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Willebrand-Jürgens-Syndrom

Verfasst von: Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Willebrand-Jürgens-Syndrom.
Synonyme
Hereditäre Pseudohämophilie. Im internationalen Sprachgebrauch wird der Begriff „von Willebrand’s disease“ (vWD) für die angeborene und „von Willebrand syndrome“ für die erworbene Form verwendet. Im Deutschen gibt es diese Unterscheidung nicht.
Oberbegriffe
Gerinnungsstörungen.
Organe/Organsysteme
Gerinnungssystem, Thrombozyten.
Inzidenz
Häufigste angeborene Blutungsneigung mit einer Prävalenz zwischen 1:100–1:1000 oder 0,8–1,3 % der Gesamtbevölkerung. Klinisch relevante Ausprägung bei 1:8000, schweres Krankheitsbild 0,5–3,0:1.000.000. In Deutschland allein ist mit ca. 250 Patienten mit schwerem v.-Willebrand-Jürgens-Sy zu rechnen.
Ätiologie
Hereditär mit autosomal-dominanter Vererbung. Der Gendefekt ist auf dem Chromosom 12 lokalisiert und betrifft beide Geschlechter gleichermaßen. Es gibt auch erworbene Formen (s. unten), z. B. auf dem Boden von Autoantikörperbildung, Oberflächenabsorption, vermehrter Abbau aufgrund von Scherkräften. Phänotypisch liegt ein Mangel an plasmatischem v.-Willebrand-Faktor (vWF) vor, der für eine ausreichende Faktor-VIII- und Thrombozyten-Funktion wichtig ist. Der vWF ist an der primären und sekundären Hämostase beteiligt.
Es werden 3 Haupttypen unterschieden:
  • Typ I (ca. 60–80 % aller Fälle) umfasst quantitative Defekte des vWF.
  • Typ II (ca. 10–30 % aller Fälle) ist heterogen, da qualitative Defekte vorliegen, weitere Aufteilung in Subtypen A, B, M, N.
  • Typ III (sehr selten): vWF fehlt vollkommen.
Ursachen für erworbene Formen des von-Willebrand-Syndroms können lymphoproliferative Erkrankungen, monoklonale Gammopathien, Tumoren, Autoimmunerkrankungen, Hypothyreose, Urämie, Herzklappendefekte, extrakorporale Zirkulation, aber auch Medikamente wie Ciprofloxacin oder Valproinsäure sein.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Hämophilie A und B, Afibrinogenämie, Dysfibrinogenämie, Einzelfaktormangel, Wiskott-Aldrich-Sy., Thrombozytenfunktionsstörungen.

Symptome

In der Regel anamnestisch nur milde Blutungsneigung, die meistens erst bei Operationen oder Verletzungen auffallen. Objektivierbare Kriterien sind verlängerte Blutungszeit, eventuell verminderte Faktor-VIII-Plasmakonzentration, beeinträchtigte Thrombozytenaggregation.
Während der Schwangerschaft steigen Konzentrationen von Faktor VIII und vWF an, deshalb geringer ausgeprägte Blutungsneigung. Dennoch ist das Risiko einer peripartalen Hämorrhagie häufig erhöht, sodass ein peripartales Monitoring der vWF-Aktivität empfohlen wird. Besonders gefährdet sind schwangere Patientinnen mit Typ IIB und Typ III. Patientinnen mit Typ I entwickeln meist spontan eine suffiziente Blutgerinnung.
Der labordiagnostische Nachweis ist nicht immer zweifelsfrei möglich; die aPTT ist kein relevanter Screeningtest, kann aber verlängert sein, wenn die Faktor VIII-Konzentration sekundär vermindert ist. Nur die Blutungszeit kommt als unspezifischer Screeningtest in Frage. Spezifische Tests: Konzentration des vWF, Ristocetin-Kofaktor-Aktivität, Verhältnis vWF-Konzentration zu vWF-Aktivität, Kollagenbindung, Faktor VIII.
Da Faktoren wie Stress, Entzündungsreaktionen, hormonelle Einflüsse den individuellen vWF-Spiegel erhöhen können, kann ein von Willebrand-Syndrom in der Diagnostik übersehen werden. Ein Cut-off-Punkt für die Diagnostik ist nicht eindeutig bestimmbar. Reduziertes Verhältnis der vWF-Konzentration zur vWF-Aktivität weist auf das Vorliegen eines Typ II hin.
Vergesellschaftet mit
Nasenbluten, Menorrhagie, Schleimhautblutungen, oberflächliche Blutergüsse, gastrointestinale Blutungen, urogenitale Blutungen. Sehr selten Gelenk- und Muskelblutungen (insbesondere bei assoziierter Hämophilie A).
Erworbene Form: lymphoproliferatives Sy (48 %), kardiovaskuläre Erkrankungen (21 %), myeloproliferatives Sy (15 %), diverse Neoplasien (5 %), immunologische Erkrankungen (2 %), andere Grunderkrankungen (9 %), bei Kindern kardiale Shuntvitien, Valproattherapie.

Anästhesierelevanz

Hämostaseologische Probleme im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen und invasiven Techniken aller Arten.
Spezielle präoperative Abklärung
Klärung des Typs zur gezielten Prophylaxe, um Blutungskomplikationen zu minimieren. Bei unerklärlicher Blutungsneigung, z. B. nach Entbindung, an anamnestisch bisher unbekanntes Vorliegen dieser Erkrankung denken. Wichtig: präoperative, auch familiäre Blutungsanamnese erheben. Operative Eingriffe mit Blutungsrisiko sollten in Zentren erfolgen, in denen spezielle Untersuchungen der von Willebrand-Faktor-Aktivität jederzeit möglich sind und hämostasiologische Fachexpertise vorhanden ist.
Wichtiges Monitoring
Monitoring von Hämodynamik und Volumenhaushalt bei prophylaktischer Gabe von Desmopressin, da es zu Flush, Kopfschmerzen und v. a. bei kleinen Kindern zu Wasserretention und Hyponatriämie kommen kann.
Vorgehen
Eine Differenzierung des Syndroms ist bei Patienten ohne besonders auffällige Eigenanamnese und für kleine operative Eingriffe nicht zwingend erforderlich, sollte aber bei Eingriffen mit erhöhtem Blutungsrisiko durchgeführt werden. Postoperativ sollte die VWF-Aktivität in dieser Patientengruppe über mehrere Tage überwacht und wenn nötig entsprechend therapiert werden.
Typ I und IIA: Bei begründetem Verdacht 30–60 min vor dem Eingriff Desmopressin 0,3 μg/kg KG als intravenöse Infusion über 20–30 min. Bei Typ IIB ist Desmopressin kontraindiziert, da es dadurch zu Thrombosen und Thrombozytopenie kommen kann. Eine weitere Kontraindikation ist ein zerebrales Krampfleiden.
Patienten mit Typ IIB und Typ-III-Varianten benötigen eine Plasmatherapie mit aktivem vWF-haltigem Konzentrat oder Faktor VIII. Diese Therapie kann im Abstand von 12–24 h 3- bis 4-mal wiederholt werden. Seit 2018 steht mit Vonicog Alfa ein rekombinanter VWF zur Verfügung, der dann indiziert ist, wenn Desmopressin nicht zum Einsatz kommen kann, vWF-haltiges Konzentrat nicht zur Verfügung steht oder die Faktor VIII-Konzentration hoch ist. Er enthält keinen nennenswerten Anteil an Faktor VIII. Die klinischen Erfahrungen damit sind aktuell noch begrenzt.
Eine antifibrinolytische Therapie mit Tranexamsäure intravenös oder auch per os ist in allen Fällen sinnvoll und wird in der Regel bereits präoperativ begonnen. Bei Eingriffen mit geringem Blutverlust und mildem von-Willebrand-Syndrom ist meist keine weitere Faktorensubstitution notwendig.
Auf nichtsteroidale Antiphlogistika sollte aufgrund der Hemmung der Thrombozytenaggregation verzichtet werden. Niedrigdosierte Thromboseprophylaxe sollte bei hohem Thromboserisiko durchgeführt werden, insbesondere nach Faktorensubstitution.
Bei erworbener Form steht die Behandlung mit Desmopressin im Vordergrund. Das Ziel ist, eine 100 %ige Erhöhung der Thrombozytenzahl zu erreichen.
Cave
Menschen mit Blutgruppe 0 haben bei den funktionellen Tests 20–30 % niedrigere Normwerte.
Dauertherapie mit vWF-haltigen Konzentraten bei schwerem Typ III kann zu Antikörperbildung gegen vWF und Immunkomplexkrankheit führen.
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