Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 26.03.2018

Idiopathisches Hypoventilationssyndrom

Idiopathisches Hypoventilationssyndrom.
Synonyme
Neurogene Hypoventilation; Syndrom der primären alveolären Hypoventilation; Undine-Sy; engl. „Ondine’s curse, central alveolar hypoventilation syndrome (CAHS)“ oder „congenital central hypoventilation syndrome (CCHS)“
Oberbegriffe
Hypoventilationssyndrome.
Organe/Organsysteme
Atemzentrum, ZNS, Atmungsorgane, Herz-Kreislauf-System, Blutbildung.
Inzidenz
1:50.000 bis 1:200.000
Ätiologie
Mutation des PHOX 2B-Gens auf dem Chromosom 4p12 mit autosomal-dominantem Erbgang. Die klinische Ausprägung ist variabel und manifestiert sich meist in den ersten Lebensmonaten. Hiervon unterschieden wird eine erworbene Störung der autonomen Atmungssteuerung. Diese Erkrankung wird im Zusammenhang mit Enzephalitiden oder Tumoren beobachtet. Es resultiert in allen Fällen ein vermindertes Ansprechen des Atemzentrums auf CO2 mit konsekutiver Hyperkapnie.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Schlafapnoe-Sy („obstructive sleep apnea“, OSA), Pickwick-Sy, Mendes-da Costa-Sy I, Bruns-Sy, paroxysmales Hypothermie-Sy, Epilepsie (Petit mal), Opiatüberdosierung, Opiatüberhang, Drogenintoxikation, Anästhetikaüberhang bzw. Reboundphänomene, Lokalanästhetikaintoxikation.

Symptome

Tendenz zu paroxysmaler Hypoventilation oder Apnoe (auch Cheyne-Stokes-Atmung), plötzlich einsetzende Somnolenz ohne Obstruktion der Atemwege. Auf Hypoxie und Hyperkapnie erfolgt keine physiologische Atemstimulation, da die Chemorezeptorsensitivität gestört ist, sodass insbesondere im Schlaf die Patienten symptomatisch werden.
Im Anfall: Hypoxie, Zyanose, Hyperkapnie, Arrhythmien, transiente Asystolien.
Chronisch: Polyglobulie, Rechtsherzbelastung und -hypertrophie, pulmonale Hypertension, Bradykardien.
Labor: Arterielle Hypoxämie, Hyperkapnie, respiratorische Azidose.
Thoraxröntgenaufnahme: Zeichen der Rechtsherzbelastung und vermehrte pulmonale Gefäßzeichnung.
Die Diagnose kann durch Bestimmung der PHOX2B-Genmutation gestellt werden.
Vergesellschaftet mit
Abschwächung des Husten- und Würgereflexes, Dysregulation des autonomen Nervensystems, ösophageale Motilitätsstörungen, hypoxischer Hirnschaden, Epilepsie, kognitive Beeinträchtigung, Schwitzen, Strabismus, Verminderung der Pupillenreaktion auf Licht, gestörte Glukoseverwertung, Hypothermie .
Wenn zusätzlich eine COPD vorliegt, ist mit einer Häufung schwerer apnoischer Episoden zu rechnen.
Assoziationen mit Neuroblastomen, M. Hirschsprung (kongenitales aganglionäres Megakolon/HADDAD-Sy), Ganglioneuromen, Phäochromozytomen und Augenpathologien möglich.
ROHHAD-Syndrom: Assoziation mit Fettsucht, hypothalamischer Dysfunktion (ADH-Mangel, Hypothyreose, Hyperprolaktinämie), autonomer Dysregulation.
Therapie
Zentrale Stimulation des Atemzentrums (Aminophyllin), CPAP-Atmung, Tracheotomie, invasive Über- sowie Unterdruckbeatmung lebenslang, Zwerchfellschrittmacher, Herzschrittmacher.

Anästhesierelevanz

Spezielle präoperative Abklärung
Blutgasanalysen, Säure-Basen-Status, Lungenfunktionsprüfung zum Ausschluss einer Obstruktion, Thoraxröntgenaufnahme, Polysomnographie, EKG, 24-Stunden-EKG, bei Verdacht auf Rechtsherzinsuffizienz: Echokardiografie, Blutbild.
Zusätzliches Monitoring
Pulsoxymetrie, ZVD, Blutgasanalysen und Säure-Basen-Status, Temperatur.
Vorgehen
Eine medikamentöse Prämedikation kann Apnoeanfälle auslösen, sie sollte deshalb unterlassen werden. Die anästhesiologischen Maßnahmen sollten den Atemantrieb des Patienten so wenig wie möglich reduzieren. Daraus lässt sich eine Bevorzugung regionalanästhetischer Verfahren mit alleiniger Anwendung von Lokalanästhetika ableiten. Epidurale oder gar intrathekale Opioidapplikationen sind kontraindiziert. Bei Vorhandensein einer schweren pulmonalen Hypertension und Rechtsherzbelastung sollte keine Spinalanästhesie durchgeführt werden aufgrund des Risikos einer profunden Sympathikusblockade sowie einer Verminderung des venösen Rückflusses. Stattdessen wäre eine titrierte Periduralanästhesie zu bevorzugen.
Ist eine Allgemeinanästhesie vorgesehen, müssen in der postoperativen Phase nachwirkende atemdepressorische Pharmaka (v. a. Opioide) mit großer Zurückhaltung eingesetzt werden. Keine Narkose mit unkontrollierter Spontanatmung durchführen. Aufgrund der autonomen Dysfunktion des oberen Gastrointestinaltrakts muss von einem erhöhten Aspirationsrisiko ausgegangen werden. Neigung zu kardialen Arrhythmien und krisenhafter arterieller Hypotonie. Günstig sind gut steuerbare Inhalationsanästhetika (N2O, Isofluran, Desfluran) oder schnell abbaubare intravenöse Anästhetika (Propofol, Remifentanil). Die mechanische, assistierte Ventilation ist postoperativ bis zur Wiederkehr des Bewusstseins und dem Einsetzen einer ausreichenden Spontanatmung beizubehalten. Die Indikation zur Nachbeatmung und ggf. zur Reintubation ist demzufolge großzügig zu stellen. Aktive Vermeidung von Hypothermie, da hierfür eine besondere Gefährdung besteht.
Beachte, dass selbst wache Patienten nach Wegfall des Trachealreizes (nach der Extubation) atemdepressiv werden können. Eine postoperative Intensivüberwachung ist dementsprechend essenziell.
Die Applikation von Sauerstoff beim spontan atmenden, schlafenden Patienten verbietet sich bei vermuteter Steuerung des Atemantriebs durch Hypoxie („hypoxic drive“), es sei denn, die Atmungsfunktion kann lückenlos überwacht werden (Intensivstation).
Zur Analgesie sind Lokalanästhetika und nichtsteroidale Analgetika bevorzugt anzuwenden.
Zu vermeiden ist eine Verschlechterung der Rechtsherzfunktion durch Volumenüberlastung. Bei Bedarf muss eine differenzierte Infusionstherapie (Stimulierung der Diurese, Bilanzierung, ZVD-Kontrollen) durchgeführt werden, und Vasodilatatoren sollten zum Einsatz kommen. Der Einsatz einer transösophagealen Herzechokardiografie kann nützliche Erkenntnisse liefern.
Eine bis dato unerkannte Erkrankung kann sich im Rahmen einer Anästhesie erstmanifestieren. Im Fall einer unerklärten postoperativen Ateminsuffizienz sollte ein late-onset Hypoventilationssyndrom differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden.
Cave
Opioide (ggf. mit Ausnahme von Remifentanil), Benzodiazepine, Anästhetikaüberhang, Hyperoxie, Hypervolämie, Rechtsherzüberlastung.
Weiterführende Literatur
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