Beginn aufwies (propensity score matching). Die Experten fanden unter den 53.000 Patienten des Registers 365 passende Paare. Die Betroffenen erhielten ihre erste MS-Therapie im Schnitt 13 Monate nach der Diagnose und waren dann im Mittel 31 Jahre alt. Durchschnittlich 8,5 Jahre wurden die MS-Kranken nachuntersucht, in der Regel alle sechs Monate. In der Eskalationsgruppe wechselten die Patienten nach rund fünf Jahren auf eine hochwirksame Therapie, zumeist auf Natalizumab (43%) und Fingolimod (39%). In der Gruppe mit hochwirksamer Ersttherapie verordneten die Ärzte vor allem Natalizumab (zu 41%), gefolgt von Mitoxantron (39%) und Fingolimod (18%). Empfehlung der Redaktion Aktuelle News & Übersichten Themenseite Multiple Sklerose Auf der Themenseite Multiple Sklerose halten wir Sie über die häufigste chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung bei jungen Erwachsenen auf dem Laufenden. Das Ergebnis bezogen auf den EDSS-Wert war eindeutig – dieser verschlechterte sich in der Eskalationsgruppe ausgehend von im Schnitt 2,5 Punkten deutlich schneller als in der Hit-hard-and-early-Gruppe. Bereits nach einem Jahr erreichte der Unterschied signifikante 0,1 Punkte, nach zehn Jahren waren es knapp 0,7 Punkte (3,8 versus 3,1 Punkte). Die Trajektorien deuten auf einen sich stetig vergrößernden Unterschied. Dieser sei entweder durch den früheren Beginn mit der intensiven Therapie oder die längere Dauer der hochwirksamen Behandlung zu erklären, so Iaffaldano. Zwei große Praxisstudien laufen bereits Allerdings können solche Registeranalysen ein Grundproblem nicht lösen: Mit welcher Strategie fahren Patienten ohne besonders aktive MS zu Beginn am besten? Schließlich wurden ja jene MS-Kranken nicht berücksichtigt, die mit ihrer Basistherapie klarkamen und keine Eskalation benötigten. Zudem besteht trotz Propensity Score Matching ein gewisses Verzerrungsrisiko: Vielleicht würden viele Patienten in der Eskalationsgruppe heute von Beginn an eine intensive Therapie bekommen, weil sie eine aktive MS haben – vor einigen Jahren und mit weniger zugelassenen Arzneien war man da vermutlich eher noch vorsichtiger. Hinzu kommt insgesamt eine Verlangsamung des MS-Verlaufs in den vergangenen Dekaden, was möglicherweise auf einem früheren Therapiebeginn durch veränderte MS-Diagnosekriterien beruht. Auch zögern viele Ärzte mit der Eskalation, was sich ebenfalls ungünstig auf den MS-Verlauf auswirken könnte. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, Therapiestrategien in kontrollierten Praxisstudien zu prüfen, erläuterte Dr. Ellen Mowry von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA. Derzeit laufen zwei größere randomisierte MS-Studien zum Vergleich einer Hit-hard-and-early- und einer Eskalationsstrategie. An der offenen Studie DELIVER-MS* nehmen 800 MS-Kranke aus 23 Zentren in den USA und Großbritannien teil, Beginn war Januar 2019, voraussichtlich zu Ende ist die Studie im September 2023. Primärer Endpunkt ist der Hirnvolumenverlust nach 36 Monaten. Bereits 2018 begonnen wurde TREAT-MS*, an der auch Mowry beteiligt ist. Die Studie soll ebenfalls bis 2023 dauern und 900 MS-Kranke aus rund 45 US-Zentren aufnehmen. Primärer Endpunkt ist hier die Zeit bis zu einer anhaltenden Behinderungsprogression. Das Besonderes dieser Studie: Sowohl Patienten mit Zeichen für ein hohes als auch niedriges Progressionsrisiko werden jeweils 1:1 auf eine hochwirksame und traditionelle Therapie verteilt. Damit lässt sich auch klären, ob Patienten mit geringem Progressionsrisiko von einer Hit-hard-and-early-Strategie profitieren. Die Schwelle für einen Switch liegt dabei sehr niedrig: Kommt es innerhalb von sechs Monaten zu mehr als einer neuen MRT-Läsion, ist eine Diskussion über einen Therapiewechsel oder eine Eskalation vorgesehen. *Abkürzungen: DELIVER-MS: Determining the Effectiveness of earLy Intensive Versus Escalation Approaches for the Treatment of Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis TREAT-MS: Traditional Versus Early Aggressive Therapy for Multiple Sclerosis Trial Quelle: MS virtual 2020. 8th Joint ACTRIMS-ECTRIMS Meeting, September 11-13. Plenary Session 1: Strategies for disease modification.

Springer Medizin

„Hit hard and early“ bremst MS am stärksten

Weiterführende Themen

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Idiopathisches Polyhydramnion: Hinweis auf Anomalien beim Kind?

Hirnverletzungen: Pupillometrie hilft beim Einschätzen der Prognose

Mutationsspezifische Impfung bremst aggressive Gliome

AHA-Statement zum Risiko von Hirnschäden durch aggressive LDL-Senkung