Sowohl balancierte als auch unbalancierte strukturelle Chromosomenveränderungen können zu Fertilitätsstörungen führen. Bei Oligozoospermie spielen insbesondere balancierte autosomale Translokationen eine Rolle und bei Azoospermie Aberrationen der Geschlechtschromosomen. Strukturelle Chromosomenveränderungen führen zu deutlich erhöhten Risiken für Fehl-/Totgeburten bzw. Geburt eines geistig-/körperlich behinderten Kindes. Deswegen sind Chromosomenanalysen bei Männern mit Oligo- oder Azoospermie, aber auch generell bei ungewollter Kinderlosigkeit indiziert. Die Y-chromosomalen AZF-Deletionen sind von besonderer Bedeutung bei hochgradiger Oligo- und Azoospermie, da sie zum Einen eine kausale Ursache darstellen und zum Anderen eine Prognose über die Chancen der Spermiengewinnung bei einer Hodenbiopsie erlauben.
Neben den zahlenmäßigen Chromosomenveränderungen (z. B. Klinefelter-Syndrom, Karyotyp 47,XXY, Kap. 21) bilden die strukturellen Chromosomenaberrationen eine eigene Kategorie teilweise krankheitsursächlicher Karyotypen mit Bedeutung für die klinische Andrologie. Unterschieden werden strukturelle Veränderungen der Geschlechtschromosomen (Gonosomen) von solchen der Nicht-Geschlechtschromosomen (Autosomen). Außerdem wird unabhängig von den beteiligten Chromosomen zwischen Deletionen, Translokationen, Inversionen, Insertionen usw. differenziert. Bei der klinischen Wertung einer strukturellen Chromosomenveränderung ist unter anderem relevant, ob es sich um eine balancierte oder unbalancierte Veränderung handelt. Um letzteres handelt es sich, wenn in der Zelle genetisches Material fehlt oder überschüssig vorhanden ist. Beispielsweise fehlt bei einer Deletion (Stückverlust) ein Chromosomensegment. Hingegen bleibt die Menge aller genetischen Sequenzen z. B. bei einer reziproken Translokation, d. h. einem gegenläufigen Stückaustausch zwischen zwei Chromosomen, ausgeglichen.
Sowohl unbalancierte als auch balancierte strukturelle Chromosomenveränderungen können zu Fertilitätsstörungen (sowohl bei Männern als auch Frauen) führen. Die meisten unbalancierten Chromosomensätze, sofern sie überhaupt mit dem Überleben vereinbar sind, gehen jedoch häufig mit einer gravierenden Beeinträchtigung der allgemeinen Gesundheit einher. Schwere angeborene körperliche und geistige Behinderungen sind die Regel. Insofern spielen unbalancierte strukturelle Chromosomenbefunde zwar in der Pädiatrie und klinischen Genetik eine wichtige Rolle, kaum aber in der Andrologie. Eine Ausnahme stellen Markerchromosomen sowie Deletionen des Y-Chromosoms einschließlich der AZF-Mikrodeletionen dar – sie können selektiv die Fertilität beeinträchtigen und sind daher auch in der Andrologie von Bedeutung.
Prävalenz, Konsequenzen
Im Gegensatz zum Klinefelter-Syndrom, das nahezu ausschließlich bei Azoospermie vorkommt, ist die Prävalenz von strukturellen Chromosomenaberrationen unter Männern bei ungewollter Kinderlosigkeit des Paares nicht von der Spermienqualität abhängig. In der Tat finden sich bei 2–3 % dieser Männer eine Chromosomenveränderungen und zwar unabhängig von der Spermienkonzentration und auch bei normaler Spermienzahl; die Prävalenz ist somit bis zu 10fach erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Tab. 1). Dies begründet die Indikation zur Chromosomenanalyse bei allen Männern bei Infertilität des Paares, die auch Eingang in die aktuelle AWMF-Leitlinie zur „Diagnostik und Therapie vor einer assistierten reproduktionsmedizinischen Behandlung“ gefunden hat (DGGG 2019). Bei ätiologisch unklarer Azoospermie und Oligozoospermie aber auch Normozoospermie und ungewollter Kinderlosigkeit des Paares sollte die Indikation zur konventionellen Chromosomenanalyse also großzügig gestellt werden. Darüber hinaus sind wiederholte Fehlgeburten (habituelle Aborte) eine klare Indikation für Chromosomenanalysen bei beiden Partnern.
Tab. 1
Anteil von auffälligen Chromosomenanalysen bei Männern mit unterschiedlichen Spermienkonzentrationen (Dul et al. 2010).
Spermienkonzentration
Prävalenz von Chromosomenveränderungen
(95 % Konfidenz-Intervall)
Azoospermie (n = 1599)
15,4 % (13,6–17,2)
Oligozoospermie ≤1 Mill./ml (n = 539)
3,0 % (1,5–4,4)
Oligozoospermie >1 - ≤5 Mill./ml (n = 475)
2,1 % (0,8–3,4)
Oligozoospermie >5 - ≤10 Mill./ml (n = 879)
3,5 % (2,3–4,7)
Oligozoospermie >10 - ≤20 Mill./ml (n = 808)
1,1 % (0,4–1,8)
Normozoospermie >20 Mill./ml (n = 729)
2,9 % (1,7–4,1)
Allgemeinbevölkerung
0,3–0,5 %
Bei ungewollter Kinderlosigkeit oder habituellen Aborten soll eine Chromosomenanalyse bei beiden Partnern unabhängig von weiteren klinischen Befunden erfolgen (DGGG 2019).
Chromosomenveränderungen sind nicht kausal behandelbar. Bei betroffenen Patienten können deswegen ausschließlich symptomatische Behandlungsverfahren der assistierten Fertilisation (Kap. 42) eingesetzt werden. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass balancierte elterlichen Chromosomenveränderungen das Risiko für unbalancierte Chromosomensätze in der befruchteten Eizelle, dem Embryo, Feten und Kind deutlich erhöhen. Diese bedingen eine reduzierte Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ebenso wie ein erhöhtes Risiko für eine Fehl- oder Totgeburt oder die Geburt eines in der Regel geistig und körperlich behinderten Kindes. Eine humangenetische Beratung zur Abschätzung dieser Risiken und zur Erläuterung von Optionen der Pränatal- bzw. Präimplantationsdiagnostik (PND/PID) ist, auch entsprechend dem Gendiagnostikgesetz (GenDG) obligat anzubieten.
Bei Translokationen, Inversionen und zum Teil auch bei Markerchromosomen handelt es oft um familiär vererbte Chromosomenaberrationen. Häufig ist der infertile Mann das erste Familienmitglied, bei dem die Chromosomenveränderung nachgewiesen wird. Oft kann dann eine größere Zahl von Verwandten, unabhängig vom Geschlecht, identifiziert werden, die die gleiche Chromosomenaberration tragen. Träger und Trägerinnen einer strukturellen Chromosomenveränderung haben die o. g. deutlich erhöhten Risiken für Fehl-/Totgeburten bzw. Geburt eines geistig-/körperlich behinderten Kindes. Deswegen muss eine Anlageträgertestung auch bei Familienmitgliedern, eingebettet in eine genetische Beratung, angeboten werden.
Strukturelle Veränderungen der Autosomen
Strukturelle Veränderungen der Autosomen (Chromosomen 1 bis 22) können mit Störungen der männlichen Fertilität assoziiert sein. Autosomale Strukturveränderungen können mit der meiotischen Paarung der Chromosomen interferieren und so die Spermatogenese beeinträchtigen. Ob und in welcher Ausprägung eine Fertilitätsstörung auftritt, ist im Gegensatz zu gonosomalen Aberrationen im Einzelfall kaum vorherzusagen. Dieselbe autosomale Aberration kann sich bei einem Patienten gravierend, bei einem anderen überhaupt nicht oder nur geringgradig auf die Spermatogenese auswirken. Auch unter Brüdern mit demselben auffälligen Karyotyp können die Ejakulatbefunde deutlich voneinander abweichen und Translokationen können auch vom normal fertilen Vater an einen infertilen Sohn vererbt worden sein. Der Zusammenhang zwischen struktureller autosomaler Chromosomenveränderung ist also in der Regel nicht sicher kausal herzustellen, sondern es ist einzig aufgrund großer Fallserien festzuhalten, dass es eine signifikante Assoziation zwischen diesen Chromosomenveränderungen und der männlichen Infertilität gibt (Tab. 1).
Bei der Interpretation der Karyotypanalyse müssen chromosomale Polymorphismen, wie z. B. kleine perizentrische Inversionen an Chromosom 9 oder die Vergrößerung des perizentromerischen Heterochromatins an diesem Chromosom, die keinen Krankheitswert haben, von relevanten Aberrationen klar unterschieden werden. Diese bekannten chromosomalen Polymorphismen werden in der Karyotypformel nicht genannt.
Von tatsächlicher pathogener Bedeutung können hingegen reziproke undRobertson'sche Translokationen, peri- und parazentrische Inversionen, Insertionen sowie Markerchromosomen (kleine „Zusatzchromosomen“) sein (Abb. 1). Im Einzelfall ist kein direkter Rückschluss von einer nachgewiesenen Chromosomenveränderung dieser Art auf den Ejakulatbefund möglich. Dennoch finden sich Translokationen, Inversionen, Insertionen und Markerchromosomen unter infertilen Männern signifikant häufiger als bei unselektierten Neugeborenen bzw. in der Allgemeinbevölkerung. Im Gegensatz zu numerischen Chromosomenveränderungen und strukturellen Aberrationen der Gonosomen findet sich bei autosomalen Strukturaberrationen eher eine Oligo- als eine Azoospermie.
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Strukturelle Veränderungen der Geschlechtschromosomen
Ein intaktes Y-Chromosom ist essenziell für die normale Struktur und Funktion des männlichen reproduktiven Systems. Auf dem kurzen Arm ist das SRY-Gen lokalisiert, das die Entwicklung der embryonalen, bipotenten Gonade in die männliche, testikuläre Richtung determiniert. Außerdem enthält das Y-Chromosom multiple, bislang unvollständig charakterisierte Abschnitte, die für den regulären Ablauf der Spermatogenese verantwortlich sind. Der lange Chromosomenarm des Y-Chromosoms ist in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung. Mikrodeletionenim langen Arm des Y-Chromosoms werden in Abschn. 1.5 gesondert besprochen.
Bei den hier zunächst zu behandelnden, mit zytogenetischen Techniken (Kap. 8) darstellbaren Deletionen des Y-Chromosoms sind solche des kurzen und langen Arms zu unterscheiden. Bei Verlust des gesamten kurzen Armes fehlt dem Patienten das SRY-Gen. Die Kaskade der embryonalen Geschlechtsentwicklung wird damit bereits auf der Ebene der Gonadendeterminierung gestört. Klinisch resultiert ein dem Turner-Syndrom ähnlicher weiblicher Phänotyp mit Gonadendysgenesie. Betrifft die Deletion den langen Arm, ist der Phänotyp männlich, und es hängt von der Größe des verloren gegangenen Segmentes ab, ob und in welcher Ausprägung die Spermatogenese beeinträchtigt ist. Am langen Arm des Y-Chromosoms wird ein proximaler euchromater und ein distaler heterochromater Anteil (Chromosomenbande Yq12) unterschieden. Letzterer ist von Mann zu Mann in der Länger variabel und trägt keine aktiven Gene. Sein Verlust bleibt ohne Folgen, allerdings fällt bei der Chromosomenanalyse ein kleineres Y-Chromosom auf. Erstreckt sich die Deletion bis in den euchromatischen, d. h. aktive Gene tragenden Bereich, des langen Arms (Chromosomenbande Yq11), so resultiert hieraus in der Regel eine schwere Störung der Spermienbildung mit Azoospermie oder hochgradiger Oligozoospermie.
Neben Deletionen sind eine Reihe weiterer Strukturveränderungen des Y-Chromosoms bekannt (Abb. 1). Insbesondere beim isodizentrischen Y-Chromosom, aber auch bei anderen strukturell veränderten Y-Chromosomen, kommen Mosaikzustände mit einer zweiten 45,X-Zellinie vor. Der Phänotyp hängt dann von der Verteilung der beiden Zelllinien ab. Bei einem durchgehenden Isochromosom Yp ist ein männlicher Phänotyp zu erwarten. Im Falle eines Mosaiks mit einer 45,X-Zelllinie kann das Genitale ein Spektrum von männlich über intersexuell bis hin zu weiblich aufweisen. Meistens besteht eine Infertilität.
Reziproke Translokationen zwischen dem Y-Chromosom und einem der Autosomen sind selten. Meist besteht eine schwere Spermatogenesestörung, einige Männer mit diesem Karyotyp sind aber fertil. Translokationen zwischen X- und Y-Chromosom kommen in verschiedenen Varianten vor, häufig ist der Karyotyp unbalanciert. Die Zusammenhänge zwischen Chromosomensatz und klinischem Bild sind komplex. Der Phänotyp kann männlich oder weiblich sein, die Fertilität normal oder gestört, bei einigen chromosomalen Varianten der X-Y-Translokation treten körperliche und geistige Behinderungen auf.
Das X-Chromosom enthält zahlreiche Gene, die für das Überleben essenziell sind. Große Deletionen an diesem Chromosom wirken sich daher beim männlichen Geschlecht letal aus oder gehen mit schweren Erkrankungen einher. Der Verlust kleinerer Abschnitte des X-Chromosoms kann zu sogenannten Mikrodeletionssyndromen führen. Beispielsweise ist das Deletionssyndrom des distalen kurzen Armes des X-Chromosomes (engl.: Xp22 contiguous gene syndrome) durch schwere Entwicklungsstörungen gekennzeichnet. Es treten in variabler Kombination Ichthyosis congenita, die Skelettdysplasie Chondrodysplasie punctata, Kleinwuchs, geistige Behinderung sowie das Kallmann-Syndrom durch Verlust des KAL1-Gens (Kap. 12) auf.
Y-chromosomale AZF Mikrodeletionen
Der lange Arm des Y-Chromosoms enthält drei separate Bereiche, die essenziell für eine normale Spermatogenese sind. Der Verlust eines dieser als Azoospermiefaktoren (AZFa, AZFb, AZFc) bezeichneten Loci durch eine in der väterlichen Keimbahn auftretende Deletion führt zu einer schweren Fertilitätsstörung (Vogt et al. 1996). Die deletierten Bereiche sind von submikroskopischer Größe, so dass diese in der konventionellen Chromosomenanalyse nicht detektiert werden können und man von Y-chromosomalen Mikrodeletionen spricht. Durch die vollständige Sequenzierung des Y-Chromosoms konnte der Entstehungsmechanismus der AZF-Deletionen aufgeklärt werden: Die homologe Rekombination zwischen repetitiven Sequenzen (Palindromen) führt zum Verlust der dazwischen liegenden Region (Noordam und Repping 2006) (Abb. 2). Komplette, klassische AZF-Deletionen sind eindeutig kausal für eine Azoospermie, teilweise auch hochgradige Oligozoospermie, und kommen bei Männern mit normaler Spermienbildung nicht vor. Neben der Chromosomenanalyse ist deswegen die Analyse bzgl. AZF-Deletionen Teil der Routinediagnostik bei Azoo- und hochgradiger Oligozoospermie (Krausz et al. 2014).
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Bei Männern mit Spermienkonzentrationen < 1 × 106/ml soll eine Analyse hinsichtlich AZF-Deletionen erfolgen; oberhalb dieses Limits sind Deletionen extrem selten (DGGG 2019).
Die Prävalenz der AZF-Deletionen reicht bei Männern mit nicht-obstruktiver Azoospermie je nach Selektionskriterien bis über 10 %, bei Männern mit hochgradiger Oligozoospermie bis zu 5 % und beträgt in der Gesamtheit der infertilen Männer kleiner 1 %. Die Prävalenz hängt dabei von der ethnischen Herkunft und der Y-Haplogruppe ab; so ist die Prävalenz in Deutschland und Schweden niedriger als z. B. in Italien oder anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas (Simoni et al. 2008). AZFc-Deletionen sind mit etwa 70 % am häufigsten, gefolgt von AZFbc-Deletionen, während AZFa und AZFb-Deletionen deutlich seltener sind (Abb. 3).
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Klinisch weisen alle Männer mit einer kompletten AZF-Deletion eine ausgeprägte Spermatogenesestörung auf, während die endokrine Hodenfunktion von der Mikrodeletion meist unbeeinträchtigt bleibt. Der Verlust der kompletten AZFa-Region (weniger als 10 % aller AZF-Deletionen) führt bei allen bisher beschriebenen Patienten zu einer Azoospermie und histologisch zu einem Sertoli cell-only (SCO) Phänotyp. Einzelfälle mit partieller AZFa-Deletion, nur das USP9Y-Gen betreffend, wurden bei Männern mit Normozoospermie beschrieben. Bei Patienten mit kompletter AZFb-Deletion besteht ebenfalls eine Azoospermie mit aber variablerem histologischen Phänotypen von SCO bis Spermatogenesearrest. Selten wurden bei Männern mit AZFb-Deletionen auch elongierte Spermien in einer Hodenbiopsie gefunden. Im Gegensatz dazu führen AZFc-Deletionen zu einem sehr heterogenen Bild in der Ejakulatanalyse und Hodenhistologie, das von einer Azoospermie aufgrund eines SCO, Arrestes oder schwerer Hypospermatogenese bis zu einer schweren Oligozoospermie reicht (Abb. 4). Deletionen aller drei Regionen AZFa, AZFb und AZFc finden sich bei strukturell veränderten Y-Chromosomen (Abschn. 1.4 oder beim XX-Mann, Kap. 22).
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Die Diagnose ist nur durch eine spezifische molekulargenetische Untersuchung zu stellen. Der klassische Test basiert auf der Polymerasekettenreaktion (PCR) (Kap. 8), mit deren Hilfe an der Patienten-DNA die Darstellbarkeit (Amplifizierbarkeit) repräsentativ ausgewählter Markersequenzen aus dem langen Arm des Y-Chromosoms überprüft wird, z. B. sY254 und sY255 für die AZFc-Deletion. Mittlerweile werden teilweise auch andere Methoden wie kommerzielle Kits, Arrays, MLPAs (Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification) und Sequenziermethoden verwendet. Die regelmäßig aktualisierten Diagnostischen Leitlinien helfen bei der Standardisierung und Qualitätssicherung (Krausz et al. 2014, https://www.emqn.org/2021 07 09). Die Untersuchung ist unabhängig von der Methode als Screening grundsätzlich bei allen Männern mit ätiologisch unklaren schweren Spermatogenesestörungen sinnvoll, da Männer mit und ohne AZF-Deletion sich klinisch nicht unterscheiden lassen. Die Analyse besteht aus einem Basis-Screening und, falls dabei eine Deletion detektiert wird, schließt sich eine erweiterte Untersuchung an, die das Ergebnis einerseits validiert und gleichzeitig die Ausdehnung der Deletion (komplett/inkomplett) identifiziert. Nur bei kompletten, klassischen Deletionen gelten die hier genannten prognostischen Aussagen.
Auch wenn einzelne Fälle der spontanen Weitergabe einer AZFc-Deletionvom Vater an den Sohn beobachtet wurden (Rolf et al. 2002; Zhu et al. 2010), sind komplette AZF-Deletionen in der Regel mit einer Infertilität assoziiert. Bei Männern mit kompletten Deletionen der AZFa-, AZFb- oder AZFbc-Region besteht auch nahezu keine Aussicht, bei einer Hodenbiopsie Spermien zu gewinnen. Demgegenüber haben Azoospermie Männer mit kompletter AZFc-Deletion eine Chance von bis zu 50 %, bei einer Hodenbiopsie mit TESE Spermien zu finden; die Erfolgsraten bei einer ICSI scheinen aber mit < 10 % gering zu ein. Ein Zusammenhang mit einer erhöhten Rate aneuploider Spermien aufgrund eines kompletten Verlusts des Y-Chromosoms und damit einhergehend ein Risiko für ein Turner-Syndrom oder ein45,X/46,XY-Mosaik mit Varianten der Geschlechtsdifferenzierung bei Nachkommen ist denkbar. Aufgrund der geringen verfügbaren Daten ist dieses Risiko noch schwierig einzuschätzen, aber als eher gering einzuordnen. Bei Männern mit AZF-Deletionen ist aus diesen Gründen eine genetische Beratung notwendig, insbesondere aber vor dem Beginn einer assistierten Reproduktion, denn alle Söhne eines betroffenen Patienten erben mit dessen Y-Chromosom auch die Deletion und damit die männliche Infertilität.
Abgesehen von den klassischen AZF-Deletionen wurden weitere, kleinere Deletionen innerhalb der AZFc-Region beschrieben, u. a. b2/b3- und gr/gr-Deletionen. Im Gegensatz zum klaren kausalen Zusammenhang zwischen kompletten, klassischen AZFa, AZFb und AZFc-Deletionen werden gr/gr-Deletionen zwar häufiger bei infertilen Männern, aber auch (seltener) bei Männern mit normaler Spermienkonzentration gefunden. Der statistische signifikante Zusammenhang macht gr/gr-Deletionen zu einem Risikofaktor für eine schlechtere Spermatogenese/Spermienkonzentration (Tüttelmann et al. 2007), ohne dass sich aus dem Nachweis aber Konsequenzen für den betroffenen Mann bzw. die Therapie ergeben. Deswegen gibt es derzeit keine klare Indikation für die entsprechende molekulargenetische Analyse im Rahmen der Fertilitätsdiagnostik.
Zusammenfassung
Sowohl balancierte als auch unbalancierte strukturelle Chromosomenveränderungen können zu Fertilitätsstörungen führen.
Bei Oligozoospermie spielen insbesondere balancierte autosomale Translokationen eine Rolle und bei Azoospermie Veränderungen der Geschlechtschromosomen.
Strukturelle Chromosomenveränderungen führen zu deutlich erhöhten Risiken für Fehl-/Totgeburten bzw. Geburt eines geistig-/körperlich behinderten Kindes. Deswegen sind Chromosomenanalysen bei Männern mit Oligo- oder Azoospermie, aber auch generell bei ungewollter Kinderlosigkeit indiziert.
Die Y-chromosomalen AZF-Deletionen sind von besonderer Bedeutung bei hochgradiger Oligo- und Azoospermie, da sie zum Einen eine kausale Ursache darstellen und zum Anderen eine Prognose über die Chancen der Spermiengewinnung bei einer Hodenbiopsie erlauben.
Literatur
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