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Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 26.03.2018

Familiäre hypokaliämische periodische Lähmung

Familiäre hypokaliämische periodische Lähmung.
Synonyme
Kaliummangel-Sy; familiäres Hypokaliämie-Sy; engl. „familial periodic paralysis“
Oberbegriffe
Periodische Lähmungs-Ss, Elektrolytentgleisung, Ionenkanalerkrankung.
Organe/Organsysteme
Wasser-Elektrolyt-Haushalt, Muskeln, Nervensystem.
Inzidenz
1:125.000, Androtropie von 3–4:1.
Ätiologie
Hereditär mit autosomal-dominantem Erbgang. (Mutation auf Chromosom 1q31-32). Davon betroffen sind in variabler Kombination Elektrolytkanäle der Muskelzellmembranen wie der Kalziumkanal (L-Typ der α1-Untereinheit des Dihydroperidinrezeptors) und seltener der Natriumkanal (α1-Untereinheit). Der Pathomechanismus beruht auf einer abnormalen Erleichterung des insulinvermittelten Kaliumtransports aus dem Extrazellulärraum in die Muskelzellen. Dieser Vorgang führt zu Hypokaliämie und Verminderung der Membranpolarisation.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Andere Kaliummangelzustände verschiedener Genese, schlaffe Lähmungen anderer Genese, „thyrotoxic periodic paralysis“ (TPP) bei Asiaten, Schwartz-Bartter-Sy, Abderhalden-Kaufmann-Sy, Toni-Debré-Fanconi-Sy, Lightwood-Albright-Sy, Albright-Hadorn-Sy, Cushing-Sy, Conn-Sy, Pseudo-Conn-Sy, hepatokardiales Sy, diabetische Azidose, Westphal-Sy, normokaliämische periodische Lähmung, Achor-Smith-Sy., Andersen-Tawil-Syndrom, hyperkaliämische periodische Lähmung.
Beachte
Bei der familiären hyperkaliämischen Lähmung (Adynamia episodica Gamstorp, engl. „hyperkaliemic periodic paralysis“) und der familiären normokaliämischen Lähmung liegt trotz gegenteiligem Pathomechanismus eine ähnliche Symptomatik vor, jedoch oft kombiniert mit intermittierenden myotonen Phasen.

Symptome

Intermittierende Hypokaliämie (Werte unter 3,8 mmol/l) nach Stresssituationen (Infekte, Operationen, Angstzustände, Kälte, Anstrengung, Menstruation etc.). Als weitere Auslöser gelten Kohlenhydrate, Katecholamine, Natriumglutamat, Natriumchlorid, Kodein, Schwermetalle. Anfallsweise auftretende asymmetrische Muskelschwäche und Paresen, Adynamie, Reflexminderung, respiratorische Insuffizienz (in 10 % der Fälle mit letalem Ausgang), Arrhythmie, Blutdruckanstieg, Diureserückgang. Sporadische Hyperkaliämiephasen sind auch beschrieben worden. Die Muskelschwäche ist am stärksten in den Extremitäten ausgeprägt, weniger am Zwerchfell und im Versorgungsgebiet der motorischen Hirnnerven.
Charakteristisch sind die EKG-Veränderungen: U-Welle in II und V2–V4, flache T-Wellen und ST-Senkungen.
Die Symptomatik manifestiert sich im Allgemeinen nach Erreichen des Adoleszenzalters. Im Intervall besteht Beschwerdefreiheit.
Vergesellschaftet mit
Dilatative Kardiomyopathie (1–2 %), Arrhythmien, metabolische (renale) Alkalose, evtl. Myopathie-Ss, möglicherweise auch maligne Hyperthermie.
Therapie
Kohlenhydratarme Diät und orale Kaliumsubstitution, insbesondere vor bevorstehenden Anstrengungen und Stresssituationen. Im Anfallstadium teils massive Kaliumzufuhr (bis 40 mmol/h). Aldactone, Azetazolamid und eine metabolische Azidose scheinen protektiv zu sein.

Anästhesierelevanz

Spezielle präoperative Abklärung
Perioperativ engmaschige Elektrolyt-, besonders Kaliumkontrollen und Überwachung des Säure-Basen-Status.
Wichtiges Monitoring
Relaxometrie (Relaxansbedarf ist in der Regel erniedrigt), Temperatur, EKG, ZVD.
Vorgehen
Wichtig ist die gezielte Kaliumsubstitution schon bei geringfügiger Abweichung von der Norm (bis 40 mmol/h; darüber besteht erhöhte Arrhythmiegefahr) unter engmaschigen Serumkaliumkontrollen. Werte unter 3,0 mmol/l gelten als potenziell anfallsauslösend und müssen unbedingt vermieden werden. Besonders gut geeignet sind säuernde Kaliumpräparate (z. B. Kaliumchlorid).
Grundsätzlich sollte der Patient gegen Stressfaktoren aller Art so weit wie möglich abgeschirmt werden. Zur Prämedikation ist die Anxiolyse und Sedierung mit Benzodiazepinen geeignet. Bei der Wahl des Anästhesieverfahrens ist v. a. auf eine genügende Abschirmung gegen die endogenen Katecholamine zu achten. Dies lässt sich im Prinzip mit allen gängigen Anästhesieverfahren erreichen. Weniger geeignet ist die Verwendung von Halothan und Ketamin. Bei Epiduralanästhesien sollte auf den Zusatz von Adrenalin zum Lokalanästhetikum verzichtet werden. Ebenfalls wichtig ist die Vermeidung von Hypothermie, Alkalose und Hyperglykämie.
Aufgrund der möglichen Muskelschwäche empfehlen einige Autoren einen generellen Verzicht auf Muskelrelaxanzien. Allerdings ist bei erfolgreicher Kaliumsubstitution gegen die relaxometrisch kontrollierte Anwendung von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien nichts einzuwenden. Es ist jedoch mit einem verminderten Relaxansbedarf zu rechnen. Aus Gründen der Membranstabilität sollte hingegen auf die Verwendung von Succinylcholin verzichtet werden. Letzteres ist auch im Hinblick auf die vereinzelt beschriebene Assoziation mit maligner Hyperthermie bzw. positivem Halothan-Koffein-Kontrakturtest sinnvoll. Dies obwohl wiederholt von problemlosen Inhalationsanästhesien und Succinylcholinanwendungen berichtet wurde.
Postoperativ kann aufgrund der muskulär bedingten respiratorischen Insuffizienz eine Fortführung der maschinellen Beatmung indiziert sein. Auf jeden Fall sollte die Überwachung auf 24–48 h ausgedehnt werden, was eine ambulante Behandlung ausschließt.
Cave
Stress, metabolische Alkalose, Insulin, Glukokortikoide, Mineralokortikoide (Ausnahme: Triamcinolon), schnell zugeführte Kohlenhydrate, Katecholamine (insbesondere β-Mimetika), MH-Triggersubstanzen.
Weiterführende Literatur
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