Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 06.12.2022
Synonyme
Ochronose; Homogentisinsäureoxidase-Mangel; engl. „homogentisic aciduria“
Oberbegriffe
Stoffwechselkrankheiten, Enzymopathie, »inborn errors of metabolism«.
Organe/Organsysteme
Bradytrophes Gewebe, Gelenke.
Inzidenz
Häufigkeit 1:250.000, Androtropie. In einzelnen Bereichen der Slowakei beträgt die Genfrequenz aufgrund von genetischen Isolierungen der Bevölkerung bis zu 1:10.000 (Founder-Effekt). Autosomal-rezessiver Erbgang, wobei verschiedene voneinander unabhängige genetische Ursprünge der Krankheit vermutet werden.
Ätiologie
Die Alkaptonurie (von griech. haptein, erfassen, und ouron, Harn) ist eine Anomalie des Aminosäurestoffwechsels. Die Krankheit ist gengebunden (Chromosom 3q2). In Folge einer verminderten oder fehlenden Aktivität der Vitamin-C-abhängigen Homogenitinsäure-1,2-Dioxigenase (HGD) kann beim Abbau von Phenylalanin und Thyrosin zu Maleylacetoacetat der Benzolring der Homogenitinsäure nicht gesprengt werden. Dadurch unterbleibt die irreversible oxidative Spaltung. Homogenitinsäure wird im Urin ausgeschieden. Die braune bis schwarze Verfärbung des Urins durch Autooxidation bei längerem Stehen (Urina nigra) kann durch Alkalisierung beschleunigt werden.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Melaninurie bei metastatischen Melanomen der Leber sowie bei der akuten intermittierenden Porphyrie (Ausschluss durch Nachweis von Homogenitinsäure), Morbus Addison, Porphyrie, Pseudogicht.

Symptome

Dunkelbraunfärbung des Urins an der Luft aufgrund großer Mengen Homogentisinsäure. Die vermehrte Bildung von melaninhaltigen Polymeren durch Oxidation aus Homogenitinsäure führt zu Ablagerungen im bradytrophen Gewebe, besonders im Knorpel von Ohr und Nase (Ochronose). Am Auge schwärzen sich Lidknorpel, Sklera und oberflächliche Hornhautrandgebiete. Am Fundus findet man pigmentosaähnliche Flecken. Des Weiteren treten ähnlich einer ankylosierenden Spondylitis Schwellungen, Kalkablagerungen und Versteifungen der Wirbelsäule und von Sehnen und Bändern auf. Dies führt zu Bewegungseinschränkungen der großen Gelenke. Diese werden meist erst ab einem Alter von 30 Jahren symptomatisch, manchmal jedoch auch erst jenseits des 60. Lebensjahres. Es besteht eine Arthritis mit gichtartigen Schmerzanfällen (Pseudogicht), eine Neigung zur Nierensteinbildung, ein vermehrtes Vorkommen von Herzfunktionsstörungen (Cardiopathia ochronotica) und eine verstärkte Arteriosklerose. Fibrosierung der Rippenknorpel kann zu restriktiver Lungenfunktionsbeeinträchtigung führen. Im Bereich der Atemwege können Probleme mit der Beweglichkeit der Stimmbänder und somit Heiserkeit auftreten. Die geistige Entwicklung ist nicht beeinträchtigt. Bei eingeschränkter Nierenfunktion kann die Homogenitinsäure nicht mehr adäquat ausgeschieden werden, sodass es zu einer Progredienz der Erkrankung kommt.
In seltenen Fällen sind akute fatale metabolische Entgleisungen beschrieben, welche oxidative Hämolysen und Methämoglobinämien beinhalteten, deren exakte Ursache bisher ungeklärt ist. Ein erhöhter Homogenitisinsäure-Spiegel im Blut führt zu vermehrtem oxidativem Stress und zur Bildung von freien Radikalen, ist aber sehr wahrscheinlich nicht allein auslösend. Allen Fällen gemeinsam war eine akute Niereninsuffizienz. Gezielte therapeutische Maßnahmen existieren aktuell nicht.
Vergesellschaftet mit
Myokardinfarkte und Aneurysmabildung durch arteriosklerotische Veränderungen an den Gefäßen, Pigmentablagerungen an den Herzklappen mit Beeinträchtigung der Funktion, Reizleitungsstörungen.
Therapie
Bisher ist für die Alkaptonurie keine kausale Therapie bekannt, so dass auftretende Beschwerden rein symptomatisch behandelt werden müssen. Diätetische Maßnahmen im Sinne einer proteinarmen Ernährung sind nicht immer erfolgreich. Therapieversuche mit Nitisinon zielen auf eine Modifizierung des gestörten Phenylalanin-/Tyrosin-Stoffwechsels, derzeit ist aber noch kein positiver Langzeiterfolg berichtet, und die Sicherheit dieser Substanz muss noch untersucht werden.

Anästhesierelevanz

Die im Alter zunehmende Versteifung von Gelenken, die eingeschränkte Halsbeweglichkeit und die reduzierte Mundöffnung können zu Intubationsschwierigkeiten führen. Die Durchführung einer Spinal- oder Epiduralanästhesie kann bei bestehender lumbosakraler Arthritis und Ankylose erschwert sein. Das Risiko von postspinalem Kopfschmerz nach Durapunktion ist erhöht.
Spezielle präoperative Abklärung
Sorgfältige Untersuchung der oberen Atemwege, Überprüfung der Mundöffnung, Ausschluss einer Kardiomyopathie oder Vorliegen von Klappenfehlern. Überprüfung der Nierenfunktion.
Vorgehen
Bei Hinweisen auf eine erschwerte Intubation (z. B. bei eingeschränkter Beweglichkeit der Halswirbelsäule oder des Kiefergelenks) sollte eine elektive fiberbronchoskopische Intubation des prämedizierten (ggf. analgosedierten) Patienten im Wachzustand durchgeführt werden. Antibiotikaprophylaxe bei Vorliegen von Klappenvitien entsprechend den aktuellen Endokarditisprophylaxe-Regeln durchführen.
Pulsoximetrie und Nahinfrarotspektroskopie können im Fall von Pigmenteinlagerungen nur bedingt valide Resultate anzeigen. Die Indikation zur arteriellen Blutdruckmessung ist großzügig zu stellen.
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