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Kartagener-Syndrom

Verfasst von: Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Kartagener-Syndrom.
Synonyme
Syndrom der immotilen Zilien; engl. „immotile cilia syndrome“, „primary ciliary dyskinesia (PCD)“; Dextrokardie-Bronchiektasie-Sinusitis-Sy; Ziliendyskinesie-Sy; Siewert-Syndrom; Kartagener Typ
Oberbegriffe
Dysmorphie, Missbildung, Fehlbildung, Fehlfunktion.
Organe/Organsysteme
Atemwege, Lungen, Herz-Kreislauf-System, Thoraxorgane, Nasennebenhöhlen.
Inzidenz
Inzidenz 1:20.000–1:60.000, zweithäufigste angeborene Störung der Atemwege, 15–20 % aller Personen mit Situs inversus; 1,4 % aller Personen mit Bronchiektasen, ca. 50 % aller Patienten mit PCD haben einen Situs inversus.
Ätiologie
1/3 hereditär mit autosomal-rezessivem Erbgang (Chromosom 5p15-p14) und variabler phänotypischer Ausprägung. Sporadisch auch dominante Vererbung bei Neumutation möglich. Möglicherweise bestehen 7 verschiedene Subtypen. Aufgrund von Strukturanomalien und Fehlfunktion der Zilien (fehlende Dyneinarme) kommt es zu einer Störung des mukoziliären Transports. Zusätzlich besteht eine Störung der leukozytären Chemotaxis. Infolge häufiger respiratorischer Infekte entwickelt sich eine chronisch-progrediente Atemwegserkrankung.
Autosomal-rezessiv [Mutation Gen DNAH5 (28 %), DNAI1 (2–10 %), selten TXNDC3, DNAH11 und DNAI2], autosomal-dominant (Gendefekt ist noch nicht bekannt) oder X-chromosomal-dominant.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Ivemark-Sy, Immundefekt-Ss, Tuberkulose (M. Koch), Garré-Sy, atypische septische Granulomatose mit IgA-Mangel, Sarkoidose (Besnier-Boeck-Schaumann-Sy), Hyperimmunglobulinämie-E-Sy, DiGeorge-Sy, Nezelhof-Sy, Wegener-Granulomatose, Goodpasture-Sy, Hodgkin-Sy, Mukoviszidose, Zinsser-Engman-Cole-Sy, Heubner-Herter-Sy, Aids, Fernand-Widal-Sy., Zystische Fibrose, Immundefizienz.

Symptome

Trias: Bronchiektasen, Sinusitis und partieller oder totaler Situs inversus.
Zusatzbefunde: Bronchitis, Pneumonie (häufige Erreger: Hämophilus, Pneumokokken), Bronchorrhö, Polyposis nasi, Rhinorrhö, Hypakusis (Schwerhörigkeit), pulmonale Hypertension, Cor pulmonale, Vorhofseptumdefekt, Transposition der großen Gefäße.
Labor
Pathologische Infektparameter (Anämie, Leukozytose, CRP- und BSG-Erhöhung).
Erkrankungsnachweis durch elektronenmikroskopische Untersuchung der Zilien und phasenkontrastmikroskopische Messung der Zilienschlagfrequenz.
Vergesellschaftet mit
Kombinierte restriktive und obstruktive Pneumopathie, Skelettanomalien (Halsrippe, Spina bifida occulta), Infertilität bei Männern, Oligophrenie, Herzvitien („single ventricle“, Pulmonalstenose) möglich, aber nicht gehäuft, Trommelschlegelfinger, pluriglanduläre Insuffizienz, Hyp- oder Anosmie.

Anästhesierelevanz

Im Vordergrund stehen Probleme im Zusammenhang mit der erhöhten Infektanfälligkeit und deren Langzeitfolgen.
Präoperative Abklärung
Thoraxröntgenaufnahme in 2 Ebenen, Lungenfunktionsprüfung, Röntgen der Kieferhöhlen (ggf. CT), Blutbild, Resistenzbestimmung bei aktuellen Infekten, Ausschluss eine Situs inversus vor jeder OP.
Wichtiges Monitoring
Pulsoxymetrie, Kapnographie, ggf. Blutgasanalysen, Beatmungsdrücke.
Vorgehen
Vor Anästhesien sollte eine Sanierung der Atemwege angestrebt werden, beispielsweise mit Atemgymnastik, Sekretmobilisation, Abhusten. Eine perioperative antibiotische Abschirmung ist notwendig, insbesondere bei Vorliegen von Herz- oder Gefäßanomalien.
Die erfolgreiche Verwendung von rückenmarknahen Regionalanästhesien wurde mittlerweile mehrfach beschrieben. Zwei Aspekte sind jedoch trotzdem zu beachten: die Gefahr einer septischen Absiedlung bei Epiduralkathetern und das gelegentliche Vorliegen einer Spina bifida occulta.
Bei peripheren operativen Eingriffen sollten periphere Regionalanästhesieverfahren bevorzugt werden.
Bei Allgemeinanästhesien sollte die Gelegenheit der Intubationsnarkose zu einer gründlichen Atemwegstoilette genutzt werden, ggf. unter fiberoptischer Kontrolle und Evaluation. Bei einseitigen Lungenabszessen sollte mit einem Doppellumentubus seitengetrennt intubiert werden (Vorsicht bei Situs inversus!).
Das Beatmungsmuster ist an die erhöhte Gefahr von Barotraumen anzupassen (z. B. Druckbegrenzung). Techniken mit leistungsfähiger Atemgasbefeuchtung und Anwärmung („Low-flow“-Anästhesie mit Rückatmung, Befeuchter) sollten bevorzugt werden.
Auf N2O sollte verzichtet werden, da es in abgeschlossenen Hohlräumen (Mittelohr, Nasennebenhöhlen) zu exzessivem Druckanstieg kommen kann, der massive postoperative Schmerzen verursacht.
Pharmaka mit antitussiva Wirkung, wie Opioide oder Cholinesterasehemmer, sollten zurückhaltend eingesetzt werden. Hier empfiehlt sich aufgrund der kurzen Halbwertszeit der perioperative Einsatz von Remifentanil.
An den Situs inversus ist bei der EKG-Interpretation (Elektroden „seitenverkehrt“ kleben), bei Bronchoskopien und beim Legen von Doppellumentuben, zentralen Venenkathetern (bevorzugt über rechte V. jugularis interna), Pulmonalarterienkathetern und Thoraxdränagen zu denken. Defibrillator-Paddles bei Situs inversus spiegelbildlich aufsetzen, Rechtsseitenlage von Schwangeren mit Situs inversus zur Vermeidung des Kavakompressionssyndroms.
Cave
Nasotracheale Intubation, N2O (relative Kontraindikation), Cholinesterasehemmer, rückenmarknahe Katheteranästhesien bei Septikämie und Spina bifida.
Weiterführende Literatur
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