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Charcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Charcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Syndrom.
Synonyme
Peroneale Muskelatrophie; Charcot-Marie-Amyotrophie (Muskeldystrophie); heredodegenerative neurale Muskelatrophie; Atrophia musculorum progressiva neurotica sive neuralis; engl. „peroneal muscular atrophy“; hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN) Typ I und II
Oberbegriffe
Neurale Muskelatrophie-Ss, Polyneuropathie.
Organe/Organsysteme
Muskulatur, Bewegungsapparat, ZNS, Atmungsorgane.
Inzidenz
Häufigkeit 1:2500 bis 1:10.000; Erstmanifestation vorwiegend vor dem 30. Lebensjahr.
Ätiologie
Hereditär mit überwiegend autosomal-dominantem (gelegentlich autosomal-rezessivem oder X-chromosomalem) Erbgang. Als Pathomechanismus liegen degenerative Veränderungen an peripheren Nerven und am Rückenmark mit nachfolgender Atrophie der betroffenen Muskulatur zugrunde. Histopathologisch findet sich eine Demyelinisierung sensorischer und motorischer Nerven mit Axondegeneration bis in den Hinter- und Vorderhornbereich des Rückenmarks.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Polyneuropathien verschiedener Genese, Rosenberg-Chutorian-Sy, Déjerine-Sottas-Sy (HMSN Typ III), Duchenne-Aran-Sy, Brossard-Kaeser-Sy, Biemond-Sy Typ II, Welander-Sy, Curschmann-Steinert-Batten-Sy, Roussy-Lévy-Sy, Friedreich-Ataxie, Gerstmann-Sy Typ II, Refsum-Sy, Syringomyelie.
Einteilung der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) bzw. des Charcot-Marie-Tooth-Syndroms (CMT) und verwandter Formen (nach Ginz et al. 2001)
Neuropathieformen
Vererbungsmodus
Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ I
 
HMAN IA (CMT 1A)
Autosomal-dominant
HMAN IB (CMT 1B)
Autosomal-dominant
HMAN IC (CMT 1C)
Autosomal-dominant
HMAN X1 (CMT X1)
X-chromosomal-dominant
HMAN Typ II A-D (CMT 2A-D)
Autosomal-dominant
HMAN Typ III (Déjerine-Sottas, CMT 3)
Autosomal-dominant, autosomal-rezessiv
HMAN Typ IV A-C (CMT 4A-C)
Autosomal-rezessiv
HMAN Typ LOM
Autosomal-rezessiv
HMAN Typ V
Autosomal-dominant
Hereditär neuralgische Amyotrophie (HAN)
Autosomal-dominant
Hereditär motorische Neuropathie (HMN II und V)
Autosomal-dominant
Hereditär sensible Neuropathie (HSN I)
Autosomal-dominant
Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen (HNPP)
Autosomal-dominant

Symptome

Aufsteigende und symmetrische Lähmungen der Fuß- und Unterschenkelmuskulatur (v. a. im Versorgungsgebiet des N. peronaeus), Spitzfuß, Hohlfuß (Pes equinovarus), Hammerzehe, „Storchenbeine“, Gangstörung („Steppergang“), Hypo- bzw. Areflexie, fibrilläre Muskelzuckungen, Parästhesien.
Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (auch im nichtbetroffenen Gebiet). Im späteren Verlauf auch Übergreifen auf die obere Extremität (Krallenhand), Intentionstremor.
Vergesellschaftet mit
Vasomotorische Labilität, Akrozyanose, Kontrakturen, Kälteempfindlichkeit, Kyphoskoliose, Polyzythämie, Exophthalmus, Optikusatrophie, Augenmuskellähmungen, Schwachsinn (selten), Friedreich-Ataxie, Phrenicusdysfunktion, Zwerchfelldysfunktion, Stimmbanddysfunktion, Schlafapnoe. Uneinheitliche Angaben über Arrhythmieneigung (AV-Block) und Kardiomyopathie. Eine autonome Neuropathie (mit Ausnahme von verminderter Schweißproduktion im betroffenen Areal) ist nicht zu erwarten.

Anästhesierelevanz

Das anästhesiologische Vorgehen richtet sich nach dem Ausmaß der Erkrankung und den Organbeteiligungen. Eine Exazerbation der Erkrankung ist während der Schwangerschaft oder oraler Kontrazeptivamedikation möglich (hormonell bedingte neuronale Ödembildung).
Spezielle präoperative Abklärung
Neurologischer Status, Thoraxröntgenaufnahme, Lungenfunktion, Elektrolyte im Serum, Ausschluss einer Kardiomyopathie.
Wichtiges Monitoring
Relaxometrie, Kapnographie, Volumetrie.
Vorgehen
Es gibt relativ wenig Berichte über Regionalanästhesien bei dieser Erkrankung. Fallserien mit Anlage peripherer Regionalanästhesien einschließlich Katheterverfahren beschreiben keine neurologischen Spätkomplikationen. Mit einer abnormalen Reaktion auf Nervenstimulation ist zu rechnen. In Fallberichten wird bei Einsatz von Ultraschall eine ähnliche Dimension der Nerven wie beim Gesunden beschrieben.
Aufgrund der neurologischen Vorerkrankung ist die forensische Problematik bei rückenmarknahen Anästhesien zu beachten. Trotzdem kann insbesondere beim Vorliegen einer respiratorischen Einschränkung eine rückenmarknahe Technik angewendet werden, so z. B. eine Epiduralanästhesie oder eine Spinalanästhesie (eventuell titriert über einen Mikrokatheter). Nach Epiduralanästhesie wurde vereinzelt über eine verlängerte Wirkung berichtet, jedoch auch diese habe langfristig keine Residuen gehabt. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang eine gründliche Aufklärung des Patienten und die Dokumentation des Gesprächs.
Bei Allgemeinanästhesien sollte (wie bei allen Myopathien) auf die Verwendung depolarisierender Muskelrelaxanzien verzichtet werden, um eine übermäßige Kaliumfreisetzung zu vermeiden. Dies gilt v. a. während Phasen akuter Exazerbation. Laut Literaturangaben ist dennoch Succinylcholin häufig ohne Probleme eingesetzt worden. Ein eindeutiger Zusammenhang mit maligner Hyperthermie (MH) ist nicht herzustellen, es gibt aber einzelne Berichte von hypermetabolischen Symptomen unter dem Einsatz von volatilen Anästhetika. Daher ist die Wahl einer MH-triggerfreien Anästhesie ratsam.
In einer Fallsammlung über die Verwendung von Lachgas in 41 Fällen (aus 11 Publikationen) konnten keine neurotoxischen Nachwirkungen gefunden werden. Dennoch wird dessen Einsatz für längerdauernde Anästhesien nicht empfohlen.
Vereinzelt sind Allgemeinanästhesien erfolgreich mit Propofol im Rahmen einer totalen intravenösen Anästhesie (TIVA) mit und ohne nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien durchgeführt worden. Es sind sowohl eine verminderte Wirkung als auch länger anhaltende Nachwirkung von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien beschrieben worden. Erstere ist vermutlich auf eine hypothetische „up-regulation“ der Azetylcholinrezeptoren zurückzuführen. Die Aussagekraft der Relaxometrie ist im Fall einer Beteiligung des Messortes (N. ulnaris) in Frage zu stellen. In jedem Fall erscheint es ratsam, Allgemeinanästhesieverfahren zu bevorzugen, die ohne Muskelrelaxation durchgeführt werden können (z. B. Larynxmaske), bzw. diese sorgfältig nach Wirkung zu dosieren. Fallberichte beschreiben den erfolgreichen und sicheren Einsatz von Sugammadex zur Antagonisierung von Rocuronium.
Falls eine Kardiomyopathie vorliegt, sollte die Gabe tendenziell negativ-inotroper und arrhythmogener Pharmaka unterbleiben. Die gelegentliche Assoziation mit einem AV-Block lässt die Bereitstellung von Vagolytika und eines externen Schrittmachers ratsam erscheinen. Mit respiratorischen Problemen ist bei Beteiligung der Atemmuskulatur zu rechnen. Deshalb setzen in der Ausleitungsphase der Übergang zur Spontanatmung und die Extubation den strengen Nachweis einer ausreichenden Atemtätigkeit voraus. Es gibt keine Hinweise, die eine Verwendung von Cholinesterasehemmern in Frage stellen. Mit der Notwendigkeit einer prolongierten Nachbeatmung rechnen! Bei ausgeprägter sensorischer Neuropathie kann der postoperative Analgesiebedarf gering sein.
Cave
Atemdepressive (Prä-)Medikation bei respiratorischen Symptomen, Relaxansüberhang, Succinylcholin.
Weiterführende Literatur
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