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Hurler-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Uta Emmig, Dierk A. Vagts und Peter Biro
Hurler-Syndrom.
Synonyme
Pfaundler-Hurler-Sy; Morbus Hurler; Mukopolysaccharidose Typ I-H; Lipochondrodystrophie; Gargoylismus (frz. „gargouille“: Wasserspeier); Alpha-L-Iduronidase-Mangel
Oberbegriffe
Lysosomale Speicherkrankheit (Thesaurismose), Mukopolysaccharidose, Enzymopathie, Stoffwechselerkrankung.
Organe/Organsysteme
Knochen, Skelett, Hypophyse, Gehirn, ZNS, Leber, Milz, Hornhaut, Skleren, Haut, Herz, Lunge, Lymphknoten.
Inzidenz
1:100.000.
Ätiologie
Hereditär mit autosomal-rezessivem Erbgang (IDUA-Gendefekt lokalisiert auf Chromosom 4). Ein angeborener Defekt oder Mangel der α-L-idu-ronidase führt zur übermäßigen Anhäufung der nicht abbaubaren Mukopolysaccharide Dermatan- und Heparansulfat, welche zu Bindegewebsschädigung und nachfolgenden Organdysfunktionen führt. Beim milder ausgeprägten Scheie-Sy (MPS-I-S) liegt eine partiale Enzymfunktion vor, beim schwereren Hurler-Sy ein kompletter Mangel mit früher Krankheitsmanifestation. Progressiver Verlauf mit hoher Variabilität der Krankheitssymptome. Unbehandelt häufig Tod innerhalb des 1. Lebensjahrzehnts.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Andere Mukopolysaccharidosen: Scheie-Sy, Hurler-Scheie-Sy, Hunter-Sy, Sanfilippo-Sy, Morquio-Sy, Maroteaux-Lamy-Sy, Sly-Sy. Andere Speicherkrankheiten: Glykogenose Typ II (Pompe), Cystinose (Abderhalden-Kaufmann-Lignac-Sy), Lipogranulomatose (Farber-Sy), Gangliosidosen. Andere Sy mit kraniofazialer Deformierung bzw. Makroglossie: Wiedemann-Beckwith-Sy, Cornelia-de-Lange-Sy, kongenitale Hypothyreose (Myxödem), François-Sy. Andere Minderwuchs-Ss: Kashin-Beck-Sy, Rubinstein-Taybi-Sy, Bamatter-Franceschetti-Klein-Sierro-Sy. Unterscheidung von primären Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-Sy, Marfan-Sy) durch Enzymdefektnachweis.

Symptome

Meist innerhalb des ersten Lebensjahres auftretende typische kraniofaziale Deformität (eingezogene Nasenwurzel, wulstige Lippen, sog. Wasserspeiergesicht, Makroglossie, Mikrognathie), kurzer Hals, Gelenk- und Skelett-Deformitäten, Dens-Hypoplasie, disproportionierter Minderwuchs, Wirbelsäulendeformitäten, Kontrakturen, Dysostosis multiplex. Kardiovaskuläre Veränderungen: Mukopolysaccharideinlagerungen in der Intima von Herzkranzgefäßen mit Folge einer koronaren Herzkrankheit, strukturelle Herzklappenerkrankungen, Entwicklung einer Kardiomyopathie, pulmonale und systemische Hypertonie. Restriktive Ventilationsstörungen, Dyskrinie und häufige Infekte des Respirationstraktes, Atemwegsobstruktionen durch Einlagerungen von Mukopolysacchariden in pharyngeales Bindegewebe und Zunge, Larynxstenosen, subglottische Stenosen, Schlafapnoe-Syndrom, Hepatosplenomegalie, Schwerhörigkeit, Hornhauttrübungen, Hernien.
Diagnostik
Pränatale Diagnostik möglich (Amniozentese: Genanalyse, Enzymdiagnostik).
Labor
Messung der Alpha-L-Iduronidase im Serum, Nachweis von Heparan- und Dermatansulfat im Urin, Gentest.
Therapie
Eine Enzymsubstitution mit Laronidase kann die Symptome mildern, ist aber nicht kurativ. Therapie der Wahl ist die allogene Stammzelltransplantation vor dem 2,5. Lebensjahr mit hoher Erfolgsrate. Eine Verbesserung der neurokognitiven Funktion, Milderung der strukturellen Herzklappenerkrankungen und Skelettdeformitäten wird hierdurch jedoch nicht bewirkt.
Vergesellschaftet mit
Geistige Retardierung (häufig, jedoch nicht obligat), Hydrozephalus, spinale Kompression insbesondere im HWS-Bereich.

Anästhesierelevanz

Die endotracheale Intubation ist nicht nur im oberen Atemweg als Folge der syndromtypischen Gesichtsmalformationen und der eingeschränkten Beweglichkeit der HWS und der Kiefergelenke, sondern auch im distalen Atemweg durch Verformungen und Stenosen der Trachea erschwert. Zusätzlich ist eine Reklination bei erhöhter Subluxationsgefahr des Atlantookzipitalgelenks kontraindiziert. Darüber hinaus liegt meist eine schlechte respiratorische Ausgangssituation vor aufgrund ausgeprägter visköser Salivation mit nachfolgenden Infekten sowie kombinierten obstruktiven und restriktiven Ventilationsstörungen.
Kardiovaskuläre Risiken liegen in der erhöhten Inzidenz von Kardiomyopathie, koronarer Herzkrankheit und in einer pulmonalarteriellen sowie systemischen Hypertension.
Spezielle präoperative Abklärung
Sorgfältige Exploration der oberen Atemwege. Gegebenenfalls Thoraxröntgen, Lungenfunktionsparameter, Polysomnographie, Infektparameter, kardiologische Diagnostik (EKG, Echokardiografie). CT-bzw. MRT-Diagnostik bei gezielten Fragestellungen (Myelonkompression, Hirndruck, Hydrozephalus, subglottische Stenose)
Wichtiges Monitoring
Erweitertes kardiovaskuläres Monitoring in Abhängigkeit von der Morbidität., Blutgasanalysen.
Vorgehen
Aufgrund des hohen Risikos für respiratorische (bis ca. 50 %) und kardiovaskuläre (ca. 4 %) Komplikationen muss die Indikationsstellung für eine Anästhesie gut überlegt sein.
Auf eine medikamentöse Prämedikation sollte möglichst verzichtet werden. Ist sie bei unkooperativen Patienten unerlässlich, muss Anästhesiebereitschaft sowie Equipment zur Sicherung des Atemwegs unmittelbar vorgehalten werden.
Eine Regionalanästhesie ist von Vorteil. Sowohl Spinalanästhesien als auch Kaudalanästhesie sind erfolgreich durchgeführt worden. Hingegen ist auch das Versagen einer Epiduralanästhesie bei gesicherter Katheterlage beschrieben (als Ursache wird eine Anlagerung von Mukopolysacchariden an den Nervenwurzelscheiden angenommen).
Bei Allgemeinanästhesien muss bis zur Sicherung des Atemwegs die Spontanatmung erhalten werden. Die Maskenbeatmung ist häufig erschwert, ein oropharyngealer Tubus kann hilfreich sein. Die Beatmung über eine Larynxmaske gelingt meist. Zur Beherrschung von Intubationsproblemen muss geeignetes Instrumentarium und erfahrenes Personal vorhanden sein. Wegen erhöhter Vulnerabilität der Schleimhäute und enger Nasenpassage sollte möglichst keine nasale Intubation vorgenommen werden. Die endotracheale Intubation muss sehr schonend erfolgen. Die Reklination zur Intubation ist wegen atlantookzipitaler Subluxationsgefahr kontraindiziert. Goldstandard ist die fiberoptische Intubation (ggf. über eine Larynxmaske) unter erhaltener Spontanatmung und mit einem funktionierenden periphervenösen Zugang. Sehr häufig kann auch mittels eines Videolaryngoskops intubiert werden. In ca. 3 % der Fälle ist jedoch auch mit einer nicht möglichen endotrachealen Intubation zu rechnen. Eine Krikothyreoideotomie (Koniotomie) kann wegen einer Verdickung der krikothyreoidalen Membran erheblich erschwert, wenn nicht sogar unmöglich sein, daher muss im Zweifelsfall eine Notfalltracheotomie vorbereitet werden. Eine vorausgegangene Knochenmarkstransplantation reduziert die Wahrscheinlichkeit einer erschwerten Atemwegssicherung in relevantem Ausmaß.
Besonderes Augenmerk ist auf die kardiovaskulären und respiratorischen Implikationen der Erkrankung zu richten. Aufgrund der erhöhten Infektanfälligkeit ist v. a. bei Manipulationen an den Atemwegen möglichst steril vorzugehen. Die Extubation nach Beendigung der Anästhesie muss ebenfalls sorgfältig geplant werden und darf erst beim zuverlässig wachen Patienten und nach vollständigem Abklingen der Relaxierung durchgeführt werden.
In der Extubationsphase muss an die Möglichkeit eines Postobstruktionsödems gedacht werden.
Cave
Keine Verabreichung von Prämedikation ohne unmittelbare Anästhesiebereitschaft. Schwieriges Atemwegsmanagement, auch Koniotomie oft erschwert. Multiorgandysfunktion.
Weiterführende Literatur
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