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Maligne Hyperthermie (MH)

Verfasst von: Dierk A. Vagts, Uta Emmig, Heike Kaltofen und Peter Biro
Synonyme
Familiäres Narkose-Hyperthermie-Sy; maligne Hyperpyrexie; engl. „malignant hyperthermia, human stress syndrome“
Oberbegriffe
Myopathie, anästhesiespezifische Komplikation, pharmakogenetische Erkrankung, Idiosynkrasie.
Organe/Organsysteme
Muskulatur, Bewegungsapparat, Stoffwechsel, Herz-Kreislauf-System.
Inzidenz
Dies ist eine Zusammenfassung der verfügbaren Daten zur Inzidenz:
  • 1:3.000 ist die Prävalenz der genetischen Trägerschaft für eine MH.
  • 1:4.200 Verdacht auf abgelaufene MH-Episode bei Anwendung von Triggersubstanzen und 1:16.000 generell auf Allgemeinanästhesien.
  • 1:150.000 bei Kindern in Nordamerika.
  • 1:50.000 bis 150.000 bei Erwachsenen in Nordamerika.
  • 1:60.000 in Deutschland.
  • 1:62.000 fulminante Krisen auf Allgemeinanästhesien mit Triggersubstanzen und 1:220.000 auf Allgemeinanästhesien generell in Dänemark.
  • 1:250.000 für alle Altersklassen und Anästhesieverfahren.
  • Etwa 6,5 % aller erfassten MH-Fälle verlaufen fulminant. Die Mortalität lag ursprünglich bei 70–80 %, seit Einführung des Dantrolens 1979 ist sie bei <5 %.
Ätiologie
Hereditär mit autosomal-dominantem Erbgang und nachweisbarer familiärer Häufung. Der für MH spezifische Genlokus ist das Ryanodinrezeptorsubtyp-1-Gen (RYR1), wovon 35 identifizierte Subtypen eine MH-Disposition verursachen. Ein weiterer Genlokus befindet sich auf dem Gen CACN1AS (<2 % der symptomatischen Patienten). Häufig kann jedoch bei MH-symptomatischen Patienten, die einen positiven in vitro-Halothan-Kontraktionstest aufweisen, keine pathologische RYR1- bzw. CACN1AS-Mutation nachgewiesen werden, sodass auch andere, bisher unbekannte Mechanismen eine Rolle spielen müssen. Der Pathomechanismus beruht auf einer gestörten Kalziumwiederaufnahme in das sarkoplasmatische Retikulum der Muskelzelle. Das führt zu einer extremen Steigerung der aeroben und anaeroben Stoffwechselprozesse, welche in der Muskulatur eine massive Rhabdomyolyse nach sich ziehen kann und potenziell lebensbedrohlich ist.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Malignes neuroleptisches Sy, King-Sy, Broadbent-Sy, Karnitin-Palmityl-Transferase-Mangel, Hyperpyrexie-Sy des Säuglings, Ombredanne-Sy, Irritations-Sy des Mesodienzephalons, akute febrile Katatonie, zentral-anticholinerges Sy, Hyperthyreose, Tetanie, Enzephalopathien, malignes Dopa-Entzugs-Sy (bei Unterbrechung der Parkinson-Therapie), Phäochromozytom, subdurale Kontrastmittelinjektion, Propofol-Infusions-Sy, serotonerges Sy, engl. „central core disease“.

Symptome

Merkmalträger sind weitgehend unauffällig, jedoch anfallgefährdet, sobald sie Triggersubstanzen ausgesetzt sind. Relativ unsichere Indizien für eine MH-Prävalenz sind: spontane Muskelkrämpfe, Ptose, Strabismus, Hypermotilität der Gelenke, Trismus, Fieber und Myoglobinurie bei Anstrengung.
Frühere Anästhesien mit Exposition zu Triggersubstanzen sind keine Garantie dafür, dass keine MH-Prävalenz vorliegt bzw. eine MH-Episode ausgeschlossen ist; es wird von Fällen berichtet, nach denen eine fulminante MH-Krise erst bei der 9. Anästhesie stattgefunden hat. Das bedeutet, dass ein anamnestischer Verdacht zwingend zur triggerfreien Anästhesie verpflichtet, es sei denn, ein genetischer Test schließt eine MH-Prävalenz aus.
Labor
Eine erhöhte CK (CPK) kann ein Hinweis auf eine MH-Gefährdung sein, allerdings sind bei unverdächtigen Personen (MHN: „MH non-susceptible“) 10 % pathologische Werte zu finden. Beweisend ist ein positiver In-vitro-Koffein-Kontraktionstest unter Halothan (MHS: „MH susceptible“), wenngleich es ca. 10–15 % unklare Ergebnisse (sog. MHE: „MH equivocal“) gibt mit einem kleinen Rest potenziell falsch-negativer Aussage (Sensitivität: 97–99 % in Europa, 97 % in den USA. Spezifität 93,6 % in Europa, 78 % in den USA) (Symptome und Laborparameter, s. Tab. 1).
Tab. 1
Gegenüberstellung der Symptome und Laborparameter des malignen neuroleptischen Sy (MNS), der malignen Hyperthermie (MH) und des Serotonin-Sy (nach Gerbershagen et al. 2001)
Symptome
MNS
MH
Serotonin-Sy
Schnelligkeit der Manifestation
+++
++
++
+++
++
Muskelrigidität
+++
+++
+
Kreatinkinase-Anstieg
+++
+++
+
Myoglobinurie
++
+++
+
Rhabdomyolyse
++
+++
++
Tachykardie
++
+++
+
Hämodynamische Veränderungen
+
++
+
Tachypnoe/Hyperkapnie
++
+++
+
Verhaltensveränderung
++
(+)
+++
Bewusstseinsveränderung
+++
(+)
+++
Leukozytose
+
+++
Kloni
+++
Zittern
+++
Tremor
+++
Die CGS „clinical grading scale“ hilft, das Risiko einer MH-Disposition abzuschätzen, erfordert aber eine ganze Reihe von Befunden, die nicht immer verfügbar sind. Dadurch tendiert sie zur „Unterschätzung“ des MH-Risikos und ist kein akzeptabler Ersatz für den aufwendigen In-vitro-Koffein-Kontraktionstest.
Vergesellschaftet mit
Bei 30–50 % der Patienten mit MH-Disposition lassen sich überwiegend unspezifische pathologische Befunde am Skelettmuskel nachweisen.
Unstrittig assoziiert sind genetisch für eine MH-Disposition determinierte Muskelerkrankungen: Zentralfibrillenmyopathie („central core disease“), Multiminicore disease, King-Denborough-Sy.
Häufig assoziiert sind: familiäre periodische Lähmung, Myotonia congenita, Muskeldystrophie Duchenne bzw. Becker, Arthrogryposis, Osteogenesis imperfecta; gelegentlich: Hernien, lymphatische Leukämie, Strabismus. Möglicherweise handelt es sich im Zusammenhang mit diesen Krankheitsbildern um einen der MH ähnlichen klinischen Verlauf (Rhabdomyolyse) ohne Entwicklung einer hypermetabolen Kaskade. Die endgültige Klärung dieser Sachverhalte steht noch aus.
Das maligne neuroleptische Syndrom führt ebenfalls zu einer ähnlichen Symptomatik, ausgelöst durch eine zentrale dopaminerge Stoffwechsellage.
Unabhängig von Anästhesien treten in MH-Familien häufiger Kardiomyopathien und kardial bedingte Todesfälle auf.

Anästhesierelevanz

Die Auslösung eines MH-Anfalls geschieht durch MH-Triggersubstanzen wie Succinylcholin und volatile Anästhetika, möglicherweise in seltenen Fällen auch durch Stress. Die experimentell nachweisbaren Unterschiede bezüglich Triggerschwelle unter den volatilen Anästhetika (stärkster Trigger ist Halothan) spielen klinisch keine Rolle und ändern nichts an der generellen Kontraindikation der gesamten Gruppe. Neuerdings wird auch Cresol, ein häufig verwendeter Konservierungsstoff in verschiedenen Arzneimitteln wie Succinylcholin, Insulin, Heparin, inhalativen Bronchospasmolytika und diversen Hormonpräparaten verdächtigt, in hohen Konzentrationen MH-Krisen zu triggern. Alkohol, Ecstasy und Kokain sowie extreme körperliche Anstrengung und Stress können ebenfalls als Trigger wirken.
Dass Lokalanästhetika vom Amidtyp als Trigger wirken können, wird heute überwiegend verneint. Medikamente, die nach aktuellem Wissensstand nicht verabreicht werden sollten, sind: Atropin, Methoxyfluran, Cyclopropan, Neuroleptika (insbesondere im Zusammenhang mit dem malignen neuroleptischen Sy), Dekamethonium, Gallamin, d-Tubocurarin, Phenothiazine, MAO-Hemmer und trizyklische Antidepressiva. Ketamin gilt nicht als Triggersubstanz, aufgrund seiner sympathikoadrenergen Stimulation kann die Kreislaufsymptomatik bei prädisponierten Personen zu diagnostischer Unsicherheit führen.
Symptomatik des MH-Anfalls
Ausprägung und Verlauf des MH-Anfalls präsentieren sich sehr variabel. Primär fulminante MH-Krisen treten nur in ca. 6 % der Fälle auf. Häufig sind abortive Verlaufsformen, die aber ebenfalls eine konsequente Therapie erfordern, da sie sonst in eine fulminante Verlaufsform übergehen können.
Symptome: Tachykardie (ist mit 80 % häufigstes initiales Symptom), Hyperkapnie, marmoriertes Hautkolorit, Arrhythmien, Tachypnoe (bei Spontanatmung), Zyanose, Schwitzen, respiratorische und metabolische Acidose, Muskelrigor (v. a. der Kaumuskulatur, Masseterspasmus, Trismus), starke Fibrillation nach Succinylcholin, Hyperthermie (>1 °C/h; Hyperpyrexie, Fieber), Myoglobinämie, Myoglobinurie, Rhabdomyolyse, CK-(CPK-)Erhöhung, Verbrauchskoagulopathie, Gerinnungsstörung, akutes Nierenversagen, Hirnödem, Herzversagen.
Die mittlere Latenzzeit zwischen Exposition und dem Auftreten der ersten Symptomatik (die in der Regel nicht die Temperaturerhöhung ist!) liegt zwischen 0 bis ca. 180 min. Unter Verwendung von Isofluran oder Desfluran tritt eine MH-Krise im Mittel später auf als unter Sevofluran (110 min versus 45 min). Da bei sehr kurzen Eingriffen der Ausbruch der Symptomatik auch postoperativ erfolgen kann, wird bei Verdachtsfällen eine diesbezüglich aufmerksame postoperative Überwachung nach ereignislosen Anästhesien von mindestens 90 min empfohlen.
Wichtiges Monitoring
Bei MH-gefährdeten Patienten: kontinuierliche Temperaturmessung, Kapnographie, Pulsoxymetrie, Blutgasanalyse und Säure-Basen-Status, Diurese, Volumetrie bei Spontanatmung.
Bei MH-Krise: Anlage arterieller Kanüle und zentralvenöser Katheter sowie Blasendauerkatheter.
Laborchemische Bestimmung von BGA; Transaminasen und Nierenwerten, Gerinnungsparameter, CK, Kalium, Myoglobin, BZ.
Vorgehen beim MH-Anfall
Triggersubstanzen stoppen und i.v.-Anästhetika (total intravenöse Anästhesie) applizieren. FIO2 =1,0, maximal möglichen Frischgasfluss einstellen und Ventilation steigern, bis Normokapnie erreicht ist (2–3-faches Atemminutenvolumen), Anästhesieschläuche wechseln und Verdampfer entfernen, den Patienten großflächig kühlen. Magen-, Blasen- und evtl. Peritonealspülung mit kalten Lösungen. Operativen Eingriff zügig abschließen.
Therapie mit Dantrolen: 2–2,5 mg/kg Körpergewicht über 5 min, danach Dantroleninfusion weiter bis Symptomfreiheit bis zu einer Gesamtdosis von 10 mg/kg. Die frühestmögliche Therapie mit Dantrolen beeinflusst die Prognose entscheidend. Da die Symptomatik wieder aufflammen kann, wird für 24 Stunden eine kontinuierliche Applikation von Dantrolen (5–10 mg/kg/24 Std) empfohlen. Bezüglich Logistik im Therapiefall ist zu beachten, dass Dantrolen als Trockenpulver vorliegt und relativ viele Einheiten aufwendig aufzulösen sind. Dafür benötigt man zusätzliches Personal, welches sich um die Bereitstellung des Wirkstoffs zu kümmern hat.
Antiarrhythmische Behandlung (ggf. mit Amiodaron i.v., Betablocker). Kalziumantagonisten in Kombination mit Dantrolen sind kontraindiziert, da sie eine Hyperkaliämie verstärken können.
Korrektur des Säure-Basen-Haushalts mit Natriumbikarbonat bei pH <7,2, Diurese forcieren auf mindestens 1–2 ml/kg/h (Furosemid, Mannitol), Volumentherapie.
Behandlung der Hyperkaliämie mit Glucose-/Insulin-Infusion, Kalziumchlorid, Hämodialyse.
Intensivüberwachung postoperativ über mindestens 24 Stunden.
Nachdem über ein Einsetzen der Symptomatik am 1. postoperativen Tag berichtet wurde, sollten MH-verdächtige Patienten nur für Minimaleingriffe mit mindestens 4 Stunden postoperativer Überwachung ambulant anästhesiert werden, ansonsten für 24 h stationär unter Beobachtung bleiben.
Hinweis
Patienten mit neu auftretender MH genau aufklären und Blutsverwandte informieren, ggf. in vitro-Koffein-Halothan-Kontrakturtest bzw. Gentestung in einem MH-Referenzzentrum veranlassen, Bescheinigung über MH-Prävalenz ausstellen. Bei positivem Koffein-Halothan-Kontrakturtest sollte sich eine laborchemische genetische Mutationsanalyse anschließen. Bei Blutsverwandten genügt dann die Untersuchung auf die genetisch nachgewiesene Mutation des Patienten ohne Kontrakturtest.
Vorgehen bei MH-Risiko
Bei bekannter familiärer Belastung bzw. Verdacht auf MH: Triggersubstanzen vermeiden, frisches Narkosegerät mit abmontiertem Verdampfer benutzen. Auswaschung eines Narkosesystems nach vorheriger Nutzung von Inhalationsanästhetika mit hohem Frischgasfluss (je nach Gerät bis zu 70 min Dauer!). Eine Prophylaxe mit Dantrolen (2,5 mg/kg unmittelbar präoperativ) wird nicht mehr empfohlen. Die Bevorratung von 10 mg/kg Körpergewicht Dantrolen muss jedoch gewährleistet sein. Eine absolut triggerfreie Anästhesie sollte nach neuester Ansicht ausreichen, zumal die typischen Nebenwirkungen des Dantrolens (Nausea, Vomitus, Kopfschmerzen, Muskelschwäche, „fatigue“, Uterusatonie) vermieden werden können. Sinnvoll kann die perioperative Bestimmung von CK, Laktat und Basenüberschuss bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen und MH-Risiko sein.
Cave
Triggersubstanzen, v. a. Succinylcholin und volatile Anästhetika absolut kontraindiziert, Stress, Glykoside, Kalziumantagonisten.
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