Ätiologie
Hämoglobinopathien mit erblicher Störungen der Synthese der ß-Globinkette (HbS).
Die kodierenden Gene für die Hämoglobinsynthese sind auf dem Chromosom 16 (α-Ketten) und 11 (β-Ketten) lokalisiert. Durch mutagene Veränderungen des normalen adulten
Hämoglobins (HbA) entstehen pathologische
Hämoglobinvarianten. Das Sichelzellhämoglobin (HbS) ist durch Ersatz von
Glutamin mit
Valin in Position 6 der β-Kette des HbA charakterisiert.
Die Sichelzellanämie wird autosomal-rezessiv vererbt, die Übertragung von HbS durch beide Elternteile führt zur homozygoten Erkrankung, die mit einer schweren klinischen Symptomatik und in der Regel einer verkürzten Lebenserwartung einher geht. Die heterozygote Sichelzellanämie kann in Kombination mit der β-Thalassämie (reduzierte Syntheserate für β-Ketten oder fehlende Synthese der ß-Ketten), die homozygote Form in Kombination mit der α-Thalassämie (reduzierte Syntheserate für α-Ketten) auftreten.
Die kombinierte Vererbung von HbS und HbC (isolierter Ersatz von Glutamat durch
Lysin in Position 6 der β-Kette des HbA, Vorkommen v. a. in Nord- und Westafrika) sowie die Kombination von HbS und HbD (
Glutamin in Position 121 der β-Kette, Vorkommen besonders in Asien) führt zu einer moderaten Form der Erkrankung. Liegt der HbS-Gehalt unter 30 % am Gesamthämoglobin, tritt in der Regel keine Symptomatik auf.
Auch die Kombinationen HbSD, HbSOArab, HbSLepore, HbSE sind beschrieben.
Durch
Hypoxie, Azidose,
Hypothermie, Dehydratation, Minderperfusion und Infektionen können Sichelzellkrisen ausgelöst werden. Sinken der intrazelluläre pH-Wert und der
Sauerstoffpartialdruck, wird eine Polymerisation von HbS ausgelöst, die wiederum eine Exposition von reaktionsfreudigen Hydroxylgruppen zur Folge hat. Durch Verformung der Erythrozytenmembran wird eine weitere Dehydratation der
Sichelzellen durch Aktivierung der kalziumabhängigen Kaliumkanäle initiiert. Die intrazelluläre Azidose bewirkt eine Aktivierung des Kaliumchlorid-Kotransports, der die bereits bestehende Dehydratation weiter verstärkt.
In der Regel findet man Gefäßverschlüsse, Sequestrierung von Blut in bestimmten Organen (Milz, Leber, Lunge, Penis), chronische Hämolyse und aplastische Episoden.
Symptome
Die Schwere der Symptomatik ist abhängig vom Genotyp der Erkrankung und vom HbS-Gehalt. Durch mikroangiozytäre Gefäßverschlüsse werden Schmerzkrisen verursacht, der Verschluss größerer Gefäße führt zu Organschäden wie Knochen-, Hirn- und Mediastinalinfarkten. Hämolytische, thrombotische und aplastische Krisen sind hämatologische Manifestationen der Erkrankung (Cave: Parvovirus B19-Infektion). Durch die chronische Hämolyse findet sich häufig eine
Splenomegalie. Aufgrund weiterer Mikroinfarzierungen kommt es zu einer funktionellen Asplenie mit einer erhöhten Infektanfälligkeit. Ein Thoraxsyndrom („acute chest syndrome“, ATS) gefährdet die Patienten erheblich durch Knochenmarkembolien in den Rippen in Kombination mit
Lungenembolien. Besteht zusätzlich eine bakterielle
Pneumonie, kann eine akute beatmungspflichtige
respiratorische Insuffizienz entstehen.
Anästhesierelevanz
Typischerweise häufiger vorkommende Operationen sind (v. a. bei Kindern) bei Intestinal- oder Milzinfarkten erforderlich. Ferner kommt es zu Eingriffen wegen Netzhautablösung oder Curettagen nach stattgefundenem
Abort. Unbedingt muss während der Anästhesie die Auslösung einer Sichelzellkrise durch
Hypoxie, Azidose,
Hypothermie, Dehydratation oder Minderperfusion vermieden werden. Bei
chronischen Schmerzen ist eine adäquate
Schmerztherapie erforderlich.
Vorgehen
Bei Patienten mit der Indikation zur Hydroxyharnstofftherapie sollte diese mindestens 3 Monate vor der geplanten Operation begonnen werden. Wichtig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem behandelndem Arzt und einem Hämatologen. Perioperativ sollte der Anteil von HbS am Gesamthämoglobin überwacht werden. Eine vergleichsweise einfache, rasche und preiswerte Bestimmung ist mittels Niederdruck-Mikrosäulen-Chromatographie möglich. Darüber hinaus bietet die Auszählung der
Sichelzellen im peripheren Blutausstrichpräparat eine Möglichkeit der Quantifizierung.
Empfehlenswert ist die frühzeitige
anästhesiologische Betreuung der Patienten. Bereits präoperativ muss eine Volumenzufuhr begonnen werden, um eine
Hypovolämie zu vermeiden. Perioperativ sollte ein Hämatokritwert von 30–35 % angestrebt werden. Bei einer ausreichenden intravasalen Volumenmenge sinkt die Viskosität des Blutes und damit die Wahrscheinlichkeit für Mikroembolien durch Stase. Darüber hinaus wird die Viskosität von der Sauerstoffspannung maßgeblich beeinflusst. Ein arterieller
Sauerstoffpartialdruck von 80 mmHg sollte nicht unterschritten werden. Voll oxygeniertes HbS-(Sichelzell-)Blut ist bei gleichem
Hämatokrit visköser als HbA-Blut.
Die Beeinflussung der Blutviskosität durch Volumenersatzstoffe muss bei der Wahl der Infusionslösung bedacht werden. Hypertone Lösungen sind kontraindiziert, da die Dehydratation der
Sichelzellen zum Auslösen einer Sichelzellkrise führen kann. Dextrane und Hydroxyäthylstärke verbessern zwar die Rheologie, jedoch ist nicht abschließend geklärt, inwieweit die zirkulierenden Blutzellen durch Beeinflussung der Oberflächeneigenschaften („Coating“) gefährdet werden.
Bei Extremitäteneingriffen sollte der Einsatz einer Blutleere durch Kompression sorgfältig überdacht werden. Durch Blutstase,
Hypothermie und
Hypoxie der betroffenen Extremität sowie systemische Azidose während der Reperfusion kann die Sichelbildung der
Erythrozyten hervorgerufen werden. Jedoch finden sich einige Berichte über die komplikationslose Anwendung einer pneumatischen Blutleere nach sorgfältigem Auswickeln der Extremität, kurzer Kompressionszeit, ausreichender Oxygenierung, Normothermie und ausgeglichenem Säure-Basen-Status.
Grundsätzlich sind sowohl die Regional- als auch die
Allgemeinanästhesie geeignete Anästhesieverfahren. Unabhängig vom gewählten Anästhesieverfahren müssen
Hypoxämie, Hyperkapnie, regionale Minderperfusion und
Hypovolämie mit kompensatorischer Vasokonstriktion vermieden werden. Die höchste Inzidenz für das Auftreten eines Thoraxsyndroms besteht 48 h nach der Operation, insbesondere bei
Anämie.
Für Atracurium wurde eine verlängerte Anschlagzeit beschrieben.
Vor allem gynäkologische Eingriffe sind mit einer hohen Komplikationsrate verbunden, so dass die Indikation für ein invasives Monitoring großzügig gestellt werden sollte. Das Ausmaß der postoperativen Überwachung richtet sich nach der Größe des Eingriffs und nach dem Lebensalter der Patienten, da ältere Patienten ein signifikant höheres Risiko für
postoperative Komplikationen haben.
Die präoperative Gabe von homologen Erythrozytenkonzentraten bei Sichelzellkrisen senkt den HbS-Anteil am Gesamthämoglobingehalt, erhöht die Sauerstofftransportkapazität und korrigiert eine bestehende
Anämie und
Hypovolämie, ohne eine Hyperviskosität hervorzurufen. Das Risiko für postoperative Schmerzkrisen kann durch Erhöhung des HbA-Anteils mittels präoperativer Transfusion erniedrigt werden. Bei einer Sichelzellkrise mit symptomatischen Komplikationen (akutes Thoraxsyndrom, retinaler Arterienverschluss, septischer Schock, zerebrovaskulärer Insult) ist die Austauschtransfusion indiziert, um den HbS-Anteil rasch unter 30 % zu senken.
Zusammenfassend zeigten sich nach
Regionalanästhesien mehr postoperative Probleme als nach
Allgemeinanästhesien. Einiges spricht deshalb dafür, dass eine Kombination von Regionalanästhesie für die intra- und postoperative Schmerzkontrolle und von Allgemeinnarkose für den chirurgischen Eingriff ein sicheres und geeignetes Verfahren ist.