Anästhesie bei seltenen Erkrankungen
Info
Verfasst von:
Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Publiziert am: 01.01.2023
Synonyme
Ehrmann-Sneddon-Syndrom; Livedo racemosa apoplectica; Livedo racemosa generalisata mit zerebrovaskulären Ereignissen; Livedo racemosa generalisata; Livedo reticularis mit zerebrovaskulären Störungen; Livedo reticularis
Oberbegriffe
Antiphospholipidantikörper, Hirninfarkte, Thromboseneigung.
Organe/Organsysteme
Systemische Erkrankung, die alle Organe betreffen kann, immer jedoch Haut und zentrales Nervensystem.
Inzidenz
Seit 1965 sind weltweit ca. 200 Kasuistiken publiziert worden, aber die Prävalenz liegt mit Sicherheit wegen nicht erkannter Fälle höher. Das Leiden wurde in 0,27 % der Fälle von 3000 Patienten festgestellt, die wegen zerebrovaskulärer Erkrankungen ins Krankenhaus aufgenommenen wurden. In Deutschland rechnet man mit ca. 1000–1500 Fällen. 60–80 % der Patienten sind Frauen im Alter von 30–40 Jahren, geschätzte Inzidenz 1:250000 pro Jahr. Die Krankheit wird häufig erst spät erkannt!
Ätiologie
Nicht-entzündliche thrombotische Vaskulopathie. Die Ätiologie ist bisher ungeklärt, es wird jedoch ein autoimmunologisches Geschehen angenommen, 50 % idiopathisch. Vermutet wird, dass Antiphospholipidantikörper thrombembolische und zellproliferative Veränderungen im Bereich von Endothelzellen verursachen, die ihrerseits zu Stenosierungen oder Verschlüssen von Arterien und Arteriolen in verschiedenen Organsystemen – schwerpunktmäßig der Haut und dem zentralen Nervensystem – führen. Eine genetische Ursache wird angenommen. Kreuzreaktivitäten durch Antigenverwandschaft bei systemischem Lupus erythematodes, Syphilis, Borreliose und Periarteriitis nodosa, dem Antiphospholipid-Syndrom, der Behçet-Krankheit und der gemischten Bindegewebs-Erkrankung werden ebenfalls ursächlich in Betracht gezogen.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Die Diagnose erfordert die Differenzierung von anderen Erkrankungen mittels klinischer und laborchemischer Tests. Die histologische Untersuchung der Haut zeigt eine Endothelitis, subendotheliale Zellproliferation und Fibrose im fortgeschrittenen Zustand. Die Diagnose des Sneddon-Sy kann auf jeden Fall nicht gestellt werden, wenn eine Arteriitis oder Thrombophilie vorliegen.

Symptome

Primäres Erscheinungsbild ist eine Hauterkrankung, die in Kombination mit neurologischen Ausfällen als Livedo racemosa generalisata mit bläulichen oder rot-braunen Gefäßzeichnungen auftritt. Diese ist ein systemisches Gefäß-Sy, das im Wesentlichen an Beinen, Oberarmen, Gesäß und Rücken auftritt. Es ist durch bläuliche oder braun-rote Hautzeichnungen gekennzeichnet und tritt gehäuft bei Kälte auf. Der Übergang zur gesunden Haut ist fließend. Eine Schwangerschaft kann zur Erstmanifestation beitragen oder das Krankheitsbild verschlimmern.
Neurologische Symptome: rezidivierende transitorische ischämische Attacken (TIA), Infarkte des mittleren zerebralen Arterienbereichs (kontralaterale Hemiparese, Aphasie und/oder Gesichtsfeldausfällen), seltener auch Rückenmarkinfarkte oder intrakranielle oder subarachnoide Hämorrhagien, Anfälle, Chorea und Myelopathien. Unklare Kopfschmerzen und Schwindelgefühl können über Jahre vorliegen, im Verlauf Demenz und Gedächtnisstörungen.
Vergesellschaftet mit
Risikofaktoren sind Arteriosklerose wie arterielle Hypertonie, Nikotinabusus, Einnahme von oralen Kontrazeptiva und Hyperlipidämie. Diese gelten auch als Triggerfaktoren für den Ausbruch der Krankheit. Koexistent sind außerdem häufig Aortenvitien, arterielle Verschlusskrankheit, Raynaud-Sy, chronische Pyelonephritiden und eine erhöhte Abortrate.
Therapie
Die Pharmakotherapie beruht auf den 3 Säulen:
1.
Verminderung der Gefahr thromboembolischer Komplikationen durch Antikoagulation mit Ticlopidin, Azetylsalicylsäure, Azetylsalicylsäure plus Dipyridamol, Heparinisierung oder Phenprocoumonderivaten.
 
2.
Hemmung der Proliferation von subendothelialen Mediamyozyten und Endothelzellen durch die Gabe von ACE-Hemmern wie Captopril oder von Prostaglandin E1.
 
3.
Verbesserung der Mikrozirkulation durch Prostaglandin-E1-vermittelte mikrovaskuläre Vasodilatation.
 

Anästhesierelevanz

Generell besteht eine erhöhte Thromboseneigung, häufig auch ohne auffällige Gerinnungsparameter.
Spezielle präoperative Abklärung
Kardiale Belastbarkeit abklären, ggf. eingehendere Untersuchungen wie Echokardiographie, um mögliche Herzklappenvitien auszuschließen bzw. zu erkennen. Vorbestehende kardiale und neurologische Risikofaktoren wie Myokardischämien und Infarkte sowie zerebrale Insulte sind zu klären. Auch für jüngere Patienten Thoraxröntgenaufnahme anfertigen.
Wichtiges Monitoring
Erweitertes hämodynamisches Monitoring entsprechend der klinischen Symptomatik und der vorbestehenden Befunde. Auch der erfolgreiche Einsatz eines Thrombelastogramms zur Überwachung der Gerinnung wurde beschrieben.
Vorgehen
Risikofaktoren für eine Thrombosierung wie Gefäßwandschäden, Hyperkoagulabilität und Stase in den Gefäßen (auf Lagerung achten, Hämatokrit um 30 %) müssen minimiert werden. Bei der Narkoseführung muss kontinuierlich auf ausreichende Perfusionsdrücke der Koronarien und der zerebralen Arterien, aber auch auf die Vermeidung von hypertensiven Phasen geachtet werden. Die Auswahl der Narkosemedikamente muss eine gute Steuerbarkeit der Narkose ermöglichen, um eine hämodynamische Stabilität zu gewährleisten. Hierfür bieten sich in erster Linie Sevofluran und Desfluran als moderne volatile Anästhetika an.
Postoperativ muss aufgrund der weiterbestehenden hohen Thrombosegefahr und Embolieneigung für eine engmaschige intensive Überwachung gesorgt werden.
Cave
Lagerung, Hypotension.
Weiterführende Literatur
Beleña JM, Nuñez M, Cabeza R, Puig A (2004) Sneddon’s syndrome and anaesthesia. Anaesthesia 59:622CrossRef
Devos J, Bulcke J, Degreef H, Michielsen B (1992) Generalized livedo reticularis and cerebrovascular disease. Importance of hemostatic screening. Dermatology 285:296–299CrossRef
Große Aldenhövel HB (1990) Das Sneddon-Syndrom. Diagnostische, ätiologische und therapeutische Gesichtspunkte. Schweiz Rundschau Med 79:726–729
Heesen M, Rossaint R (2000) Anaesthesiological considerations in patients with Sneddon’s syndrome. Paediatr Anaesth 10:678–680CrossRef
Köner O, Günay I, Cetin G, Celebi S (2005) Mitral valve replacement in a patient with Sneddon syndrome. J Cardiothorac Vasc Anesth 19:661–664CrossRef
Macario F, Macario MC, Ferro A et al (1997) Sneddon’s syndrome: a vascular systemic disease with kidney involvement? Nephron 75:94–97CrossRef
Schellong SM, Weissenborn K, Niedermeyer J et al (1997) Classification of Sneddon’s syndrome. Vasa 26:215–221
Stephens CJ (1992) Sneddon’s syndrome. Clin Exp Rheumatol 10:489–492
Ulukaya S, Makay O, Icoz G et al (2008) Perioperative management of Sneddon syndrome during thyroidectomy. J Clin Anesth 20:458–461CrossRef
Vagts DA, Arndt M, Nöldge-Schomburg GFE (2003) Perioperatives Management bei Patientin mit Sneddon-Syndrom – Eine Kasuistik. Anaesthesiol Reanim 28:74–78
Wohlrab J, Fischer M, Marsch WC (2001) Aktuelle Therapie des Sneddon-Syndroms. Dtsch Med Wochenschr 126:758–760CrossRef
Wu S, Xu Z, Liang H (2014) Sneddon’s syndrome: a comprehensive review of the literature. Orphanet J Rare Dis 9:215. https://​doi.​org/​10.​1186/​s13023-014-0215-4CrossRef