Traditionell verstehen sich die behandelnden Ärzt*innen in Fragen von Gesundheit und Krankheit als Vertreter und Fürsprecher für das Kind. Sie nehmen eine sogenannte Garantenstellung für das Kind ein. Grundsätzlich und gesetzlich verbrieft, obliegen jedoch alle Entscheidungen, die das Kind betreffen, den Eltern. Die meisten Ärzt*innen und Pflegenden in der Neonatologie befürworten auch die Einbindung der Eltern in Entscheidungen zur Therapiebegrenzung, interessanterweise meinen jedoch nur die wenigsten, dass die Eltern auch die Verantwortung für eine solche Entscheidung übernehmen sollten (McHaffie et al.
2001). Einschlägige Behandlungsempfehlungen führen explizit die Wichtigkeit einer von Behandlungsteam und Eltern gemeinsam getragenen Entscheidung, die Unsicherheit von Prognosen und auch die notwendigen ethischen Abwägungen im Entscheidungsprozess aus (Bührer et al.
2020). Vermutlich mit dem Ziel, die Behandlungsempfehlung praktikabel zu machen, wird der medizinische Graubereich, der prognostische Bereich, in dem die elterlichen Präferenz vollumfänglich bindend ist, für Deutschland anhand unsicherer prognostischen Marker (Gestationsalter, Schätzgewicht) relativ eng und mit arbiträren Grenzen festgelegt (Bührer et al.
2020). Dieser Ansatz wird von anderen Autoren kritisiert und international unterschiedlich gehandhabt (Cummings und Committee on Fetus and Newborn
2015; Lantos
2019). Festzuhalten bleibt, dass Ärztinnen und Ärzte sehr unterschiedliche und sich ändernde Ansichten darüber haben, welche kindliche Prognose ausreichend ist, um lebenserhaltende Maßnahmen nach einer frühen Frühgeburt zu rechtfertigen (Wilkinson et al.
2018; Di Stefano et al.
2021). Manchmal wird angeführt, Eltern befänden sich in einer Art Ausnahmesituation, die schwerwiegende und weitreichende Entscheidungen zu sehr erschwere, oder, dass Eltern die Bürde der Verantwortung dieser schweren Entscheidungen nicht tragen können oder wollen. Das ist richtig, bedeutet jedoch nicht, dass sie weniger am Entscheidungsprozess teilhaben sollten, sondern, dass sie mehr Unterstützung benötigen. Von enormer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Eltern und ehemalige sehr unreife und kranke Frühgeborene ihre Situation häufig anders – und zwar signifikant besser – einschätzen als die behandelnden Ärzt*innen (Saigal et al.
1999,
2000). Die Entscheidungen zur Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen werden von Ärzt*innen in diesem Gebiet häufig als „medizinische“, faktische Entscheidungen verstanden, als Entscheidungen, die objektiv erscheinen. Die Rolle des Behandlungsteams im Prozess der Entscheidungsfindung ist noch unterbestimmt. In einer Umfrage unter US-amerikanischen Neonatolog*innen zeigte sich, dass eine Mehrheit (77 %) der Meinung ist, dass Entscheidungen zur Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen gemeinsam mit den Eltern getroffen werden sollten. Nur weniger als die Hälfte (40 %) gab an, dass dies auch so in der Praxis stattfindet. Die Mehrheit der beratenden Ärzt*innen verstand ihre primäre Rolle in der Vermittlung von Sachinformationen an die Eltern, nur ein Viertel der Ärzt*innen sahen ihre Hauptaufgabe darin, Eltern zu unterstützen, Nutzen und Gefahren unterschiedlicher Handlungsoptionen abzuwägen (Bastek et al.
2005). Zudem scheinen Eltern und Ärzt*innen prognostische Informationen unterschiedlich zu wichten. Während die Diskussion der Eltern thematisch breit angelegt ist und Überleben und Hoffnung eine große Rolle spielen, fokussieren Ärzt*innen häufig auf probabilistische Prognosen und das neurologische Outcome (Lemmon et al.
2019). Ebenso konnte festgestellt werden, dass unmittelbare medizinische Themen (Zustand der Mutter, Behandlung nach der Geburt) häufiger in der Beratung thematisiert wurden als ethische Fragen. So wurden Umgang und Erfahrung mit Tod und Sterben, die elterliche Auffassung, was ein „gutes Leben“ ausmachte, oder allgemeine Fragen bezüglich Religion und Glauben vergleichsweise selten besprochen (Bastek et al.
2005). Eltern fühlen sich bezüglich medizinischer Informationen mithin gut beraten. Eltern möchten an den Entscheidungen teilhaben – eine aktivere Rolle spielen –, sie möchten jedoch diese Entscheidungen nicht gänzlich unabhängig treffen (Partridge et al.
2005). Auch wenn die empirische Datenbasis gering ist, so gibt es doch einige Hinweise, dass die elterliche Präferenz, lebenserhaltende Maßnahmen nicht zu initiieren oder zu beenden, nur wenig von der exakten zahlenmäßig zu erfassenden Prognose zu Mortalität und Morbidität abhängig gemacht wird. Vielmehr leiten Religion, Glaube und Hoffnung diese Entscheidungen (Boss et al.
2008; Kukora und Boss
2018). Eltern wollen zudem ungern selbst entscheiden, lebenserhaltende Maßnahmen nicht durchzuführen. Die meisten Eltern nehmen an, dass die Prognose für ihr Kind besser ist, als die ärztlich dargestellte Prognose vermuten lässt. Sehr schlechte Prognosen werden, im Gegensatz zu sehr guten Prognosen, oft unrealistisch optimistisch rezipiert (
optimism bias), wobei die Ursachen dafür und die Bedeutung für den Entscheidungsprozess noch relativ unklar sind (Nayak et al.
2021). Ganz generell scheint die Art, wie die Prognose ärztlicherseits dargestellt wird, die Eltern stark zu beeinflussen. Etwa ein Drittel aller Eltern hatte aufgrund der ärztlich dargestellten Prognose dauerhaft Angst um das Leben ihres Kindes, auch nach Entlassung (Partridge et al.
2005). Es erscheint notwendig, medizinische Fakten in verständliche Outcomes zu „übersetzen“, d. h. in Outcomes die Eltern verstehen und in ihre Lebenswelt einordnen können.