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Nager-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Nager-Syndrom.
Synonyme
Nager-de-Reynier-Sy; engl. „Nager acrofacial dysostosis, Nager acrodental dysostosis“; präaxiale Akrodysostose, NAFD
Oberbegriffe
Dysmorphie-Ss, kraniomandibulofaziale Missbildungen, okulodentale Ss, Kieferbogen-Ss, akrofaziale Dysostosen, Kieferbogen-Ss.
Organe/Organsysteme
Zunge, Unterkiefer, Oberkiefer, Gesichtsschädel, Extremitäten.
Inzidenz
Bisher sind weltweit ca. 100 Fälle publiziert worden.
Ätiologie
Unklar, wahrscheinlich heterogene Vererbung. Bei ca. 50 % der Patienten können heterozygote Mutationen im SF3B4-Gen nachgewiesen werden. Es gibt vage Hinweise auf einen Kausalzusammenhang mit höherem Vateralter. Eine familiäre Häufung kommt vor.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Smith-Theiler-Schachenmann-Sy, Aglossie-Adaktylie-Sy, Möbius-Sy, oroakrales Sy, Stickler-Sy, Pierre-Robin-Sy, Edwards-Sy, Mohr-Sy, Roberts-Sy, Franceschetti-Zwahlen-Sy, Berry-Sy, Thomson-Komplex, Treacher-Collins-Sy, Trisomie 18, TAR-Sy (engl. „thrombocytopenia-absent radius syndrome“).

Symptome

Am Schädel ähnelt die Symptomatik derjenigen des Treacher-Collins-Sy, allerdings mit einer etwas schwächeren Ausprägung: Typischer Gesichtsausdruck: „Vogelgesicht“, „Fischmaulphysiognomie“, Mandibulahypoplasie, Mikrogenie, antimongoloide Lidachse, Unterlidkolobom, Makrostomie, hoher und enger Gaumen, Hypoplasie der Maxilla (Mikrognathie) und des Jochbeins (teils Agenesie), Ohrmissbildungen (Hypoplasie oder Aplasie der Ohrmuscheln, Aurikularanhänge, Gehörgangsatresie, Taubheit), Zahnstellungsanomalien. Entwicklungsfehlbildung des radialen oberen und des tibialen unteren Extremitätenstranges. Obligat ist eine Hypoplasie oder Aplasie des Daumens. Radioulnare Synostosen.
Vergesellschaftet mit
Rippen- und Wirbelanomalien, geistige Entwicklungsstörung (sehr selten), Choanalatresie, Spaltbildungen, Mikrophthalmie, HWS-Missbildungen, Kryptorchismus, Herzvitien und v. a. verengte und vielfältig dysmorphe Atemwege. Im Neugeborenenalter häufig gravierende respiratorische Beeinträchtigungen sowie Ernährungsschwierigkeiten, welche chirurgische Eingriffe wie eine Tracheotomie oder Gastrostomie erfordern können.

Anästhesierelevanz

Die wesentliche anästhesiologisch relevante Besonderheit ist die Anatomie des Gesichts und der Halsorgane und der damit verbundene erschwerte Zugang zu den Atemwegen. Patienten mit diesem Syndrom und dem sehr ähnlichen Pierre-Robin-Sy gehören zu den am schwierigsten zu intubierenden Fällen. Gleichfalls ist das Zustandebringen einer guten Masken(be)atmung sehr schwierig. Die Malformationen führen häufig zu respiratorischen Infekten.
Spezielle präoperative Abklärung
Röntgenaufnahmen des Gesichts und der Halsorgane a.-p. und seitlich, Ausschluss zusätzlicher kardialer Risikofaktoren (Echokardiografie). Wegen der häufigen Aspirationspneumonien v. a. im Säuglingsalter Thoraxröntgenaufnahme. Infektparameter.
Wichtiges Monitoring
Pulsoxymetrie, Kapnographie.
Vorgehen
Geeignetes Instrumentarium für die Sicherung der Atemwege bereitstellen. Intubation nur durch sehr Erfahrene. Geistig retardierte, schwerhörige Patienten sind in der Regel nicht kooperativ genug für eine wache fiberoptische Intubation, diese Methode kann jedoch mit einer adäquat titrierten Analgosedierung kombiniert werden. Wenn eine Maskenatmung möglich ist, kann „per inhalationem“ begonnen werden, um in ausreichend tiefer Narkose mit erhaltener Spontanatmung geeignete Intubationstechniken anzuwenden.
Eine Einleitung mit Ketamin ist möglich, bei Hypersalivation und larynxnahen Manipulationen können jedoch Schwierigkeiten (Laryngospasmus, Schwellung) entstehen. Ein schnelles Ausweichen auf Larynxmaske mit gegebenenfalls nachfolgender fiberoptischer Intubation über die liegende Larynxmaske ist sinnvoll. Retrograde Intubation, translaryngotracheale O2-Insufflation bzw. Jetventilation sind einer Notkoniotomie oder Nottracheotomie vorzuziehen. Die retrograde Intubation kann insbesondere in Kombination mit fiberoptischer Unterstützung unter Lokalanästhesie durchgeführt werden. Eine Intubation über Videolaryngoskopie gelingt am ehesten mit dem D-Blade des C-MAC® von Storz, welcher stärker gekrümmt ist. Während der Einleitung muss die Atemluft mit Sauerstoff angereichert werden (Pulsoxymetrie). Zur Bestätigung einer korrekten trachealen Intubation Kapnometrie einsetzen.
Rückenmarknahe Anästhesieverfahren sollten erst nach dem sicheren Ausschluss einer Wirbelsäulenmalformation in Betracht gezogen werden.
Postoperativ besteht eine erhöhte Gefahr von respiratorischen Störungen v. a. durch Atemwegsobstruktion. Dies beruht auf einer Rückfalltendenz der Zunge (Retroglossie, Glossoptose) oder wegen Choanalatresie.
Eine länger dauernde postoperative Überwachung und Nachbeatmung können bei Relaxansüberhang und bis zur Wiederkehr der Schutzreflexe angebracht sein.
Eine Ketaminanästhesie bei erhaltener Spontanatmung und nicht gesicherten Atemwegen ist wegen der Tendenz der Zunge, auf die Glottis zurückzufallen und einen Atemstillstand auszulösen, gefährlich.
Cave
Obstruktion der oberen Atemwege, Relaxation ohne Sicherung der Atemwege.
Weiterführende Literatur
Groeper K, Johnson JO, Braddock SR, Tobias JD (2002) Anaesthetic implications of Nager syndrome. Pediatr Anesth 12:365–368CrossRef
Ho AS, Aleshi P, Cohen SE et al (2008) Airway management in Nager syndrome. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 72:1885–1888CrossRefPubMed
Lean LL, King C (2016) Use of the C-MAC® adult D blade in paediatric patients with Nager syndrome. Anaesth Intensive Care 44:647–648PubMed
Wieczorek D (2013) Human facial dysostoses. Clin Genet 83:499–510CrossRefPubMed