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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 1/2021

Open Access 01.02.2021 | Editorial

Editorial

verfasst von: Prof. Dr. med. Peer Briken

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 1/2021

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Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ICD-11 soll am 01.01.2022 in Kraft treten, also in einem Jahr. Über den konkreten Zeitpunkt einer Einführung der ICD-11 in Deutschland sind noch keine Aussagen möglich. Das vorliegende Schwerpunktheft unternimmt aus diesem Anlass einen ersten Versuch der FPPK, sich mit den Auswirkungen dieser grundlegenden 11. Revision, an der seit 2007 mit internationaler Entwicklungsarbeit von 96 Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation gearbeitet wurde, für die forensische Psychiatrie und Psychotherapie auseinanderzusetzen. Anlässe für die Revision waren u. a., die ICD von einem Buchprodukt in eine elektronische Infrastruktur überführen zu wollen, die Nutzerfreundlichkeit zu erhöhen oder für manche Kategorien bisher fehlende Definitionen und Beschreibungen zu ergänzen. Inhaltlich wurde z. B. ein neues Kapitel zu Zuständen, die die sexuelle Gesundheit betreffen, eingeführt, in das die sexuellen Dysfunktionen und die Gender-Inkongruenz (früher Transsexualismus) aufgenommen wurden, nicht aber die paraphilen Störungen oder die zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung. Diese beiden, für die forensische Psychiatrie relevanten Störungsbilder bleiben im Bereich der psychischen Störungen. Gemeinsam mit der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) beabsichtigte die WHO auch, die Gesamtstruktur mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) DSM‑5 zu harmonisieren. Dennoch muss man sich immer den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden diagnostischen Ansätzen verdeutlichen. Die ICD enthält Kategorien für Krankheiten, gesundheitsbezogene Zustände und äußere Ursachen von Krankheit oder Tod. Anliegen der ICD sind die systematische Erfassung, Analyse, Interpretation und der Vergleich von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten national und international. Die ICD ist dafür ausgelegt, für alle Mitgliedsstaaten, d. h. in soziokulturell sehr unterschiedlichen Umgebungsbedingungen, angewendet zu werden. Das DSM ist primär für amerikanische Psychiater konzipiert. Die ICD enthält alle möglichen Krankheits- und Störungskategorien; das DSM gilt nur für psychische Störungen.
Die Überarbeitung erfolgte in mehreren Phasen, u. a., um eine konsistente Gesamtstruktur zu erzielen, aber auch um Feldversuche durchzuführen. Es wurden Stellungnahmen der WHO-Mitgliedsstaaten und Überprüfungen diverser Fachgesellschaften (z. B. auch der DGPPN) in den Prozess einbezogen. Als jemand, der die Möglichkeit hatte, an der Überarbeitung der ICD im Bereich der sexuellen Störungen und der Planung und Durchführung von Feldstudien mitzuarbeiten, kann der Verfasser dieses Editorials retrospektiv feststellen, dass es sich um ein logistisch sehr herausforderndes und mit den begrenzten zur Verfügung stehenden Ressourcen sehr ambitioniertes Unterfangen handelte, das aber durch die internationale Zusammenarbeit gleichzeitig sehr bereichernd war.
Saß und Cording beginnen das Heft mit einer Übersicht zu psychiatrischen Diagnosesystemen, Konzepten psychischer Störungen, dem zivilrechtlichen Krankheitsbegriff und dem Problem der neurokognitiven Störungen in der ICD-11. Sie beschreiben kritisch den Übergang vom grundlegenden Krankheitskonzept zu einem unverbindlichen Störungsbegriff („disorder“) und die damit verbundenen Verunsicherungen der Beurteilungsnormen. Sie schließen mit einer konzisen Feststellung: „Was sich mit der verbindlichen Einführung von ICD-11 ändern wird, sind allein die medizinischen Diagnosekategorien und die dafür geltenden Kriterien. Das betrifft die psychiatrische Routinediagnostik und die Gesundheitsberichterstattung. Die forensisch-psychiatrische Begutachtung der straf- und zivilrechtlichen Fragestellungen ist davon nicht im Kern betroffen, weil sich weder die (lediglich mit neuer medizinischer Terminologie bezeichneten) Sachverhalte ändern, noch deren Beurteilung in rechtlicher Hinsicht. Allerdings wird in der Übergangsphase die „Übersetzungsleistung“ von den neuen klinischen in die gewohnten rechtlichen Kategorien erst neu erlernt werden müssen.“ Einerseits ist das zutreffend. Andererseits verursachen die nicht unerheblichen Änderungen der Kriterien am Ende wahrscheinlich doch auch weitgehendere Auswirkungen für das Feld der Forensischen Psychiatrie. Hier zeigen sich die soziokulturelle und die zeitliche Abhängigkeit der Konstrukte psychischer Störungen, aber auch die Fundamente, auf die das psychiatrische Fach setzen kann.
Lau sieht im Hinblick auf die Aufgabe der Subtypen der Schizophrenie in der ICD-11 das Risiko, dass die besonderen Verläufe bei Betroffenen mit schizophrenen Psychosen in ihrem Variantenreichtum zukünftig nicht mehr bekannt sein könnten. Die forensische Psychiatrie sei daher gefordert, das Wissen um Verlaufsformen aktiv zu fördern, um eine sachgerechte forensisch-psychiatrische Beurteilung zu gewährleisten.
Eine Reihe von Störungen wurde neu in die ICD-11 aufgenommen, u. a. im Bereich der Impulskontrollstörungen. Bründl und Fuß beschreiben, dass die Leitlinien für die Pyromanie und Kleptomanie nahezu unverändert bleiben, während die Diagnose pathologisches Glücksspiel nun bei den Verhaltenssüchten aufgenommen wurde. Forensisch relevant sind außerdem die Aufnahme der Diagnose intermittierende explosible Störung sowie die neue, kontrovers diskutierte Diagnose zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung (in der ICD-10 gesteigertes sexuelles Verlangen).
Die 10 Persönlichkeitsstörungen der ICD-10 sind für die ICD-11 weggefallen. Hingegen wird nun anhand der ICD-11-Leitlinien zunächst festgestellt, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, dann wird der Schweregrad anhand vorgegebener Kriterien festgelegt. Die weitere Einteilung erfolgt anhand von maladaptiven Persönlichkeitsmerkmalen mit der Möglichkeit, den Zusatz Borderline-Muster hinzuzufügen. Hauser, Herpertz und Habermeyer weisen auf die Herausforderungen für die Unterscheidung zwischen klinischer Diagnose und juristischem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit hin.
Zu den paraphilen Störungen (früher ICD-10-Störungen der sexuellen Präferenz) gehören die exhibitionistische Störung, die voyeuristische Störung, die pädophile Störung, der sexuelle Sadismus unter Ausübung von Zwang, die frotteuristische Störung und die sonstigen paraphilen Störungen. Der Fokus dieser Störungen liegt in der ICD-11 nahezu ausschließlich auf den sexuellen Erregungsmustern mit nichteinwilligenden oder nicht-einwilligungsfähigen Personen und weniger auf (vermeintlich) sozial abweichenden, devianten Erregungsmustern oder sexuellen Verhaltensweisen. Die früheren Diagnosen Sadomasochismus, Fetischismus und fetischistischer Transvestitismus wurden entfernt. Der Beitrag von Mokros und Nitschke stellt die aktuelle Nosologie der sexuell sadistischen Störung unter Ausübung von Zwang vor. Der Beitrag erweitert die Darstellung um Befunde zur Sexual Sadism Scale als diagnostisches Hilfsmittel für den forensischen Kontext.
Dreßing und Foerster stellen die unterschiedlichen diagnostischen Vorgaben der ICD-10, der ICD-11 und des DSM‑5 für die posttraumatische Belastungsstörung und die nur in der ICD-11 enthaltene Diagnose der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung dar, und die Aufgaben, die sich für die psychiatrische Begutachtung ergeben.
Im Rahmen der freien Beiträge verschaffen Turner und Briken eine Übersicht zum in den letzten Jahren intensiver untersuchten Thema der Sexualität bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen und der forensisch-psychiatrischen Untersuchung und Bewertung im Rahmen von Sexualdelinquenz. Voß et al. schildern in ihrem Werkstattbericht die testosteronsenkende Behandlung bei 8 Menschen mit Intelligenzminderung, die eine Sexualstraftat begangen haben, mit den spezifischen Herausforderungen, u. a. dem Monitoring unerwünschter Wirkungen. Treuthardt und Kröger untersuchen den Schweizer Risikoorientierten Sanktionenvollzug und konzipieren eine Veränderungsmessung.
Es folgen der psychiatrische und der kriminologische Journalclub.
Beschließen möchte ich dieses Editorial mit einem herzlichen Glückwunsch an Hans-Ludwig Kröber, einem der Gründerväter dieser Zeitschrift. Hans-Ludwig Kröber hatte im Januar diesen Jahres seinen 70. Geburtstag. Er hat über Jahrzehnte wie wenige sonst die forensische Psychiatrie in Deutschland mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, seinen Fortbildungen, aber auch mit seiner gutachterlichen Praxis geprägt. Mit seiner scharfsinnigen, scharfzüngigen und scharfe Kontroversen nicht scheuenden Art fordert er immer wieder bereichernd unsere Ambiguitätstoleranz heraus. Aus seinen Blitzlichtern – in diesem Heft „Die Befähigung zur Schuld“ – blitzt immer noch ein Schalk in unsere Nacken. Dafür Danke, lieber Hans, gerne noch mehr davon in Zukunft und alles Gute!

Interessenkonflikt

P. Briken gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Editorial
verfasst von
Prof. Dr. med. Peer Briken
Publikationsdatum
01.02.2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 1/2021
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-021-00651-2

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