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Marfan-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Marfan-Syndrom.
Synonyme
Erb-Achard-Sy; Arachnodaktylie; Dolichostenomelie; partieller Gigantismus; Hyperchondroplasie; Akrochondrohyperplasie
Oberbegriffe
Meso- und ektodermale Dystrophie (Dysplasie), Kollagenopathie, Aniridie-Ss.
Organe/Organsysteme
Multisystemerkrankung mit Beteiligung von Bindegewebe, Skelett, Gelenke, Bewegungsapparat, Augen, Herz-Gefäß-System.
Inzidenz
1:10.000. Prävalenz 1:3000 bis 1:5000. Etwa 8000 Fälle in Deutschland. Lebenserwartung mittlerweile von 40 auf 60 Jahre gestiegen. In 92 % der Fälle kreislaufbedingte Todesursache.
Ätiologie
Kongenital und hereditär mit autosomal-dominantem Erbgang in 85 % der Fälle und Neumutationen bei 15–30 % auf Chromosom 15. Mehr als 200 verschiedene Mutationen mit variablem Phänotyp sind beschrieben. Aufgrund des fehlerhaft synthetisierten Glykoproteins Fibrillin 1, welches essenziell zur Bildung von Kollagen ist, kommt es zu Funktionseinschränkungen des Bindegewebes in verschiedenen Organen.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Kollagen-Hydroxyprolin-Mangel-Sy, Multiple-Exostosen-Sy, Sack-Barabas-Sy, Gorlin-Cohen-Sy, Ehlers-Danlos-Sy, Metagerie-Sy, Stiller-Sy, Arthroachalasis multiplex congenita, Pierre-Marie-Sy, Dysraphie-Ss, Cowden-Sy, Homocystinurie-Sy, Forney-Robinson-Pascoe-Sy, Marchesani-Sy, Grönblad-Strandberg-Sy, Krabbe-Sy II, atonisch-sklerotisches Muskeldystrophie-Sy, Rieger-Sy, Rotter-Erb-Sy, Sohar-Sy.

Symptome

Spinnenfingrigkeit, abnorme Dehnbarkeit (Überstreckbarkeit) der Gelenke, Dysodontie, Irishypoplasie oder Aniridie (Linsenluxation, Linsenschlottern), Netzhautablösung (Amotio), Mikrogenie, „Vogelgesicht“. Die Muskulatur ist im Allgemeinen unterentwickelt (Asthenie).
Vergesellschaftet mit
Spaltbildungen (LKG-Spalte, Wolfsrachen), hoher Gaumen, Trichterbrust, Wirbelsäulendeformitäten, Duraektasien, Hernien, Aneurysmen der großen Gefäße, Dilatation der Aortenwurzel, Koronarthrombose, Herzvitien (Aorteninsuffizienz, Mitralklappenprolaps), Spontanpneumothorax, Lungenemphysem, Bronchiektasen (röntgenologisches Korrelat: „Wabenlunge“).
Die geistige Entwicklung ist meist normal.
Therapie
Diese beschränkt sich auf die Vermeidung einer Aneurysmabildung bzw. -ruptur, d. h. Überwachung und ggf. Einstellung des Blutdrucks insbesondere mit β-Blockern auf normale Werte. Vermeidung maximaler und isometrischer Muskelanspannung sowie von Kontaktsportarten.

Anästhesierelevanz

Elektive und notfallmäßige Operation thorakaler Aortenaneurysmen, Mitralklappenersatz, Leistenhernienoperationen, Geburtshilfe.
Spezielle präoperative Abklärung
Thoraxröntgenaufnahme, ggf. Lungenfunktionsprüfung, Ausschluss von Gefäßaneurysmen (Echokardiografie, Angiografie), MRT. Sollte eine Aortenwurzeldilatation von >4,25 cm/m2 Körperoberfläche bestehen, ist aufgrund des hohen Risikos einer Aortendissektion eine operative Intervention empfohlen. Während der Schwangerschaft ist das Risiko einer Aortendissektion erhöht (10 % bei Aortenwurzeldurchmesser >4 cm).
Wichtiges Monitoring
Kontinuierliche invasive Blutdruckmessung (zur besseren Vermeidung von Blutdruckspitzen). Ein wichtiger Ventilationsparameter ist der Beatmungsdruck (Gefahr von Barotrauma, Pneumothorax).
Vorgehen
Alle Anästhesiemethoden, welche stabile und konstante Kreislaufverhältnisse ermöglichen, sind anwendbar. Bei Nachweis ausgeprägter pulmonaler Befunde (Emphysem, Bronchiektasen) bzw. anamnestisch bekannten Spontanpneumothoraces sollten Anästhesietechniken ohne Beatmungsnotwendigkeit bevorzugt werden. Die Lagerung ist mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen. Mit Intubationsschwierigkeiten ist zu rechnen (v. a. bei Vorliegen von Mikrogenie, LKG-Spalten, Kiefergelenksubluxation). Zur Beherrschung von Intubationsproblemen entsprechende Ausrüstung bereithalten. Risiko einer Kiefergelenksluxation.
Da bei Marfan-Sy häufig Aussackungen der Dura im Spinalkanal vorkommen (63–92 %), können intrathekal verabreichte Lokalanästhetika nicht die erwartete Ausbreitung und fleckenförmige Wirkung zeigen. In solchen Fällen ist es nicht sinnvoll, die gleiche Anästhesie erneut zu versuchen, sondern man sollte auf eine Allgemeinanästhesie ausweichen.
Bei Herzklappenvitien sollte eine Endokarditisprophylaxe durchgeführt werden. Eine antihypertensive Therapie sollte perioperativ weitergeführt werden.
Geburtshilfe: Während der Schwangerschaft wird eine regelmäßige echokardiographische Untersuchung der Aortenwurzel empfohlen. Bei einem Durchmesser <4 cm kann eine vaginale Entbindung durchgeführt werden. Eine Epiduralanästhesie sollte hierfür angelegt werden, um den Geburtsstress zu vermindern. Cave: Wirbelsäulendeformitäten, Dura-Ektasie → sonographische Steuerung empfohlen. Zur Durchführung einer Sectio caesarea sind sowohl eine Allgemeinanästhesie als auch eine Regionalanästhesie unter jeweils individueller Berücksichtigung geeignet. Essenziell ist die Vermeidung von Blutdruckspitzen.
Cave
Blutdruckspitzen, hohe Beatmungsdrücke, Erhöhung des Augeninnendrucks, Lagerungsschäden. Relative Kontraindikation für Ketamin.
Weiterführende Literatur
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