Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 08.03.2023
Synonyme
Laurell-Eriksson-Sy; α1-Proteinase-Inhibitor-Mangel/Alpha-1-Proteinaseinhibitormangel; engl. „alpha-1-antitrypsin deficiency“; AAT-Mangel; α1PI-Mangel
Oberbegriffe
Enzymopathie.
Organe/Organsysteme
Lunge, Atemwege, Leber, Nieren, Gastrointestinaltrakt.
Inzidenz
1:2000 bis 1:5000 (homozygote Merkmalsträger, sog. PiZZ, s. u.), wahrscheinlich unterschätzt, da die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnosestellung immer noch viel zu lang ist und über 7 Jahre beträgt. Es sind vorwiegend Nordeuropäer betroffen.
Ätiologie
Kongenital und hereditär mit autosomal-dominantem Erbgang (teils auch als rezessiv angegeben) mit variabler phänotypischer Ausprägung. Es wurden 24 Allele am Chromosom 14 lokalisiert. Das Glykoprotein α1-Antitrypsin ist ein spezifischer Proteaseninhibitor der Neutrophilenelastase. Es liegen 4 α1-AT-Proteinvarianten mit unterschiedlicher Ausprägung des Mangels vor. M bezeichnet die Normalanlage des Allels für den Proteasen-Inhibitor (Pi) in der väterlichen bzw. mütterlichen Erbanlage, Z steht für eine „Fehlversion“. Personen mit dem Merkmal PiMM sind gesund, mit dem Merkmal PiMZ heterozygot und Personen mit dem Merkmal PiZZ homozygot erkrankt.
Weitere Allele werden als V, S und O bezeichnet. Fehlen oder Aktivitätsverminderung auf unter 40 % der Norm bewirkt eine fortschreitende Gewebszerstörung durch die Elastasenaktivität in Leber und Lunge. Eine Heterozygotie ist mit 1:25 sehr häufig, jedoch klinisch nicht manifest. Es wird angenommen, dass 1 % aller Emphysematiker einen solchen Enzymdefekt aufweisen.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Chronische Bronchitis im Kindesalter, Lungenemphysem, Leberzirrhose.
Beachte
Bei Beatmung „air trapping“ wie bei Tracheomalazie, Fremdkörperaspiration, rezidivierende Polychondritis, mediastinale Raumforderung.

Symptome

Cholestatische Hepatopathie im Neugeborenen- bzw. Kindesalter (in 10 % der Fälle Leberzirrhose und teilweise Leberzellkarzinom), Husten, Auswurf, Dyspnoe, frühzeitig obstruktives Bronchialemphysem im Erwachsenenalter (durch Nikotinabusus erhebliche Progredienz der pulmonalen Symptomatik), portale Fibrose, selten Pannikulitis (Entzündung des Unterhautfettgewebes).
Labor
Plasmanormwert des α1-AT wird je nach Bestimmungsmethode zwischen 0,9–1,8 und 1,9–3,5 g/l angebeben. Eine pränatale Diagnostik ist möglich. Eine Plasmakonzentration von 11 μmol/l (ca. 0,6–0,8 g/l) wird als protektive Schwelle gegen die Bildung eines Lungenemphysems angesehen.
Vergesellschaftet mit
Glomerulonephritis, rheumatoide Arthritis, Psoriasis, Spondylitis ankylosans (M. Bechterew), Uveitis, Cor pulmonale.
Therapie
Bronchodilatatoren, Intravenöse Applikation von α1-AT (humanes α1PI Prolastin® oder Respreeza®), wöchentlich 60 mg/kgKG; symptomatisch, Leber-, Lungen- bzw. kombinierte Herz-Lungen-Transplantation.
Die Infusion von gereinigtem α1-AT aus gepooltem Plasma kann einen Plasmagrenzwert von 11 μmol/l erzeugen und wird als erfolgreiche und sichere, aber sehr teure Therapieoption angesehen.

Anästhesierelevanz

Erwachsene Patienten haben ein ausgeprägtes Lungenemphysem mit Ateminsuffizienz unterschiedlichen Ausmaßes. Die Lungen-, Leber- und Nierenfunktion stellen die limitierenden Faktoren dar. Bei fortgeschrittener restriktiv-obstruktiver Lungenerkrankung sind die Patienten auf eine aufwendige Therapie (Bronchodilatatoren, Expektoranzien, Sauerstoff, Antibiotika) angewiesen, Maßnahmen, die perioperativ fortgesetzt werden müssen.
Cave
Erhöhte Pneumothoraxgefahr!
Spezielle Bedingungen und Behandlungsschemata gelten für große Eingriffe wie Organtransplantationen oder Lungenvolumenresektionen. Für andere Eingriffe müssen Methoden angewendet werden, die möglichst keine Einschränkung der kompromittierten Organfunktionen hervorrufen.
Präoperative Abklärung
Thoraxröntgenaufnahme, Lungenfunktion, Blutgasanalyse, Blutbild, Leberfunktion, Gerinnungsstatus, Elektrolytstatus, Säure-Basen-Status, Plasmaproteine.
Wichtiges Monitoring
Pulsoxymetrie, Kapnographie, Beatmungsdrücke, invasive Kreislaufüberwachung, Temperatur, Elektrolyt- und Säure-Basen-Status.
Vorgehen
Empfehlungen zur Anästhesieführung sind sehr spärlich. Über Regionalanästhesien gibt es keine Fallberichte, aber man kann davon ausgehen, dass die Gerinnungsfunktion ein limitierender Faktor ist. Ferner kann bereits eine geringfügige Aktivitätsminderung der Muskulatur zur Verschlechterung der Atmung durch Beeinträchtigung der Atemhilfsmuskeln führen.
Über Intubationsnarkosen liegen einige Berichte vor, die das Problem des „air trapping“ (und dessen Folgen für den Kreislauf) in den Vordergrund stellen: Es wird empfohlen, diesem Umstand mit Druckbegrenzung, kleinen Atemzugvolumina, niedriger Atemfrequenz und langer Exspirationszeit (I:E = 1:5) entgegenzuwirken. N2O ist wegen Drucksteigerung in Hohlräumen und pulmonaler Hypertonie kontraindiziert. Zur Einleitung sollte ausreichend präoxygeniert werden. Intermittierende Apnoephasen zur Verringerung des „air trapping“ sind gelegentlich notwendig. Die Bevorzugung nicht oder wenig leberschädlicher Anästhetika (Benzodiazepine, Opioide, Isofluran, Sevofluran, Desfluran) versteht sich von selbst. Bei instabilem Kreislauf helfen der selektive Einsatz von vasoaktiven Substanzen und eine minutiöse Volumenkontrolle.
Postoperativ ist eine adäquate Überwachung der respiratorischen Funktion notwendig. Gegebenenfalls ist eine Nachbeatmung mit sorgfältigem Weaning erforderlich.
Cave
Lachgas (N2O), Barotrauma (Spannungspneumothorax), „air trapping“.
Weiterführende Literatur
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