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Andrologie
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Publiziert am: 26.03.2022 Bitte beachten Sie v.a. beim therapeutischen Vorgehen das Erscheinungsdatum des Beitrags.

Anamnese und körperliche Untersuchung

Verfasst von: Eberhard Nieschlag und Hermann M. Behre
Anamnese und körperliche Untersuchung bilden den Anfang jeder ärztlichen Maßnahme. Gerade im Gebiet der Andrologie und Reproduktionsmedizin sind sie besonders wichtig für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient, ohne das der Arzt nicht die erforderliche Information über teilweise stark tabuisierte Gegebenheiten erhalten kann. Anamnese und gründliche körperliche Untersuchung liefern die Wegweiser zu gezielter weiterer Diagnostik und Therapie.

Anamnese

Anamnese und körperliche Untersuchung bilden den Anfang jeder ärztlichen Maßnahme. Gerade im Gebiet der Andrologie und Reproduktionsmedizin sind sie besonders wichtig für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient, ohne das der Arzt nicht die erforderliche Information über teilweise stark tabuisierte Gegebenheiten erhalten kann. Anamnese und gründliche körperliche Untersuchung liefern die Wegweiser zu gezielter weiterer Diagnostik und Therapie.
Die Anamnese liefert wichtige Informationen zur Beurteilung der Hodenfunktion. Eine Abnahme der allgemeinen Leistungsfähigkeit, eine Verminderung des Bartwuchses mit Abnahme der Rasurfrequenz, eine Abnahme der Erektionshäufigkeit, insbesondere der spontanen morgendlichen Erektionen, und eine Verminderung des Sexualantriebs und der sexuellen Phantasien liefern wichtige Hinweise auf einen eventuellen Androgenmangel. Aufgrund des Libidoverlusts kann der Leidensdruck der Patienten im Gegensatz zu nicht auf Testosteronmangel beruhenden Erektionsstörungen eher gering sein. Wichtige anamnestische Aspekte ergeben sich aus dem Verdacht auf besondere Krankheitsbilder. So ist z. B. bei Verdacht auf einen Hypophysentumor nach Veränderungen des Sehvermögens, bei Verdacht auf ein Kallmann-Syndrom mit hypothalamisch bedingtem Hypogonadismus nach dem Riechvermögen zu fragen.
Eigenanamnestisch werden das Alter beim Eintritt der Pubertät, der Stimmutation und des Beginns des Bartwuchses festgehalten. Lageanomalien der Testes und der Zeitpunkt einer eventuellen medikamentösen (hCG oder GnRH) oder operativen Korrektur (Orchidopexie) sind von Bedeutung. Durchgeführte Herniotomien mit eventuell nachträglicher Hodenschädigung werden erfragt. Da auch allgemeine Erkrankungen (Metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus, Hepato- und Nephropathien, onkologische Erkrankungen, u. a.) zu einem Hypogonadismus und/oder Infertilität führen können, ist nach entsprechenden Symptomen zu fragen (siehe Kap. „Hypogonadismus, Infertilität und sexuelle Dysfunktion bei systemischen Erkrankungen“). Gewichtsveränderungen sind zu registrieren. Rezidivierende Bronchitiden oder Nasennebenhöhlenentzündungen im Kindes- oder Erwachsenenalter geben Hinweise auf Krankheiten der Luftwege, die wie z. B. Ziliendyskinesien und das Kartagener-Syndrom oder die Zystische Fibrose mit Infertilität assoziiert sind. Infektionskrankheiten mit und ohne klinisch manifeste Orchitis oder Epididymitis können zu Androgenmangel und/oder Fertilitätsstörungen führen. Insbesondere ist nach Mumps mit oder ohne Hodenbeteiligung zu fragen. Venerische Erkrankungen (Syphilis, Gonorrhoe, AIDS) und die Art der Therapie müssen festgehalten werden. Eine Infektion mit dem Zika-Virus bzw. der Aufenthalt in Risikogebieten müssen erfragt werden (Weberschock et al. 2018). Wenn Malignome bestanden haben, ist nach der Art der Behandlung (Chemotherapie, Radiatio) zu fragen.
Aus der Familienanamnese inklusive der Angaben über den Fertilitätsstatus der Eltern und Geschwister, von Onkeln und Tanten ergeben sich oft wichtige Hinweise auf eventuell genetisch mitbedingte Ursachen des Hypogonadismus und der Infertilität. Gibt es ungewollte Kinderlosigkeit in der Verwandschaft? Bestehen oder bestanden bei Verwandten Erbkrankeiten oder Karzinome isbesondere der Prostata, Brust oder Hoden? Die Erstellung eines Stammbaumes ist unerlässlich, um Informationen über Erbgänge zu erhalten.
Wichtig ist eine genaue Medikamentenanamnese, da eine Vielzahl von Substanzen als Nebenwirkung zu Androgenmangel und Fertilitätsstörungen führen können (z. B. Sulfasalazin, Antihypertonika, Antibiotika, Zytostatika) (Übersichten in Semet et al. 2017; Duca et al. 2019; Ajayi und Akhigbe 2020) (siehe Kap. „Hypogonadismus, Infertilität und sexuelle Dysfunktion bei systemischen Erkrankungen“).
Lifestyle-Medikamente wie Anabolika (Nieschlag und Vorona 2015) und Finasterid sowie Drogen wie Marihuana (Zufferey et al. 2020), Opioide und Kokain können Fertilität und Hormonhaushalte negativ beeinflussen. Die Einnahme von Anabolika und anderer kraftssteigender Medikamente wird selten spontan angegeben und muss bohrend erfragt werden (siehe Kap. „Missbrauch von Anabolen Androgenen Steroiden (AAS)“).
Berufliche Exposition bezüglich Hitze und Chemikalien können zur Fertilitätsminderung führen. Darüber hinaus ist eine sorgfältige Anamnese zur Erfassung exogener Noxen, die Spermatogenese und Testosteronproduktion der Hoden beeinträchtigen können, erforderlich (siehe Kap. „Umwelt- und arbeitsbedingte Einflüsse auf die männliche Fertilität“). Sportliche Aktivitäten (Übertraining?) und besondere Lebensgewohnheiten, Nikotin- und Alkoholkonsum werden registriert. Während moderater Alkoholkonsum keinen Einfluss auf Ejakulatparameter hat, kann hoher Konsum Ejakulatvolumen und Spermien-Morphologie negativ beeinflussen (Ricci et al. 2017).
Da Infertilität und sich daraus ergebender unerfüllter Kinderwunsch ein gemeinsames Problem des Paares sind (siehe Kap. „Aufgaben und Ziele der Andrologie“), sollte, wenn immer möglich, die Paaranamnese in Anwesenheit beider Partner erhoben werden. Bei Infertilität werden die Dauer des aktiven Kinderwunsches bzw. des ungeschützten Verkehrs und die Coitusfrequenz erfragt. Regelmäßige Trennungen, z. B. wegen Schichtdienst oder häufiger Reisen, werden vermerkt. Hinweisen auf eine Dyspareunie und (temporäre) erektile Dysfunktion muss nachgegangen werden. Berufliche oder private Belastungen, die Spannungs- oder Konfliktstoff für das Paar liefern, werden erfragt. Frühere Schwangerschaften jedes Partners mit dem gegenwärtigen Partner oder in einer anderen Partnerschaft werden festgehalten. Bereits durchgeführte und geplante Fertilitätsuntersuchungen bei der Frau und dem Mann werden erfragt.
Nach Libido und Frequenz des Geschlechtsverkehrs muss gefragt werden. Bestehen Erektionsstörungen, gelegentlich oder permanent? Wenn ja, treten morgendliche Erektionen auf oder nicht? Kommt es beim Verkehr zum Orgasmus – beider Partner? Kommt es regelmäßig oder gelegentlich zu einer Ejaculatio praecox?
Auf spezielle psychologische und sexualmedizinische Probleme gehen die Kap. „Sexualmedizin und Andrologie“ und „Ungewollte Kinderlosigkeit aus sexualmedizinischer Sicht“ ein.

Körperliche Untersuchung

Eine gründliche körperliche Untersuchung verschafft einen Überblick über alle Organsysteme und gibt Hinweise auf allgemeine Erkrankungen, die zu Hypogonadismus und/oder Infertilität führen können. Im folgenden wird primär auf spezielle Untersuchungen bei Verdacht auf Hypogonadismus und/oder Infertilität eingegangen. Hierbei ist zu beachten, dass die klinische Symptomatik des Hypogonadismus vom Manifestationszeitpunkt bestimmt wird (Tab. 1). Tritt der Androgenmangel nach der Pubertät ein, können die klinischen Zeichen sehr diskret sein.
Tab. 1
Symptome eines Hypogonadismus in Abhängigkeit vom Manifestationsalter
Organ/Funktion
Testosteronmangelsymptome
 
vor
nach
 
Beendigung der Pubertät
Knochen
Eunuchoider Hochwuchs
Osteoporose
Kehlkopf
ausbleibender Stimmbruch
keine Änderung
Behaarung
horizontale Pubeshaargrenze
gerade Stirnhaargrenze
mangelnder Bartwuchs
nachlassende sekundäre Geschlechtsbehaarung
Haut
fehlende Sebumproduktion
ausbleibende Akne,
Hautfältelung
Atrophie, Blässe
Hautfältelung
leichte Anämie
leichte Anämie
Muskulatur
unterentwickelt
atrophisch
Penis
infantil
keine Größenänderung
Prostata
unterentwickelt
atrophisch
Hoden
kleines Hodenvolumen
Hodenvolumenabnahme
Spermatogenese
nicht initiiert
sistiert
Ejakula
Anejakulation oder geringes
Volumen
abnehmendes Ejakulatvolumen
Libido
nicht entwickelt
Verlust
Potenz
nicht entwickelt
Lipidstoffwechsel
HDL ↑, LDL ↓, VLDL ↑
HDL ↑, LDL ↓, VLDL ↑

Körperproportionen, Knochenbau, Fettverteilung

Besteht der Androgenmangel schon zum Zeitpunkt der normalerweise einsetzenden Pubertät, resultiert aus der charakteristisch verzögert oder nicht einsetzenden Pubertät mit verzögertem Schluss der Epiphysenfugen ein eunuchoider Hochwuchs. Die Armspannweite (gemessen bei ausgestreckten Armen von der Spitze des einen bis zur Spitze des anderen Mittelfingers) übertrifft die Gesamtkörperlänge, die Beine werden länger als der Rumpf. Aufgrund dieser charakteristischen Körperproportionen sind diese Patienten im Sitzen klein („Sitzzwerge“) und im Stehen groß („Stehriesen“). Kommen andere zentrale Störungen, insbesondere der Schilddrüsenfunktion und der Wachstumsfaktoren hinzu, können die Patienten klein bleiben, die Körperproportionen entwickeln sich aber dennoch wie beim eunuchoiden Hochwuchs. Nach der Pubertät auftretender Androgenmangel führt zu keiner Änderung der Körperproportionen, die Muskulatur ist jedoch in Abhängigkeit von der Dauer und dem Ausmaß des Androgenmangels atrophiert.
Lange bestehender Androgenmangel bewirkt Osteoporose, die schon in jungen Jahren zu einem Rundrücken führen und schwere Lumbago und pathologische Wirbel- und Schenkelhalsfrakturen zur Folge haben kann. Der Androgenmangel bewirkt nicht unmittelbar eine Zunahme des subkutanen Fettgewebes, die Fettverteilung hat jedoch feminine Züge (Betonung von Hüften, Nates, Bauch). Eine Bestimmung des BMI und des Bauchumfanges (mit einem Bandmaß) gehört zu jedem Status, da BMI und Bauchumfang in etwa mit den Testosteronwerten korrelieren (Svartberg et al. 2004). Eine gute Korrelation besteht zwischen der aufwendig durch DXA oder MRT gemessenen Fettverteilung im Körper und dem Quotienten aus Bauchumfang und Körperlänge (Ketel et al. 2007).

Stimme

Physiologischerweise korreliert das Wachstum des Larynx mit dem Wachstum der Testes und dem Anstieg des Testosterons während der Pubertät (Harries et al. 1997). Bei einer Kohorte dänischer Jungen trat der Stimmbruch im mittleren Alter von 13,5 Jahren bei Testosteronwerten von 12 nmol/L und einem Hodenvolumen von 2 × 12 ml ein (Busch et al. 2019). Manifestiert sich ein Hypogonadismus schon vor der normal einsetzenden Pubertät, kommt es aufgrund des fehlenden Kehlkopfwachstums nicht zur Mutation der Stimme. Die Patienten werden dann häufig trotz fortgeschrittenen Alters als Frauen angesprochen (besonders am Telefon), worunter das Selbstwertgefühl sehr leidet. Bei einem Hypogonadismus, der erst nach der Pubertät auftritt, findet eine Veränderung der bereits mutierten Stimme nicht statt.

Haut und Haare

Die Stirnhaargrenze bleibt bei ausbleibender Pubertät gerade, es bilden sich nicht die charakteristischen Geheimratsecken oder eine Glatze aus (Abb. 1) (siehe Kap. „Androgenetische Alopezie des Mannes“). Bereits ausgebildete Geheimratsecken oder eine Glatze bleiben bestehen, die sekundäre Geschlechtsbehaarung und die Körperbehaarung werden jedoch spärlicher (Randall 2012). Die Beurteilung der männlichen Kopfbehaarung kann nach der Hamilton-Skala erfolgen (Abb. 1).
Abb. 1
Die Hamilton-Klassifizierung der Entwicklung der androgenetischen Alopezie (Norwood 1975)
Bei ausbleibender oder unvollständiger Pubertät fehlt der Bartwuchs oder ist spärlich, eine Rasur ist nur selten oder gar nicht notwendig. Schon Shakespeare stellte fest: „Wer einen Bart hat, ist mehr als ein Jüngling, wer keinen hat, weniger als ein Mann“ (Viel Lärm um nichts, 1600). Die obere Schamhaargrenze verläuft horizontal.
Polymorphismus des Androgenrezeptors (CAG Repeats in Exon 1) werden als bestimmend für das Behaarungsmuster diskutiert (Ellis et al. 2001). Bei der Beurteilung der Behaarung als diganostischer Hinweis für einen Androgenmangel müssen ethnische Unterschiede berücksichtigt werden (Santner et al. 1998).
Typisch ist eine frühzeitige, feine, periorale und periorbitale Hautfältelung. Die Haut bleibt aufgrund fehlender Talgdrüsenstimulation trocken. Die Anämie, zusammen mit einer verminderten Hautdurchblutung, verursacht Blässe des Patienten.

Geruchssinn

Das Vorliegen einer Hyposmie oder Anosmie, die beim Kallmann-Syndrom diagnoseweisend ist, wird durch gezieltes Befragen und systematische Überprüfung erfasst. Die Untersuchung wird mit aromatischen Stoffen durchgeführt, die der Patient mit Geruchsstörung nicht wahrnehmen kann. Trigeminusreizstoffe hingegen, wie z. B. Ammoniak, werden erkannt. Geeignet für die olfaktorische Prüfung sind die Sniffin Sticks® , die aus 12 standardisierten Stiften mit verschiedenen Düften bestehen (Pfefferminze, Fisch, Kaffee, Banane, Orange, Rose, Zitrone, Ananas, Zimt, Nelken, Leder und Lakritz) (Ottaviano et al. 2015).

Brustdrüse

Unter Gynäkomastie versteht man die verstärkte Ausbildung des Brustdrüsenkörpers beim Mann (siehe Kap. „Gynäkomastie“). Sie muß durch Palpation oder bildgebende Sonographie von einer reinen Lipomastie unterschieden werden. Eine Gynäkomastie tritt meist beidseitig, seltener einseitig, ohne Seitenpräferenz auf. Zur Charakterisierung der Größe der Brustentwicklung kann die Stadieneinteilung nach Tanner benutzt werden, die sonst für Mädchen verwandt wird (Abb. 2) (Marshall und Tanner 1969). Bei großen, besonders einseitigen Gynäkomastien und verdächtigen Tastbefunden sollte eine Mammographie zur Entdeckung eines eventuellen Mammakarzinoms herangezogen werden. Eine Gynäkomastie kann zu Spannungsgefühl der Brüste und Berührungsempfindlichkeit der Mammillen führen, sie ist jedoch meist physisch völlig asymptomatisch.
Abb. 2
Die 5 Tanner-Stadien zur Entwicklung der weiblichen Brust, die auch zur Klassifizierung einer Gynäkomastie verwandt werden können (Marshall und Tanner 1969)
Gynäkomastien bilden sich häufig bei pubertierenden Jungen mit einem Prädilektionsalter von 14 Jahren und verschwinden innerhalb von 2–3 Jahren. Eine begleitende Adipositas verstärkt und verlängert die Symptomatik. Gynäkomastien persistieren vereinzelt auch bis ins Erwachsenenalter, ohne pathognomonische Bedeutung zu besitzen, und treten wieder häufiger bei älteren Männern auf. Kleine, feste Testes in Kombination mit Gynäkomastie lenken den Verdacht auf ein Klinefelter-Syndrom. Auch bei anderen Formen des primären Hypogonadismus und Defekten der Androgenzielorgane bilden sich Gynäkomastien aus. Bei Hyperprolaktinämie kann es zu einer Gynäkomastie kommen, die aber eher durch den begleitenden Hypogonadismus als durch Prolaktin bedingt ist.
Besonders schnell sich entwickelnde Gynäkomastien sind ein Hinweis auf einen endokrin aktiven Hodentumor. Charakteristisch ist die Symptomentrias Gynäkomastie, Libidoverlust und Hodentumor. Bei jeder Gynäkomastie ist die sorgfältige palpatorische und sonographische Untersuchung der Testes obligat!
Die Tumoren (Leydig-Zelltumor, embryonales Karzinom, Teratokarzinom, Chorionkarzinom, Kombinationstumor) führen entweder direkt oder über eine hCG-Bildung zu einer vermehrten Estrogenproduktion der Leydig-Zellen. Bei chronischen Systemerkrankungen (z. B. Leberzirrhose, terminale Niereninsuffizienz unter Hämodialyse, Hyperthyreose) kann es zur Ausbildung einer Gynäkomastie kommen. Eine große Anzahl von Medikamenten mit verschiedensten Wirkungsmechanismen bedingen möglicherweise eine Gynäkomastie.

Hoden

Der normale Hoden hat eine feste Konsistenz. Bei fehlender LH- und FSH-Stimulation sind die Hoden weich; kleine sehr feste Hoden finden sich beim Klinefelter-Syndrom, bei dem die reduzierte Hodengröße zu den pathognomonischen Charakterisitka gehört (siehe Abb. 2 im Kap. „Klinefelter-Syndrom“). Fluktuierende bis prall-elastische Konsistenz deutet auf eine Hydrozele hin, die durch Diaphanoskopie oder besser durch Ultraschall bestätigt wird. Sehr harte Konsistenz mit Seitendifferenz und höckriger Oberfläche bedeuten Verdacht auf einen Hodentumor.
Das Hodenvolumen beträgt beim gesunden Mitteleuropäer im Durchschnitt 18 ml pro Hoden, der Normalbereich liegt zwischen 12 und 30 ml. Ein darüber hinaus gehendes Volumen wird als Megalotestis (Makroorchie) bezeichnet. Eine Makroorchie sollte den Verdacht auf ein Fragiles-X-Syndrom lenken (Meschede et al. 1995).
Die Größe der Hoden wird durch Palpation im Vergleich zu hodenförmigen Modellen mit definierten Größen (Prader-Orchidometer) bestimmt. Auch wenn Exaktheit des palpatorisch bestimmten Hodenvolumens mit der Erfahrung des Untersuchers zunimmt, bleibt die Fehlerbreite groß. Daher muss eine genaue Volumenbestimmung, besonders bei nicht voll deszendierten Testes und intraskrotalen pathologischen Prozessen mittels der bildgebenden Sonographie durchgeführt werden (siehe Kap. „Bildgebende Untersuchungen“) . Da das Hodenvolumen in weiten Grenzen mit der Spermienproduktion korreliert (siehe Abb. 2 im Kap. „Untersuchung des Ejakulates“), lenkt ein normales Hodenvolumen bei Azoospermie den Verdacht auf einen Verschluss der ableitenden Samenwege oder einen Spermatogenesearrest.
Lageanomalien der Hoden oder Anorchie werden registriert.
Der Bauchhoden befindet sich oberhalb des Inguinalkanals intraabdominal oder retroperitoneal und ist weder tast- noch sichtbar.
Der Leistenhoden liegt fixiert im Inguinalkanal.
Der Gleithoden liegt mobil am Ausgang des Inguinalkanals und kann temporär in das Skrotum herabgedrückt werden, rutscht jedoch beim Loslassen wieder in die ursprüngliche Lage zurück, während
der Pendelhoden zwischen Skrotum und Leistenkanal spontan hin und herpendelt, z. B. durch den Kremasterreflex bei Kältereiz oder beim Koitus.
Bei der Hodenektopie liegt der Hoden außerhalb des normalen Deszensusweges, z. B. abdominal, femoral oder inguinal.
Der Begriff des „Kryptorchismus“ beinhaltet einen nicht palpablen Hoden. In diesem Fall besteht entweder eine Anorchie bei Hodenagenesie (sog. „vanishing testes“), oder die Gonaden liegen oberhalb des Inguinalkanals im Bauchraum als Bauchhoden verborgen oder haben eine ektope Lage.
CAVE: Im Englischen wird „cryptorchidism“ für Lageanomalien allgemein verwendet.
Die Palpation erfolgt im Stehen und Liegen. Kältereiz und Aufregung sind zu vermeiden, da ösie zur Auslösung des Cremasterreflexes und somit zu einer Retraktion des Hodens führen können. Die bildgebende Sonographie kann besonders bei hoher Lageanomalie die Diagnosestellung erleichtern. Bei beidseitigem Kryptorchismus oder Hodenektopie liefert die Bestimmung des Anti-Müller-Hormons (AMH) oder der hCG-Test die Differentialdiagnose zur Anorchie (siehe Kap. „Endokrine Labordiagnostik“). Als bildgebendes Verfahren ist die Magnetresonanztomographie (MRT) zur Lokalisation der nicht palpablen Testes die Methode der Wahl.

Nebenhoden

Der normale Nebenhoden lässt sich als ein weicher Gang kraniodorsal zu den Hoden palpieren. Weiche zystische Erweiterungen lenken den Verdacht auf einen distalen Verschluss, Verhärtungen auf einen Verschluss z. B. nach gonorrhoeischer Epididymitis. Spermatozelen imponieren als prallelastische, kugelförmige Gebilde zumeist im Nebenhodenkopfbereich. Schmerzhafte Schwellungen des Nebenhodens lassen an akute oder chronisch entzündliche Prozesse, weichlich tumoröse Schwellungen im Nebenhodenbereich an ein seltenes Tuberkulom denken.

Plexus pampiniformis

Eine Erweiterung des venösen Plexus pampiniformis zur Varikozele, die meistens links auftritt, wird durch sorgfältige Palpation am stehenden Patienten erfaßt. Aufgrund einer Insuffizienz der Venenklappen füllen sich die Venen bei Erhöhung des Drucks im Bauchraum im Valsalva-Versuch. Nach dem Palpationsbefund wird die Varikozele in 3 Schweregrade eingeteilt.
Die Varikozele I. Grades ist nur eine im Valsalva-Versuch tastbare Erweiterung des Plexus pampiniformis.
Bei der Varikozele II. Grades besteht eine deutlich palpable Erweiterung des Plexus pampiniformis.
Die Varikozele III. Grades ist eine sichtbare Erweiterung des Plexus pampiniformis.
Während Varikozelen III. Grades klinisch leicht zu erfassen sind, ist die Diagnose bei Varikozelen geringerer Ausprägung sehr von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Darüber hinaus kann die Palpation durch vorausgegangene Operationen, Hydrozelen oder eine hochskrotale Lage der Testes erschwert sein. Hier stellt die bildgebende Sonographie die Diagnose sichernde Untersuchungsmethode dar (siehe Kap. „Varikozele“).

Ductus deferens

Der Ductus deferens ist am aufrecht stehenden Patienten als Strang verschieblich zwischen den Gefäßen des Samenstranges zwischen Daumen und Zeigefinger zu tasten. Ein Fehlen des Ductus deferens führt zu einer obstruktiven Azoospermie. Obstruktive Azoospermien durch angeborene Fehlbildungen der Nebenhoden und/oder Samenleiter (ein- oder beidseitige kongenitale Ductusaplasie) finden sich bei ca. 2 % der Infertilitätspatienten reproduktionsmedizinischer Zentren (siehe Kap. „Erkrankungen der ableitenden Samenwege und akzessorischen Geschlechtsdrüsen“). Partielle Obliterationen oder Aplasien des Ductus deferens können sich der Palpation entziehen. Hier ist die operative Skrotalexploration indiziert.

Penis

Das regelrechte Wachstum des Penis während der Pubertät wird nach Marshall und Tanner (1970) in 5 Stadien aufgeteilt (Abb. 3). Der nicht-eregierte Penis hat eine mittlere Länge von 9,16 cm (von 8,6 bis 10,7 cm) und einen mittleren Umfang von 9,3 cm. Im eregierten Zustand misst die Penislänge 13,1 cm (von 12,9 bis 16,0 cm) und der Umfang im Mittel 11,7 cm (Veale et al. 2015). Bei einer Penislänge beim erwachsenen Mann <7,5 cm spricht man von einem Mikropenis. Bei schon vor der normalen Pubertät sich manifestierendem Hypogonadismus bleibt der Penis infantil. Tritt der Hypogonadismus erst nach der Pubertät auf, ist kaum eine Größenverminderung festzustellen.
Abb. 3
Stadien der genitalen Pubertätsentwicklung bei Jungen (Marshall und Tanner 1970)
Bei der Untersuchung des Penis ist die Urethra-Mündung genau zu lokalisieren, da auch leichte Hypospadieformen zu Fertilitätsstörungen führen können. Phimosen lassen sich durch den Versuch des Zurückstreifens des Präputiums diagnostizieren. Deviationen des Penis im erigierten Zustand und daraus resultierende Kohabitationsschwierigkeiten sollten vom Patienten beschrieben und durch Selbstphotographie dokumentiert werden.

Prostata und Samenblasen

Die normale Prostata weist bei der rektalen Untersuchung eine glatte Oberfläche auf und entspricht in der Größe etwa einer Roßkastanie. Bei Hypogonadismus ist das Prostatavolumen klein, die übliche altersabhängige Größenzunahme bleibt aus. Teigige, weiche Konsistenz weist auf eine Prostatitis hin, allgemeine Vergrößerung auf benigne Prostatahyperplasie (BPH), höckrige Oberfläche und harte Konsistenz auf ein Karzinom. Durch die transrektale Sonographie, bei der gleichzeitig die Samenblasen beurteilt werden können, läßt sich gegenüber der Palpation ein deutlicher Informationsgewinn erzielen (siehe Kap. „Bildgebende Untersuchungen“).

Zusammenfassung

  • Anamnese und körperliche Untersuchung bilden den Anfang jeder ärztlichen Maßnahme.
  • Gerade im Gebiet der Andrologie und Reproduktionsmedizin sind sie besonders wichtig für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient, ohne das der Arzt nicht die erforderliche Information über teilweise stark tabuisierte Gegebenheiten erhalten kann.
  • Anamnese und gründliche körperliche Untersuchung liefern die Wegweiser zu gezielter weiterer Diagnostik und Therapie.
Literatur
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