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Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 12.02.2019

Lambert-Eaton-Rooke-Syndrom

Lambert-Eaton-Rooke-Syndrom.
Synonyme
Eaton-Lambert-Sy; Pseudomyasthenie; engl. „Lambert-Eaton syndrome; Eaton-Lambert myasthenic syndrome; Lambert-Eaton myasthenic syndrome; Myasthenic myopathic syndrome of Lambert-Eaton“.
Oberbegriffe
Dystone Myasthenie-Ss, Erkrankung der neuromuskulären Übertragung, paraneoplastisches Sy, Autoimmunerkrankung.
Organe/Organsysteme
Neuromuskuläre Endplatte, Muskulatur, Mediastinum, Thoraxorgane, vegetatives (autonomes) Nervensystem.
Inzidenz
1:100.000, 2- bis 5-mal häufiger Männer als Frauen; Relation ändert sich im Verhältnis mit zunehmender Inzidenz von kleinzelligem Lungenkrebs bei Frauen.
Ätiologie
Die Erkrankung tritt als paraneoplastisches Syndrom im Zusammenhang mit mediastinalen Tumoren (z. B. Lymphosarkom) oder kleinzelligen Bronchialkarzinomen auf. Damit kann es auch ein erster Hinweis auf das Vorliegen eines Tumors sein. IgG-Autoantikörper werden in 50–90 % der Fälle nachgewiesen. Ein Autoimmunmechanismus ist ebenso möglich beim Vorliegen eines Sjögren-Sy, Autoimmunthyreoiditis, rheumatoider Arthritis. Der Defekt ist präsynaptisch (Antikörper gegen präsynaptische Kalziumkanäle (VGCC=„voltage gated calcium channels“) und beruht auf einer verminderten Freisetzung von Azetylcholin.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Erb-Goldflam-Sy, Denny-Brown-Sy, atypische Cholinesterase, Myasthenia gravis pseudoparalytica, McArdle-Sy, Polyneuritiden, Bulbärparalysen, Duchenne-Sy II, Lubarsch-Pick-Sy, Albright-Hadorn-Sy, Charcot-Sy II, Curschmann-Batten-Steinert-Sy, Montandon-Sy, Good-Sy, Guillain-Barré-Sy, Polymyositis, familiäres Hypokaliämie-Sy (familiäre periodische Lähmung), cholinerge Krise, Thyreotoxikose, Relaxans- und Opiatüberhang.

Symptome

Muskelschwäche (Myasthenie) mit vorwiegendem Befall des Schultergürtels und der oberen Extremität, Reflexminderung, posttetanische Faszikulationen. Ein typisches Phänomen ist, dass sich bei willkürlichen Bewegungen die vollständige Kraft erst nach einigen Sekunden ausbildet (zunächst langsame Azetylcholinansammlung im synaptischen Spalt=Lambert-Zeichen), bei andauernder Belastung dann jedoch kontinuierlich nachlässt. Im EMG liegt eine verminderte Kontraktionsamplitude vor.
Symptome des vegetativen Nervensystems: Konstipation, Harnverhaltung, Mundtrockenheit, Hypohydrosis, orthostatische Blutdruckschwankungen, Hyporeflexie, Gewichtsabnahme, Schluck- und Sprechstörungen, Störungen der Pupillenmotorik, Ptosis, Impotenz.
Vergesellschaftet mit
Kleinzellige Bronchialkarzinome, Adenokarzinome der Lungen und der Mamma, Prostata-, Magen- und Rektumtumoren und weitere tumorbedingte Veränderungen (Raumforderungen, Abmagerung, Hypoproteinämie, Anämie).
Therapie
Primär Therapie des auslösenden Tumors, damit häufig Besserung, ggf. 3,4-Diaminopyridin, Pyridostigmin, Immunglobuline, Immunsuppression durch Azathioprin, Kortikoide, Plasmapherese.

Anästhesierelevanz

Aufgrund einer „Up-Regulation“ der Azetylcholinrezeptoren an der neuromuskulären Endplatte liegt eine Überempfindlichkeit auf alle Arten von Muskelrelaxanzien vor. Es kann zu einer (bis zu Tagen!) anhaltenden Nachwirkung kommen. Die vegetativen Symptome sollten beachtet werden und nicht durch Medikamente wie Atropin, Cholinesterasehemmer etc. verstärkt werden.
Wichtiges Monitoring
Pulsoxymetrie, Kapnographie, Volumetrie, Relaxometrie, Temperatur.
Vorgehen
Um Probleme mit der Muskelrelaxation zu vermeiden, sollten Regional- oder Lokalanästhesietechniken bevorzugt werden. Ist eine Allgemeinanästhesie unvermeidlich, sollte die Dosierung der Relaxanzien dem Bedarf individuell angepasst werden. Das erfordert eine „titrierende“ Vorgehensweise unter ständiger Wirkungskontrolle (Relaxometrie). Nur kurzwirksame Relaxanzien verwenden (Succinylcholin, Atracurium, Vecuronium, Mivacurium). Gegebenenfalls muss eine längere Nachbeatmung durchgeführt werden.
Beachte
Antagonisierungs- oder Therapieversuche mit Cholinesterasehemmern bleiben relativ wirkungslos (postsynaptischer Wirkort) und haben nur parasympathikomimetische Nebenwirkungen, die mit vorbestehenden Störungen des autonomen Nervensystems interferieren können. Darüber hinaus besteht die Gefahr einer cholinergen Krise. Zunahme der Muskelschwäche durch Antibiotika, Magnesium, Kalziumantagonisten, Jodkontrastmittel, Kumarinderivate, erhöhte Körpertemperatur.
Cave
Relaxansüberhang, postoperative „awareness“ bei fortbestehender Relaxation, arterielle Hypotonie, Atropin, Scopolamin, Cholinesterasehemmer, Temperaturanstieg.
Unerwartet lange Wirkzeiten von Muskelrelaxanzien dürfen nicht nur an Cholinesterasemangel denken lassen sondern auch an Lambert-Eaton-Syndrom mit bisher undiagnostiziertem Tumor!
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