In den letzten Jahren wurden bedeutende Fortschritte in den chirurgischen Techniken, der postoperativen Rehabilitation und der Identifizierung von Risikofaktoren für eine zweite Verletzung des vorderen Kreuzbands (VKB) gemacht. Dies führte jedoch nicht zu einer Verringerung des sekundären VKB-Verletzungsrisikos. Die Wiederherstellung der anatomischen (operative Rekonstruktion) und anschließend insbesondere der trainingsbedingten funktionellen Stabilität sollte eine grundlegende Voraussetzung für die Rückkehr zu Pivot-Sportarten nach einer VKB-Verletzung sein. Das VKB hat eine bedeutende Rolle bei der Kniepropriozeption mit der Konsequenz einer eingeschränkten sensomotorischen Regulation im Verletzungsfall. Das Perturbationstraining stellt eine große Herausforderung in der spätrehabilitativen Phase nach VKB-Rekonstruktion dar. Die Diagnostik der Muskelaktivierung im Rehabilitationsverlauf nach VKB-Rekonstruktion hat deshalb eine enorme Bedeutung. Mit der entwickelten Software können Charakteristika der motorischen Einheiten knieführender Muskeln zeitnah objektiviert und somit eine mögliche Überlastung bei hochreaktivem Perturbationstraining im Rahmen der spätrehabilitativen Phase nach VKB-Rekonstruktion vermieden werden.
Jährlich werden in Deutschland über 40.000 Operationen nach einer Verletzung am vorderen Kreuzband (VKB) durchgeführt [12]. Die Rekonstruktion des VKB ist der aktuell klinische Standard, um dem Gelenk mechanische Stabilität und eine rechtzeitige Rückkehr zum Sport („return to sport“, RTS) zu ermöglichen [22]. Es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel bei RTS-Entscheidungen durch den Einsatz immer komplexerer Testbatterien ab [5, 32]. Viele der gegenwärtigen RTS-Analyseverfahren werden in kontrollierten klinischen Umgebungen durchgeführt und können möglicherweise nicht die tatsächliche Leistungsfähigkeit oder das Verletzungsrisiko eines Athleten während der sportartspezifischen Anforderungen abschätzen [31]. Nach einer Verletzung erleiden bis zu einem Viertel der Sportler, die zum Sport zurückkehren, eine zweite VKB-Verletzung. Dabei treten 30 % der VKB-Rerupturen innerhalb der ersten 20 sportspezifischen Belastungen nach dem RTS auf [28]. Diese alarmierenden Statistiken unterstreichen die Notwendigkeit einer Optimierung der RTS-Entscheidungsfindung.
Die Gelenkkapseln, die Gelenkbänder, die myotendinösen Übergangsbereiche und die Fasziennetze sind wichtige Standorte von Mechanosensoren als Bestandteile des sensomotorischen Systems (SMS). Die Afferenzen aus dem VKB bestimmen über die volle Aktivierungsfähigkeit des M. quadriceps femoris [18]. Fallen diese Informationsquellen infolge Verletzung, Gelenkdegeneration oder auch des Alterungsprozesses ständig aus, ist auch die Funktion des SMS dauerhaft verändert. So sind die nahezu umgehende Atrophie und das ausgeprägte Funktionsdefizit des M. quadriceps femoris infolge der VKB-Ruptur einer akuten funktionellen Teilparese geschuldet [18‐20].
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Die Oberflächen-Elektromyographie ermöglicht die Analyse der Muskelaktivierungsfähigkeit
Der diagnostische Zugang ist die Analyse der Muskelaktivierungsfähigkeit mittels Oberflächen-Elektromyographie (EMG). Mit Hilfe der Zerlegung oder Dekomposition der an der Hautoberfläche erfassten Signale sind wir in der Lage, Aussagen über die Zusammensetzung des EMG-Mischsignals zu treffen [14, 27] und somit Rekrutierungsdefizite bei Sportlern nach einer VKB-Verletzung zu objektivieren. Ziel dieser Pilotstudie war es, ein Messprotokoll zu etablieren, welches unterstützt durch eine spezielle Software zeitnah Informationen zum aktuellen neuromuskulären Status (vor und nach einer spezifischen Belastung) bereitstellt. Damit soll die Entscheidungsfindung in der Spätphase der Rehabilitation verbessert werden.
Material und Methoden
Untersuchungsgruppe
In dieser Pilotuntersuchung konnten 9 männliche Berufssportler (Tegner-Aktivitätslevel: 6–9) aus den Teamsportarten Fußball (7), Handball (1) und Volleyball (1) eingeschlossen werden. Vier Athleten wurden (3–19 Monate) nach einem operativen Eingriff (2-mal oberes Sprunggelenk, 2‑mal VKB) untersucht. Die operierten Sportler verletzten sich jeweils auf der dominanten (Schussbein) und nichtdominanten Seite. Die demografischen Daten beider Subgruppen sind in der Tab. 1 zusammengefasst.
Tab. 1
Demografische Daten der untersuchten Athleten. Angegeben sind Mittelwerte (Standardabweichungen) sowie Minimum und Maximum
Subgruppe
Alter (Jahre)
Größe (cm)
Gewicht (kg)
BMI (kg/m2)
Unterschenkellänge (cm)
Unverletzte (n = 5)
22 (2)
20–24
188 (12)
175–206
80 (12)
67–98
22,6 (1,4)
20,7–24,2
47,9 (4,5)
44,0–55,0
Operierte (n = 4)
25 (2)
23–26
184 (4)
179–188
78 (3)
74–81
23,1 (0,4)
22,8–23,6
46,5 (1,0)
46,0–48,0
Testablauf und Belastungsprotokolle
Das isometrische Testprogramm, entwickelt für Leistungssportler, besteht aus maximalen und submaximalen Kontraktionen. Dabei werden 3 maximal isometrische Kontraktionen („maximum voluntary contraction“, MVC) über jeweils 3 s mit einer Pause von 30 s absolviert. Vor und nach einer Belastung durchlief der Proband eine feedbackgeführte Messung. Dabei musste eine Intensität von 40 % MVC über 20 s aufrechterhalten werden. Dieselbe Messung wurde nach einer Pause von 60 s bei 80 % MVC absolviert. Aktuell sind 2 Belastungsprotokolle etabliert und erprobt: ein isometrisches Ermüdungsprotokoll für die Knieextensoren und ein dynamisches Belastungsprotokoll mit Richtungswechseln auf dem SpeedCourt (GlobalSpeed GmbH, Hemsbach; s. Video). Das spezifische Training mit diesem Gerät umfasst 5–6 Übungen, die jeweils 15–30 s lang durchgeführt werden (Belastung-Pause-Regime: 1:4). Der Einsatz dieser Interventionen in der Rehabilitation stellt eine sehr große Herausforderung dar, da die prozessualen Anforderungen immens hoch sind. Das ungenügende Wissen um den individuellen Erholungszustand ist problematisch, da auch Unverletzte koordinativ akzentuierte Trainingsinhalte nicht im ermüdeten Zustand durchführen sollten. Während das dynamische Belastungsprotokoll für die Diagnostik und Trainingssteuerung in der Spätphase der Rehabilitation genutzt wird, kann das isometrische Ermüdungsprotokoll deutlich früher angewendet werden. Beim Ermüdungsprotokoll muss der Athlet 5‑mal ein Niveau von 60 % der MVC 60 s lang halten (Belastung-Pause-Regime: 1:1). Bei unverletzten oder wieder vollständig genesenen Sportlern orientiert sich die Bewertung an den Ergebnissen der dominanten Seite (Schussbeinseite), während bei Verletzten, Operierten oder Athleten im Rehabilitationsprozess die Bewertung anhand der nichtbetroffenen Seite vorgenommen wird.
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Test-Setup und Ableitung der Kennmuskeln
Der M. quadriceps femoris ist ein myofasziales Kettenglied in der Belastungsstruktur sehr vieler Sportarten bzw. Disziplinen von Sportarten. Er wird als Repräsentant des sensomotorischen Systems (SMS) in einer standardisierten Körperposition (spezieller Stuhl, Oberkörper aufrecht fixiert, Hüft- und Kniegelenk in 90° Beugung, Fixierung des Kraftsensors oberhalb der Malleoli 90° zur Unterschenkelachse; Abb. 1) untersucht. Die EMG-Signale werden nach standardisierter Vorbereitung der Hautoberfläche und Platzierung der Elektroden [9] vom M. vastus medialis und lateralis mittels eines speziellen 5‑Pin-Sensors (AD: 20.000 s−1, Fa. Delsys, Inc., Natic, MA, USA) abgeleitet.
×
Extrahierte dEMG-Parameter
Mit Hilfe der Software (PD III Algorithmus, EMGworks) wird das Summen-EMG-Signal zunächst in Charakteristika einzelner motorischer Einheiten zerlegt (Dekomposition; Abb. 1). Hierbei werden die aktivierten motorischen Einheiten mit ihren Eigenschaften Rekrutierungsschwelle („recruitment threshold“, RT), Entladungsrate („firing rate“, FR), Amplitude des Muskelaktionspotenzials („motor unit action potential“, MUAP) und ermüdungsrelevante Veränderungen ermittelt. Der MVC-Wert sowie die berechnete prozentuale Abweichung von der Vorgabekurve („compliance error“, CE) für die submaximalen Kontraktionen stellen die kraftabhängigen Parameter dar. Alle erfassten Parameter der Kraft- und Aktivierungscharakteristika der untersuchten Muskeln sind in Tab. 2 genannt und beschrieben. Die extrahierte dEMG-Parameter wurden verwendet, um Vorher-Nachher-Vergleiche anzustellen. Dabei wurden die Ergebnisse unmittelbar nach den Belastungen mit den Resultaten des erholten Zustands verglichen. Basierend auf diesen Vergleichen werden Aussagen zur muskulären Leistungsbereitschaft sowie Empfehlungen für die voraussichtliche Belastbarkeit weiterer hochintensiver Belastungen abgeleitet.
Tab. 2
Kategorisierte Übersicht der einzelnen Parameter der Kraftkontrolle und der Muskelaktivität und deren Interpretation
Kategorie
Parameter
Bedeutung
Kraft
MVC („maximum voluntary contraction“)
Willkürliche isometrische Maximalkraft des M. quadriceps femoris
Kraftkontrolle
CE („compliance error“)
Relative Abweichung von der Intensitätsvorgabe der Kraftkurve
Aktivierung
Anzahl der motorischen Einheiten
Anzahl der durch den Algorithmus im Erfassungsfeld identifizierten motorischen Einheiten
Minimale Rekrutierungsschwelle
Intensität, der ersten identifizierten motorischen Einheit (motorische Einheit mit der niedrigsten Rekrutierungsschwelle)
Maximale Rekrutierungsschwelle
Intensität, der letzten identifizierten motorischen Einheit (motorische Einheit mit der höchsten Rekrutierungsschwelle)
Rekrutierungsbereich
Differenz zwischen maximaler und minimaler Rekrutierungsschwelle; Spannweite der neuromuskulären Aktivierung
FR („firing rate“)
Durchschnittswert der mittleren Feuerrate (Entladungsrate) der identifizierten motorischen Einheiten
MUAP-Amplitude
Maximale Amplitude des Aktionspotenzials der identifizierten motorischen Einheit; Intensität der Aktivierung
Aktivierungskontrolle
Bestimmtheitsmaß (R2)
Varianzaufklärung der linearen Regression zwischen der mittleren Entladungsrate und der jeweiligen Rekrutierungsschwelle aller identifizierter motorischer Einheiten; Maß der Abstimmung des neuromuskulären Systems während der Krafterzeugung
Resultate
Maximalkraft
Die unverletzten Athleten erzielten mit den Knieextensoren ihrer dominanten Seite im Durchschnitt 337 Nm (209–442 Nm). Für die Patienten hingegen konnten keine Einschränkungen der willkürlichen Maximalkraft auf der operierten Seite belegt werden (272–403 Nm). Die normierten maximalen Drehmomente und die Symmetriewerte („limb symmetry index“, LSI) sind Tab. 3 zu entnehmen.
Tab. 3
Körpergewichtsbezogene maximale Drehmomente (Nm/kg) und Symmetriewerte (LSI, %) der Knieextensoren der untersuchten Athleten. Angegeben sind Mittelwerte (Standardabweichungen) sowie Minimum und Maximum
Subgruppe
Dominante Seite
Nichtdominante Seite
LSI
Verletzte Seite
Nichtverletzte Seite
Unverletzte (n = 5)
4,18 (0,66)
3,11–4,79
3,95 (0,65)
2,86–4,42
95 (7)
86–104
–
–
Operierte (n = 4)
–
–
93 (6)
89–102
4,62 (0,89)
3,36–5,45
4,95 (0,93)
3,75–5,90
Im Wesentlichen konnte allen Athleten eine Seitensymmetrie bescheinigt werden. Drei Sportler (1-mal unverletzt, 2‑mal operiert) wiesen einen LSI-Wert < 90 % auf. Vier der unverletzten Athleten sowie ein am VKB operierter Sportler erreichten mit ihrer dominanten Seite eine höhere Maximalkraft.
Beurteilung der Rekrutierungsfähigkeit am Beispiel des M. vastus medialis
Um die Beurteilung der Rekrutierungsfähigkeit der Muskeln darzustellen, wurden exemplarisch ein Sportler nach VKB-Rekonstruktion sowie ein unverletzter Athlet ausgewählt (beide Fußballer). Beide Sportler wurden vor und nach dem isometrischen Ermüdungsprotokoll untersucht. Die Zusammenhänge zwischen der Rekrutierungsschwelle und den mittleren Entladungsraten der identifizierten motorischen Einheiten des M. vastus medialis sind in Abb. 2 dargestellt.
×
Trainingsempfehlungen
Es stellte sich heraus, dass eine sehr hohe interindividuelle Variabilität der Veränderungen der Parameter auf das standardisierte Training zu verzeichnen ist. Entsprechend sind keine statistischen Gruppenwerte der Parameter als „Norm- oder Orientierungswerte“ ermittelt worden. Es erfolgte ein tagesspezifischer Vergleich für jeden Probanden. Für die Bewertung „noch bestehende Ermüdung“ wurde für jeden Parameter eine Änderung zum Ausgangswert von 10 % als Schwellenwert festgelegt. Werte über 10 % Abweichung deuten auf eine noch vorhandene Ermüdung hin. Für die Empfehlung „hochintensives Training kann mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gewünschten Trainingseffekt und ohne höheres Verletzungsrisiko erneut ausgeführt werden“ müssen die meisten Parameter auf 10-%-Niveau liegen (Tab. 4 zeigt die detaillierten Ergebnisse der in Abb. 2 dargestellten Vergleiche). Die Anzahl der identifizierten motorischen Einheiten sowie deren maximale Amplitude des Aktionspotenzials waren nach der Ermüdung beim Patienten deutlich reduziert. Aktuell scheint somit eine zusätzliche intensive Belastung nicht sinnvoll.
Tab. 4
Parameter der Kraftkontrolle und des zerlegten EMG-Signals des Fußballers 9 Monate nach Rekonstruktion des vorderen Kreuzbands (VKB) und eines unverletzten Fußballers (Abb. 2) vor und nach der isometrischen Ermüdung
Parameter
Einheit
VKB rekonstruiert
VKB intakt
Prä
Post
Prä
Post
MVC
N
877
867
474
456
CE
%
1,0
1,0
2,0
1,3
Anzahl der motorischer Einheiten
–
31
18
18
26
Min. Rekrutierungsschwelle
%MVC
7
12
2
3
Max. Rekrutierungsschwelle
%MVC
35
38
26
36
Rekrutierungsbereich
%MVC
28
26
24
33
Entladungsrate („firing rate“)
pps
15,7
18,8
18,7
18,2
MUAP-Amplitude
mV
0,23
0,17
0,15
0,13
Bestimmtheitsmaß (R2)
–
0,981
0,913
0,797
0,810
MVC „maximum voluntary contraction“, CE „compliance error“, MUAP „motor unit action potential“
Diskussion
In dieser Pilotstudie wurde ein Messprotokoll etabliert und an männlichen Berufssportlern erprobt. Der Einsatz der entwickelten Software reduziert die Auswertungszeit erheblich und verbessert damit die Anwendbarkeit im Reha-Setting. Die dargestellten Ergebnisse verdeutlichen den Nutzen dieser Technologie bei der Bewertung der muskulären Leistungsbereitschaft insbesondere nach Verletzungen.
Die Rückkehr zur ursprünglichen Leistungsfähigkeit gelingt nur 65–83 % der Sportler
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Die Rückkehr zur ursprünglichen sportlichen Leistungsfähigkeit bzw. deren Stabilität gelingt in der Regel nur 65–83 % der Sportler [1, 16, 25]. Die meisten Personen entwickelten innerhalb von 10–15 Jahren eine sekundäre Gonarthrose, sodass die Rekonstruktion per se keine Intervention zur Verhinderung einer degenerativen Gelenkschädigung scheint [21]. Derzeit gibt es keinen Goldstandard für die Rehabilitation nach VKB-Rekonstruktion [2]. Des Weiteren zeigt sich zwischen den Expertengruppen eine sehr hohe Variabilität und geringe Standardisierung in der Bewertung des RTS [23]. Die Funktion des M. quadriceps femoris war bei Premier-League-Fußballern (n = 15) nach einer VKB-Rekonstruktion zum Zeitpunkt des RTS nachweislich eingeschränkt [10]. Die Maximalkraft und Inhibition des M. quadriceps femoris sowie einbeinige Weitsprungtests zeigten im Seitenvergleich defizitäre Ergebnisse. Dabei erreichte die Mehrzahl der Premier-League-Fußballer bei den einbeinigen Sprungtests mindestens 90 % der Weiten der unverletzten Seite [10]. Dies verdeutlicht die eingeschränkte Aussagefähigkeit der Einbeinsprungtests als RTS-Kriterium [13]. Das Ausmaß der Defizite der Maximalkraftwerte und zentralen Aktivierung hingegen war deutlich größer (Cohen’s d > 2). Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Premier-League-Fußballer konnten an den in der eigenen Klinik operierten Athleten zum RTS-Zeitpunkt keine relevanten Seitenunterschiede hinsichtlich der Maximalkraft festgestellt werden (LSI > 89 %). Ein Grund dafür kann in der Berechnungsgrundlage des LSI (verletzt/unverletzt × 100) liegen [15]. Drei Viertel der Nichtkontaktverletzungen bei männlichen Fußballern sind auf der Schussbeinseite zu erwarten [3]. Wenn auf der verletzten Seite höhere Werte erzielt werden, dann ist der LSI > 100. Eine Asymmetrie kann dabei allerdings nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Alle in dieser Pilotstudie untersuchten operierten Athleten (n = 4) wiesen unabhängig von der Körperseite maximale isometrische Drehmomente der Knieextensoren auf, die über der vorgeschlagenen Untergrenze von 3 Nm/kg [29] lagen.
Die Maximalkraft allein ist ein ungenügender Parameter für die Einschätzung eines erfolgreichen Rehabilitationsergebnisses. Sie liefert nur teilweise Aussagen zur Geschwindigkeit der Kraftentfaltung (Schnellkraft). Die Schnellkraft entsteht durch die zusätzliche Rekrutierung der schnellen motorischen Einheiten mit möglichst minimaler Verzögerung nach der Rekrutierungsordnung [6‐8]. Sie ist somit primär eine koordinativ und nur sekundär eine maximalkraftgestützte Funktion und insbesondere für die primäre, aber auch sekundäre Verletzungsprophylaxe entscheidend. Ergebnisse zur Muskelaktivierung können helfen, die aktuelle neuromuskuläre Bereitschaft zu beurteilen. Zu beachten ist, dass höhere EMG-Amplituden des Oberflächen-EMG-Signals das Ergebnis einer Synchronisation der aktivierbaren motorischen Einheiten anzeigen, die als pathophysiologische Adaptation zu werten ist und nicht die Rückkehr zur physiologischen Funktion anzeigt. Da die funktionelle Teilparese nach einer VKB-Ruptur den schnellen Anteil des Motoneuronenpools betrifft [17], ist schnelligkeits- und schnellkraftorientiertes Training ein gut begründetes Element. Obwohl absolut indiziert, kann ein solches Training bei zu schnellem Belastungsaufbau zu Problemen aufgrund der mangelnden sensomotorischen Koordination, der muskulären Funktion, eingeschränkt durch die Atrophie der funktionell teilparetischen Faseranteile, und der Belastbarkeit der Bindegewebestrukturen führen. An den Mm. vasti konnten Nuccio und Mitarbeiter [26] zeigen, dass die Entladungsraten der motorischen Einheiten auf der Seite der VKB-Rekonstruktion im Vergleich zur nichtverletzten Seite geringer sind und somit ein reduzierter neuraler Antrieb auf der operierten Seite vorliegt. Das isometrische Belastungsprotokoll führte bei unserem VKB-Patienten im Vergleich zum unverletzten Athleten zu einer deutlichen Reduktion der maximalen Amplitude des Aktionspotenzials bei gleichzeitiger Erhöhung der Entladungsrate der identifizierten motorischen Einheiten. Dies ist als eine pathophysiologische Anpassung, aber auch als Ermüdungszeichen und somit als Merkmal einer inadäquaten Leistungsbereitschaft des SMS zu werten. Für Nachbehandlungsprogramme mit Schnelligkeitsinhalten gibt es bisher keine evidenzbasierten Empfehlungen [4, 11]. McLean und Samorezov [24] belegen, dass die Biomechanik von Landungen durch einen zentralen Ermüdungsmechanismus gesteuert ist. Pincheira et al. [30] zufolge ist eine unerwartete Landung im ermüdeten Zustand ein Worst-case-Szenario für berührungslose bzw. Nichtkontaktverletzungen des VKB.
Limitationen
Die in dieser Arbeit untersuchte Stichprobe ist sehr gering. Die Ergebnisse stellen Beobachtungen an männlichen Leistungssportlern dar und sind daher zunächst Hinweise und z. Z. nur bedingt übertragbar. Eine wesentliche Limitation des Messsystems ist die kleine Erfassungsfläche des verwendeten Sensors. Entsprechend sind Rückschlüsse auf die Aktivierung des gesamten Muskels nicht zulässig. Durch die Konfiguration des verwendeten Erfassungssystems ist es weiterhin nicht möglich, die Leitungsgeschwindigkeit der Aktionspotenziale auf den Muskelfasern zu bestimmen. Somit können keine Aussagen bezüglich möglicher Veränderungen in den Membranen der Muskelfasern gemacht werden, welche dann auch die Vermittlung der Kontraktion, die elektromechanische Ankopplung, betreffen würden.
Fazit für die Praxis
Eine präzise Analyse der Zusammensetzung des EMG-Mischsignals kann helfen, Rekrutierungsdefizite bei Sportlern nach einer Verletzung des vorderen Kreuzbands (VKB) zu objektivieren.
Die im erholten Zustand erhobenen elektromyographischen Daten ermöglichen über die einzelnen Charakteristika der motorischen Einheiten eine individuelle Beurteilung der Funktionskapazität des M. quadriceps femoris.
Ob ein Sportler vor einer erneuten Belastung neuromuskulär ermüdet ist und aufgrund zu hoher Verletzungsanfälligkeit diese nicht durchführen sollte, kann dadurch besser abgeschätzt werden.
Verletzungsrisiken in der spätrehabilitativen Phase könnten somit minimiert und der sportliche Wettkampf optimal vorbereitet werden.
Durch die Verwendung der etablierten Software kann die Auswertungszeit um 90 % reduziert werden.
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Danksagung
Die Entwicklung der Software wurde mit Unterstützung aus Mitteln der Europäischen Union (EFRE) und der Investitionsbank Sachsen-Anhalt im Rahmen eines Digital Creativity Projektes sowie der IT-Firma Dögel realisiert.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
T. Bartels, R. Schwesig, K. Brehme, M. Pyschik, S. Pröger, W. Laube und E. Kurz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Methoden, Protokolle und Untersuchungen, die in diesem Beitrag vorgestellt werden, wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission durchgeführt und entsprechen den Richtlinien der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung).
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