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Friedreich-Ataxie

Verfasst von: Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Friedreich-Ataxie.
Synonyme
Spinozerebelläre Ataxie; spinale Heredoataxie; Friedreich-Tabes
Oberbegriffe
Dysraphie-Ss, Myopathie-Ss, Muskelatrophie-Ss.
Inzidenz
Häufigste Ataxie in der kaukasischen (europiden) Bevölkerung, 1:50.000, Prävalenz 1:25.000 bis 1:50.000, in Deutschland ca. 1600 Fälle, gleichgeschlechtliche Verteilung.
Organe/Organsysteme
ZNS, Muskulatur (Bewegungsapparat), Sinnesorgane (Augen, Ohren).
Ätiologie
Hereditär mit autosomal-rezessivem Erbgang (Chromosom 9, Mutation im Sinne einer Trinukleotidexpansion) und variabler phänotypischer Manifestation. Auch eine autosomal-dominante Form wurde beschrieben. Der Funktionsverlust des Proteins Frataxin führt zu einer Eisenansammlung in den Mitochondrien, was wiederum eine Störung der Atmungskette und Zelltod nach sich zieht. Im Verlauf kommt es zu einer Rückenmarkatrophie mit progredienter Degeneration und Gliose der spinozerebellären und kortikospinalen Bahnen sowie der Hinterstränge (Tractus spinocerebellaris).
Typischerweise sind Gewebe betroffen, die eine geringe Zellteilungsaktivität haben, wie zentrale Nervenzellen, Herz und Bauchspeicheldrüse.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Andere Ataxie-Ss, Roussy-Lévy-Sy, Pierre-Marie-Sy II, Hunt-Sy III, Richard-Rundle-Sy, multiple Sklerose, Lues (Tabes dorsalis), Kleinhirntumoren, amaurotische Schwachsinn-Ss, Louis-Bar-Sy, Abetalipoprotein-Sy, Behr-Sy, Refsum-Sy, van Bogaert-Scherer-Epstein-Sy, Dana-Sy, Déjerine-Sottas-Sy, familiäres kortikostriatozerebelläres Sy, Kuru-Sy, Scholz-Sy, Thévenard-Sy, Thomas-Sy, Westphal-von Leyden-Sy, Flynn-Aird-Sy, Friedman-Roy-Sy, Rosenberg-Chutorian-Sy, Jeunne-Tommasi-Freycon-Nivelon-Sy, Wohlwill-Andrade-Sy, Charcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Sy.

Symptome

Ataxie = schwere Gangstörung und choreiforme Bewegungsstörung, Areflexie (80 %), Hyperreflexie (20 %), Pyramidenzeichen (positives Babinski-Phänomen), Sensibilitätsstörung, Nystagmus, Sprachstörung, Spastik, Wesensänderung, Demenz.
Muskelatrophien zuerst an den Füßen (Hohlfuß, Krallenzehen), später an den Händen (Überstreckung im Handgelenk).
Vergesellschaftet mit
Skelettdeformitäten (Kyphoskoliose, Spina bifida), psychoorganisches Sy, Demenz, Optikusatrophie mit Amaurose (Blindheit), Taubheit, hypertrophe Kardiomyopathie (90 %!), Herzklappenfehler, Reizleitungsstörungen mit Arrhythmien („plötzlicher Herztod“), Akrozyanose, Diabetes mellitus, Katarakt, Atembeschwerden aufgrund von Kyphoskoliose, Dysphagie.

Anästhesierelevanz

Das anästhesiologische Vorgehen hat die Vulnerabilität der atrophischen und nicht mehr adäquat belasteten Muskulatur sowie die eingeschränkten kardiopulmonalen Organfunktionen zu berücksichtigen.
Spezielle präoperative Abklärung
Neurologischer Status, Thoraxröntgenaufnahme in 2 Ebenen, Lungenfunktion, EKG, Echokardiografie, Elektrolytstatus.
Wichtiges Monitoring
Relaxometrie, Pulsoxymetrie, regelmäßige Elektrolytkontrollen, invasive Blutdruckmessung, zentralvenöser Druck, Pulmonalarterienkatheter, Blutzuckerkontrollen.
Vorgehen
Die Anwendung regionalanästhesiologischer Anästhesietechniken kann aus forensischen Gründen problematisch sein. Dennoch wurden sie erfolgreich angewendet und haben den Vorteil, weniger mit der Atmungsfunktion zu interferieren. Gerade bei bestehender Dysphagie, Schluckstörungen und Ventilationsstörungen erscheint die Allgemeinanästhesie als weniger gut geeignet. Im Falle einer Allgemeinanästhesie sollte zur Vermeidung einer Aspiration eine „rapid-sequence induction“ mit Rocuronium angewendet werden. Geeignete Relaxanzien sind außerdem Vecuronium und Atracurium.
Anästhetika mit arrhythmogener Eigenschaft wie Halothan sollten nicht angewendet werden. Ebenfalls Vorsicht ist geboten bei Theophyllinderivaten, vasoaktiven Pharmaka, Atropin (und Analoga), Cholinesterasehemmern. Negativ inotrop wirkende Pharmaka bzw. Anästhetika sollten zurückhaltend eingesetzt werden. Gut geeignet sind Etomidat, Opioide und Benzodiazepine.
Bei Monitoring der Anästhesietiefe mittels BIS müssten sich theoretisch aufgrund des pathophysiologischen Geschehens niedrigere Ausgangswerte finden als bei gesunden Patienten.
Endokarditisprophylaxe bei Klappenvitien entsprechend der aktuellen Leitlinien durchführen.
Eine adäquate postoperative Überwachung und Nachbeatmung ist bei Relaxansüberhang (z. B. wenn eine Antagonisierung bedenklich erscheint) oder bei nicht ausreichender Ventilation angezeigt.
Die Anwendung von Propofol zur TIVA wird auf Grund seiner mitochondrialen Effekte zum Teil kritisch gesehen.
Cave
Succinylcholin vermeiden (Gefahr von Hyperkaliämie, Herzkreislaufstillstand), Halothan, arrhythmogene Faktoren.
Weiterführende Literatur
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Internetlinks (Stand 01.02.2018)