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Multiples Endokrinopathiesyndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Uta Emmig, Dierk A. Vagts und Peter Biro
Multiples Endokrinopathiesyndrom.
Synonyme
MEN-Sy (multiple endokrine Neoplasie); Wermer-Sy (MEN Typ 1), Sipple-Sy (MEN Typ 2A), Gorlin-Sy (MEN Typ 2B)
Oberbegriffe
Endokrinopathie.
Organe/Organsysteme
Schilddrüse und Nebenschilddrüsen, Pankreas, Nebenniere, neuroendokrines System, Hypophyse, Bindegewebe.
Ätiologie
Bei beiden Varianten ist ein autosomal-dominanter Vererbungsmodus vorhanden. Inzidenz ca. 1:50.000. Beim Wermer-Sy wurde die Mutation am MEN 1-Gen nachgewiesen, welche das Tumor-Suppressor-Enzym Menin kodiert. Beim Sipple-Sy (Typ 2A) liegt eine Mutation am RET-Protoonkogen auf Chromosom 10 mit hoher Penetranz und unterschiedlicher Expressivität vor. Die Therapie besteht in der Regel in der Entfernung auftretender Tumoren.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Glomustumoren, Phäochromozytom, Morbus Recklinghausen, Diabetes mellitus und Hyperparathyreoidismus, Zollinger-Elison-Sy.

Symptome

Die multiplen Endokrinopathie-Ss sind charakterisiert durch ein variables Kombinationsmuster von Erkrankungen. Leittumor des Typ 1 (Wermer-Sy) ist in der Regel eine Neoplasie der Inselzellen im Pankreas. Vermehrt sezernierte Hormone sind pankreatisches Polypeptid (90 % der Fälle), Gastrin (Zollinger-Ellison-Syndrom, 60 % der Fälle), Insuline (Insulinom, 30 % der Fälle), seltener Glukagon, vasoaktives Peptid oder Somatostatin Symptome sind Flushs, Diarrhoen, Magenulcera, Blutzuckerentgleisungen, Kreislaufinstabilitäten.
In 90 % der Fälle findet sich außerdem ein primärer Hyperparathyreoidismus, der klinisch mit Hyperkalzämie, Herzrhythmusstörungen, Magenulzera, Pankreatitis, Nierensteinen und Nierenfunktionsstörungen sowie zentralnervösen Symptomen wie Lethargie und Verwirrtheit manifest werden kann. Auch Hypophysentumoren und Karzinoide des Bronchialsystems können vorliegen.
MEN-Sy Typ 2A und 2B sind durch das medulläre (C-Zell-)Schilddrüsenkarzinom als Leittumor charakterisiert, welches Calcitonin sezerniert. Bei 50 % der Patienten liegt ein Phäochromozytom vor. 20 % der Typ 2A-Patienten (Sipple-Sy) sind zusätzlich an einem primären Hyperparathyreoidismus erkrankt. Bei Patienten mit Gorlin-Sy (MEN Typ 2B) liegt häufig eine Ganglioneuromatose vor mit Neurofibromen im Bereich des Gesichts (Augenlider, Lippen, Zunge), der Nasengänge, des Larynx, ferner im Bereich des Intestinums. Zusätzlich kann ein marfanoider Habitus auffallen.
Über die Hälfte der Patienten verstirbt vor dem 50. Lebensjahr.
Vergesellschaftet mit
Diabetes mellitus, Cushing-Sy, Karzinoid-Syndrom.

Anästhesierelevanz

Neben der Exstirpation des Adenoms ist die Entfernung des gesamten Organs ein häufiger operativer Eingriff, so z. B. die Thyreoidektomie aus kurativer oder prophylaktischer Indikation (bei Vorliegen des MEN 2B-Sy mit Nachweis des mutierten Präonkogens). Die jeweils im Vordergrund stehende endokrine Dysfunktion ist bei der Anästhesiedurchführung zu berücksichtigen.
Spezielle präoperative Abklärung
Bei beiden Formen des MEN-Sy kommt einer umfangreichen präoperativen endokrinen Diagnostik in interdisziplinärer Zusammenarbeit die größte Bedeutung zu.
Wichtiges Monitoring
Standardmonitoring, Invasive arterielle Blutdruckmessung, eventuell erweitertes kardiales Monitoring (TEE/PICCO), Temperatur, Blutzucker, Elektrolyte.
Vorgehen
Bei Patienten mit einem marfanoiden Phänotyp muss mit Intubationsproblemen gerechnet werden, so dass die elektive fiberoptische Intubation vorzusehen ist.
Mit erschwerter Atemwegsicherung sollte auch bei Patienten gerechnet werden, die sich einer totalen oder subtotalen Strumektomie unterziehen müssen. Eine adäquate postoperative Überwachung ist hier unbedingt vorzusehen wegen des Risikos schwerwiegender Atemwegsverlegungen im Rahmen von akuten Nachblutungen oder Recurrensparesen.
Management von Patienten mit Hyperparathyreoidismus und Hyperkalzämie: Auf ausreichende Volumenzufuhr und Diurese achten. An das mögliche Auftreten von Herzrhythmusstörungen denken (Verkürzung des QT-Intervalls). Bei Vorhandensein von gastrointestinalen Symptomen ist eine „Rapid Sequence Induction“ zu erwägen. Vorsichtige Lagerung bei Osteoporose zur Vermeidung pathologischer Frakturen.
Insulinom: Das Hauptaugenmerk muss auf die kontinuierliche Überwachung des Glukosespiegels gerichtet werden. Lange Nüchternzeiten sind zu vermeiden bzw. eine ausreichende Glukosezufuhr ist perioperativ sicherzustellen. Aufgrund der langen Gewöhnung ist es hilfreich, anamnestisch zu ermitteln, ab welchen hypoglykämischen Werten die Patienten symptomatisch werden. Bei bestehender Adipositas ist mit entsprechenden kardiovaskulären Begleiterkrankungen zu rechnen.
Hypophysenadenom: Sowohl bei einer Akromegalie infolge von erhöhter Somatotropin-Sezernation als auch bei einem Cushing-Syndrom infolge vermehrter ACTH-Produktion muss mit einer erschwerten Atemwegssicherung gerechnet werden (s. auch Kap. „Cushing-Syndrom“).
Karzinoid-Tumoren: Somatostatin oder das synthetische Analogon Octreotid können die Symptome Diarrhö, Hypo- und Hypertension, Flush, Bronchospasmus sowie Rechtsherzbelastung perioperativ in mehr als 70 % der Fälle effektiv reduzieren. Eine präoperative Therapie mit H1- und H2-Antagonisten, ggf. auch Kortikosteroide oder Serotoninblocker zur Milderung der Symptomatik kann erwogen werden, allerdings ist der Therapieerfolg oft unzureichend. Anästhetika mit sympathoadrenergen Nebenwirkungen (Ketamin, Pancuronium) oder histaminergen Effekten (Morphin, Pethidin, Atracurium, Mivacurium, Succinylcholin) sollten vermieden werden. Während der chirurgischen Manipulation kann eine Karzinoidkrise mit Bronchospasmus und schwerer Kreislaufinstabilität bis zum akuten Herzversagen auftreten. Therapie der Wahl ist die Gabe von Octeotrid 10–20 mg i.v., cave: Katecholamine können eine weitere Mediatorenfreisetzung und Aggravierung der Krise bewirken. Bei Bronchospasmus sind Ipratropiumbromid, Kortikosteroide und Antihistaminika indiziert.
Bei Vorliegen eines Phäochromozytoms ist präoperativ eine medikamentöse α-(u. U. auch β-) Sympathikolyse über mindestens 7–14 Tage notwendig, um normotensive Kreislaufverhältnisse zu erreichen. Für Patienten mit katecholaminproduzierenden Tumoren (Phäochromozytom, Neuroblastom, Ganglioneurom) wird präoperativ eine kräftige Sedierung empfohlen. Bei der Narkoseeinleitung sind alle Stressfaktoren wegen der Gefahr einer weiteren Katecholaminausschüttung zu vermeiden. Chirurgische Manipulation am Tumor kann ebenfalls exzessiv Katecholamine freisetzen und hypertensive Krisen auslösen. Zur Therapie sind Natriumnitroprussid, Esmolol, Nitroglyzerin, Phentolamin geeignet und sollten bereitgestellt sein. Neben einer adäquaten Anästhesietechnik ist eine gut dosierte und gesteuerte Infusionstherapie wesentlich; insbesondere droht nach Wegfall des erhöhten Sympathikotonus eine schwer zu beherrschende Hypotension aufgrund der oftmals vorliegenden maskierten Hypovolämie. Nach der Tumorentfernung und unmittelbar postoperativ ist daher auf eine adäquate Infusionstherapie zur Prophylaxe hypotensiver Krisen zu achten (s. auch Kap. „Phäochromozytom“).
Frühzeitig einen Intensivüberwachungsplatz für den Patienten vorsehen.
Cave
Stressfaktoren, Hypovolämie, Hyper- bzw. Hypoglykämien, Katecholamine. Durch ein Karzinoid-Syndrom ausgelöste Symptome können sich nach Therapie eines Bronchospasmus mit β-Sympathikomimetika verstärken!
Weiterführende Literatur
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