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Kapitelnavigation umschalten Diagnose Demenz: Ein Mutmachbuch für Angehörige Diagnose Demenz: Ein Mutmachbuch für Angehörige

1. Einleitung

  • 2022
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Zusammenfassung

Um das Krankheitsbild Demenz innerhalb einer Familie verstehen zu können reicht es nicht, Symptome und Störungen, die durch den Abbau der Nervenzellen verursacht werden, zu kennen. Mit der Persönlichkeitsveränderung des Erkrankten müssen neue Gesprächswege, flexible Verhaltensweisen und eigene Wertvorstellungen reflektiert werden. Jeder Mensch, der an einer Demenz erkrankt ist, kommt aus einer Familie, die einer eigenen Dynamik folgt und die durch das Krankheitserleben neugestaltet wird. Daraus ergibt sich, dass Sie als Angehörige über Ihre eigene Rolle nachdenken müssen, gleichzeitig vom Verhalten des Erkrankten stark verunsichert sind und eine neue Familienordnung brauchen.
Um das Krankheitsbild Demenz innerhalb einer Familie verstehen zu können reicht es nicht, Symptome und Störungen, die durch den Abbau der Nervenzellen verursacht werden, zu kennen. Mit der Persönlichkeitsveränderung des Erkrankten müssen neue Gesprächswege, flexible Verhaltensweisen und eigene Wertvorstellungen reflektiert werden.
Jeder Mensch, der an einer Demenz erkrankt ist, kommt aus einer Familie, die einer eigenen Dynamik folgt und die durch das Krankheitserleben neugestaltet wird. Daraus ergibt sich, dass Sie als Angehörige über Ihre eigene Rolle nachdenken müssen, gleichzeitig vom Verhalten des Erkrankten stark verunsichert sind und eine neue Familienordnung brauchen.
Innerhalb der Seminareinheiten lernen die Angehörigen anhand von vielen praktischen Beispielen, ihre eigene Situation zu erkennen und können Schritte entwickeln, die große Herausforderung Demenz zu meistern.
Bei uns ist es viel ruhiger geworden. Ich rege mich nicht mehr so auf! sagten Angehörige nach erfolgreicher Teilnahme des Seminars.
Die eigene Wahrnehmung
Aus meiner Erfahrung heraus glaube ich, dass uns das Zusammenleben mit Menschen mit Demenz ein wenig menschlicher macht, wenn wir es denn zulassen. Demente zeigen uns, dass nicht nur der Verstand in unserem Leben zählt, sondern auch die vielen Momente, die aus einer wertschätzenden Begegnung kommen. Oftmals scheitern diese Glücksmomente aber an der folgenden Annahme:
  • Menschen mit Demenz verstehen nichts mehr und entscheiden nicht vernunftmäßig.
Gedankenblitz
Was verstehen Demenzerkrankte nicht? Unsere Hektik, das scheinbar Wichtige, unsere Einstellungen zu Normalität oder Vernunft?
Die eigene Wahrnehmung, was wichtig im Leben ist, oder auch der individuelle Lebensentwurf, sind doch von Natur aus so ausgelegt, dass es keinen Unterschied macht, ob ich an einer Demenz erkrankt bin oder nicht. Es gibt auch „Gesunde“, die sich entgegen jeder Vernunft dazu entscheiden, ihre Gesundheit zu gefährden. Sie gehen nicht zum Arzt, rauchen oder führen waghalsige Klettertouren durch. Auch hier kann man nicht überzeugend reden und auf Einsicht hoffen. „Jeder Jeck ist anders“, sagt man im Rheinland. Darum ist es wichtig, unsere Vorstellungen nicht unreflektiert auf den Erkrankten zu übertragen. „Leben und leben lassen!“ Eine Grundvoraussetzung für ein gutes Miteinander.
Das Gefühl der Wertlosigkeit, des nicht-geschätzt-Werdens
Menschen mit Demenz werden oftmals nicht mehr gefragt, was sie möchten. Einige Angehörigen glauben, für den Erkrankten entscheiden zu müssen, weil die Krankheit ja mit sich bringt, dass er sich nicht mehr entscheiden kann. Ab wann man nichts mehr entscheiden kann, ist aber individuell verschieden und oftmals nicht erkennbar.
In Altenheimen kann man beobachten, dass Menschen mit Demenz sehr wohl entscheiden können, was ihnen gefällt, mit wem sie zusammen sein möchten und was sie verabscheuen. Dies alles wird verbal oder nonverbal deutlich, wenn wir die Menschen fragen und einbeziehen.
Jemanden nicht zu fragen, ihn nicht zu beteiligen, bedeutet, ihn von der Gegenwart auszuschließen und ihm das Gefühl der Wertlosigkeit zu geben. Es ist auch nicht möglich, Menschen mit Demenz vor der Realität (Krankheit des Betreuenden, Sorgen um die Zukunft) schützen zu wollen. Durch feinste mitmenschliche Antennen erspürt der Erkrankte, dass etwas von ihm ferngehalten wird, er wird unruhig, da er die Situation nicht einschätzen kann.
Kommunikation
Anfangs entsteht häufig der Eindruck, man könne sich mit einem an Demenz erkrankten Menschen nicht mehr unterhalten. Doch stimmt das tatsächlich? Gibt es nicht viele Formen der Kommunikation (Abb. 1.1)?
Abb. 1.1
Liebevolle Wertschätzung
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Gedankenblitz
Würde eine Mutter sagen, sie kann sich nicht mit ihrem Säugling unterhalten? Wohl kaum!
Eine Unterhaltung verläuft eben anders, wenn die Sprache zerfällt. Die Pflegenden und Betreuenden müssen sich umstellen.
Zu Beginn der Demenz gibt es noch viele verbale Möglichkeiten, die sich aber mit Fortschreiten der Krankheit verringern. Nonverbale Kommunikationsformen müssen dann greifen, Intuition ist gefragt, und das Einstellen auf den zu Betreuenden rückt in den Mittelpunkt. Auch hier werden plötzlich viele Glücksmomente sichtbar, weil es um ein tiefes Verstehen geht.
Beispiel
Eine demenzkranke Frau, die nur noch schwer sprechen konnte, war sterbenskrank. Aus der Biografie wusste ich, dass sie eine starke Verbundenheit mit dem Lied „In einer kleinen Konditorei“ hatte. Sie lag mit geschlossenen Augen sterbenskrank im Bett und reagierte nicht mehr. Der leise von mir gesungene Text führte dazu, dass sie die Augen ein letztes Mal öffnete und dann starb.
Diese besonderen Momente, in denen es eine starke Verbundenheit zwischen zwei Menschen gibt, erleben Betreuende bei Menschen mit Demenz immer wieder. Es ist mit nichts anderem vergleichbar, es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Deshalb: Lassen Sie sich als Angehöriger nicht verunsichern, denn Demenz ist eine Krankheit, die Sie zwar fordert, die aber auch bewegende und schöne Momente hat.
Ängste
In unserer heutigen Zeit scheint mangelnde Selbstkontrolle Angst zu machen. Wir wollen unser Leben vollständig im Griff haben. Dabei schließen wir häufig die Augen davor, dass doch viele Dinge uns kontrollieren (Süchte, Handys Termine, moralische Bedenken etc.).
Lassen Sie sich darauf ein, das Leben nicht vollständig unter Kontrolle zu haben; führen Sie sich vor Augen, dass auch Sie durch viele äußere Einflüsse kontrolliert werden. Diese Einsicht hilft Ihnen dabei, loszulassen und entstehende Ängste wie z. B. das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden.
Oftmals werden Ängste auch wach, wenn wir die Hilflosigkeit und Fehleinschätzungen in unserem direkten Umfeld erleben. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Beispiel dazu anfügen.
Beispiel
Ein Ehepaar zog ins Altenheim ein. Die Frau war somatisch (körperlich) erkrankt, der Mann hatte eine beginnende Demenz vom Alzheimer Typ. Auf Wunsch der Frau lebte sie fortan in einem Wohnbereich, wo viele Menschen in ihren Alltagsfähigkeiten eingeschränkt waren. Der Mann wurde in einem speziellen Demenzbereich untergebracht.
Kurze Zeit nach dem Einzug des Mannes in die Wohngruppe verliebte er sich in eine Frau, die ebenfalls an einer Demenz erkrankt war. Sie führten nun ein glückliches, intensives Liebesleben ungeachtet der Meinung von Ehefrau, Kindern oder Mitbewohnern. Sie gingen Hand in Hand durch das Haus und waren glücklich wie man es von Teenagern kennt.
Solche Beispiele gibt es immer wieder. Es zeigt, dass Menschen mit Demenz nicht mehr darüber nachdenken können, wen sie damit verletzen oder traurig machen. Sie handeln intuitiv und nur auf sich selbst schauend.
Für Sie als Angehöriger ist es nicht einfach, eine solche Veränderung in der Beziehung zu akzeptieren und sich auf die neue Struktur einzulassen. Der Erkrankte zieht jedoch aus der neuen Beziehung einen Lebensgewinn. Erst wenn Sie loslassen und dem Erkrankten dieses neue Glück „gönnen“, werden Sie als wohlmeinender Helfer Einfluss nehmen können. Versuchen Sie hingegen, die neue Situation zu boykottieren, wird Ihr Angehöriger Sie aus seinem Leben ausschließen.
Gedankenblitz
Immer wieder passiert es im Leben, dass Partnerschaften auseinandergehen. Ein Mensch mit Demenz hat seine Gefühlswelt nicht verloren. Da die verstandesmäßigen Fähigkeiten abnehmen und moralische Bedenken nicht mehr greifen, werden die emotionalen Anlagen stärker betont.
Dies gilt natürlich nicht für jeden Krankheitsverlauf, doch ein Leben nur auf unsere Verstandesleistung aufzubauen erscheint mir zu wenig.
Dieses Buch gibt Ihnen auch einen kleinen Einblick in das, was Leben auch noch sein kann und was wir vielleicht schon vergessen haben.
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Titel
Einleitung
Verfasst von
Monika Pigorsch
Copyright-Jahr
2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-65291-6_1