MS-Therapie schon bei radiologisch isoliertem Syndrom?

Eine Therapie bei ersten MS-typischen Läsionen im MRT könnte eine multiple Sklerose verhindern. Dafür spricht zwar viel, bewiesen ist das aber nicht. Manche Neurologen plädieren dennoch für eine Behandlung, andere sind derzeit noch strikt dagegen. Nun ist es amtlich: Auf dem Weltkongress zu Multipler Sklerose in Paris wurden neue Leitlinien vorgestellt, nach denen Neurologen in Europa auch schon eine Behandlung bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) beginnen sollten. Manchen Experten ist das aber nicht früh genug: Sie behandeln bereits off-label und außerhalb von Leitlinienempfehlungen Patienten mit zufällig entdeckten MS-typischen Läsionen (Streuung in Raum und Zeit), auch wenn die Betroffenen bislang keine MS-Symptome haben. In Umfragen hatte rund jeder sechste Neurologe in den USA und Europa angegeben, solchen Patienten mit „radiologisch isoliertem Syndrom (RIS)“ krankheitsmodifizierende MS-Mittel zu verordnen, hieß es auf der Tagung. Im Prinzip sei das eine gute Idee, sofern man einigermaßen sicher davon ausgehen könne, dass die zufällig im MRT entdeckten Läsionen tatsächlich Folge eines demyelinisierenden Ereignisses seien, erläuterte Professor Darin Okuda von der Universität Dallas. Er präsentiert als Beispiel eine MRT-Aufnahme, die bei einem Patienten aufgrund eines Motorradunfalls aufgenommen worden war. Darin erkannten die Ärzte mehrere Läsionen in der weißen Substanz, die von ihrer Lage, Größe und Morphologie auf eine MS-Pathologie deuteten. „Was sollen wir mit einem solchen Patienten machen? Warten, bis er einen Schub erleidet? Dann könnten wir die Chance verpassen, eine MS zu verhindern. Zudem riskieren wir Läsionen in kritischen Regionen, wovon er sich vielleicht nicht mehr vollständig erholt“, sagte der Experte. „Die MS ist ein heimlicher Dieb“ Okuda erinnerte daran, dass auch bei Hypertonie und Hypercholesterinämie eine Therapie nicht erst dann empfohlen wird, wenn es zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall gekommen ist, sondern eben davor, um ein solches Ereignis zu verhindern. Entsprechend biete auch das RIS die Chance, eine MS zu verhindern, was jedoch – und dem stimmte Okuda zu – in Studien noch gezeigt werden müsse. Der MS-Experte gab sich jedoch jetzt schon überzeugt, dass eine MS-Therapie bei RIS sinnvoll sein kann. „Die MS ist ein heimlicher Dieb. Sie stiehlt Myelin, Nervenfasern und Nervenzellen – lange bevor es die Patienten merken.“ Liegt eine MS-Pathologie vor, heiße es, so früh wie möglich zu behandeln. Okuda verwies auf große Therapiestudien, nach denen Patienten mit CIS oder MS langfristig schlechter abschnitten, wenn sie zunächst Placebo bekommen hatten: Den Vorteil einer frühen Behandlung konnten sie anschließend nicht mehr aufholen. „Zeit zählt, wenn es um den Funktionserhalt geht.“ RIS-Patienten mit höchstem Konversionsrisiko identifizieren Nun mag auch Okuda nicht gleich jedem RIS-Patienten ein MS-Mittel geben, schließlich würden viele von ihnen vielleicht keine MS entwickeln; es gehe also vor allem darum, jene mit dem höchsten Konversionsrisiko zu identifizieren. Der Neurologe nannte eine eigene Untersuchung zu einer RIS-Kohorte, an der zu Beginn 450 Patienten aus mehreren Ländern teilgenommen hatten. Nach fünf Jahren hatte ein Drittel einen Schub oder eine Funktionseinschränkung erlitten, nach zehn Jahren bereits die Hälfte. Die Konversionsrate war vor allem bei jüngeren und männlichen Patienten hoch sowie dann, wenn das zervikale oder thorakale Rückenmark Veränderungen aufwies. Letzteres wurde fast immer bei Patienten beobachtet, die eine primär-progrediente MS entwickelten. Kommen alle drei Risikofaktoren zusammen, erleiden fast all diese Patienten innerhalb von zwei bis drei Jahren MS-typische Symptome. Ein Kernproblem bleibt natürlich der eindeutige Nachweis eines demyelinisierenden Vorgangs bei RIS-Patienten. Okuda setzt hier auf Neuentwicklungen in der Bildgebung, wie die dreidimensionale Darstellung von Läsionen. MS-typische Läsionen seien in der Regel sehr asymmetrisch, eher multilobulär und länglich mit komplexen Oberflächen und Protrusionen. Unspezifische Veränderungen der weißen Substanz fielen dagegen durch runde und ovale Formen mit recht homogener Oberfläche auf. Auch ein verringertes Thalamusvolumen könnte bei solchen Patienten Zeichen einer MS-typischen Neurodegeneration sein. Zusammen mit MS-typischen Veränderungen im Hirnmetabolismus lasse sich mit diesen Methoden eine MS-Pathologie wohl bald schon zuverlässig nachweisen, erläuterte der Neurologe. Empfehlung der Redaktion 2018 | OriginalPaper | Buchkapitel Multiple Sklerose und andere autoimmune ZNS-Erkrankungen Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) stellen eines der sich am schnellsten entwickelnden Gebiete in der Neurologie dar. Die Entdeckung neuer Autoantikörper hat zur Beschreibung neuer Krankheitsentitäten und zu einer … Ein RIS deutet nicht zweifelsfrei auf eine MS-Pathologie Dem wollte auch Dr. Christine Lebrun-Frénay von der Uniklinik in Nizza nicht widersprechen. Für sie zählt jedoch die Gegenwart. Und in der sei ein RIS nun mal kein Anlass für eine Therapie mit MS-Mitteln, unter anderem weil ein RIS nicht zweifelsfrei auf eine MS-Pathologie deute. „Entwickelt wurden die MS-Diagnose-Kriterien für Patienten mit klinischen Symptomen, die auf ein demyelinisierendes Ereignis deuten. Das MRT muss dann zur MS-Diagnose passen“, sagte Lebrun-Frénay. Man könne jedoch nicht das Pferd von hinten aufzäumen und von einem RIS auf eine MS schließen. Zudem sei ein RIS sehr selten und damit die Gefahr einer Fehldiagnose hoch. Die MS-Expertin verwies auf eine Untersuchung, nach der lediglich ein Drittel von 220 Patienten mit Verdacht auf RIS (MS-typische T2-Hyperintensitäten) die radiologischen 2010er-McDonald-Kriterien erfüllten. Bei den meisten von ihnen ließ sich jedoch nach gründlicher neurologischer Untersuchung ein CIS oder eine MS nachweisen, insgesamt nur 8% aller Patienten hatten tatsächlich ein RIS. Erfüllen Patienten die Kriterien für eine räumliche und zeitliche Streuung der Läsionen, sollten Ärzte mal gründlich nach Symptomen schauen, oft ergebe sich dann eine klare Diagnose, so die Botschaft. Die Expertin verwies dazu auch auf eine Untersuchung bei 178 CIS-Patienten. 30% hatten bereits vor dem aktuellen Ereignis über MS-Symptome geklagt. In einer anderen Studie ließ sich zudem zeigen, dass MS-Kranke schon fünf Jahre vor der Diagnose vermehrt ärztlichen Rat suchten. „Wir sollten den Patienten besser zuhören“, so Lebrun-Frénay, dann lasse sich die MS auch anhand klinischer Symptome früher diagnostizieren. „Es gibt eine Überdiagnose von MS-Läsionen und eine Unterdiagnose von MS-Symptomen“ Auf der anderen Seite sei es für Ärzte offenbar allzu verlockend, sich auf das MRT zu verlassen. In einer Untersuchung von 110 aufgedeckten MS-Fehldiagnosen spielte das MRT eine wesentliche Rolle: So wurden die Läsionsorte fälschlicherweise MS-typischen Regionen zugeordnet, oder Ärzte erkannten wegen einer falschen Orientierung der Schnittebenen bei zwei verschiedenen Untersuchungen neue Läsionen, wo keine waren, und diagnostizierten damit eine zeitliche Streuung. „Es gibt eine Überdiagnose von MS-Läsionen und eine Unterdiagnose von MS-Symptomen“, sagte Lebrun-Frénay. Die Neurologin gab sich jedoch offen für eine Therapie bei RIS, sofern klar sein, dass sich damit eine MS verhindern lasse. Dies werde derzeit in den beiden Studien ARISE mit Dimethylfumarat und TERIS mit Teriflunomid geprüft. Ferner müsse genauer untersucht werden, welche Patienten das höchste Konversionsrisiko tragen. Möglicherweise lasse sich dann eine Therapie bei solchen Hochrisikopatienten rechtfertigen. Um das Konversionsrisiko und die entscheidenden Risikofaktoren zu ermitteln, müssten jedoch RIS-Kohorten über 10–15 Jahre hinweg untersucht werden. Bislang gebe es allenfalls brauchbare Daten für einen Fünfjahreszeitraum, und da seien die Konversionsraten in Studien deutlich geringer als bei CIS-Patienten. „Es gibt also noch viel zu tun, bevor wir bei RIS eine Therapie empfehlen können“, so Lebrun-Frénay. Dem stimmten auch die meisten Teilnehmer im Vortragssaal zu: Nur eine Minderheit favorisierte bei einer Abstimmung im Anschluss an die Diskussion jetzt schon eine MS-Therapie bei einem RIS. Abkürzungen: ARISE: Assessment of dimethyl fumarate in extending the time to a first attack in radiologically Isolated Syndrome CIS: Clinically Isolated Syndrome, klinisch isoliertes Syndrom MS: Multiple Sklerose RIS: Radiologically Isolated Syndrome, radiologisch isoliertes Syndrom TERIS: Teriflunomide in radiologically isolated syndrome basierend auf: 7th Joint ECTRIMS-ACTRIMS Meeting, Paris, 25-28.10. 2017. Hot Topic Session 3: RIS: should it be treated?

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