Erschöpfung, geminderte Leistungsfähigkeit, rasche Ermüdbarkeit (von franz. fatigue = Ermüdung): Diese Symptome sind Ausdruck einer unspezifischen, gesundheitlichen Verschlechterung und gerade deswegen bei älteren Patient:innen geeignet, als Signalsymptom zu fungieren. Dabei besteht eine Prädiktivität für eine körperliche Beeinträchtigung und vermehrte Nutzung medizinischer Einrichtungen bis zu einem Jahr nach Auftreten (Avlund et al.
2008). Während jüngere Patient:innen oft spontan ärztlichen Rat suchen – vielleicht weil die berufliche Leistungsfähigkeit rasch in Mitleidenschaft gezogen wird, besteht vonseiten älterer Patient:innen und des medizinischen Fachperson eine Neigung, dieses Symptom als „alterstypisch“ herunter zu spielen oder andere Beschwerden in den Mittelpunkt zu stellen.
Doch eine Besonderheit älterer Patient:innen kommt zuhilfe: Erschöpfung und gesundheitliche Verschlechterung aller Art – sei es auf der Basis körperlicher, psychischer oder kognitiver Probleme – zieht zeitnah eine deutliche Beeinträchtigungen der Mobilität im Allgemeinen und speziell der Gangsicherheit nach sich (Montero-Odasso et al.
2022). Dies ist ein Hinweis auf eine geringere, physiologische Reservebreite im Alter (Guralnik et al.
2000). Der bipedale Gang als eine sehr komplexe, in der frühkindlichen Entwicklung spät erworbene Fähigkeit macht diese Vulnerabilität verständlich. Screening-Instrumente, die eine zunehmende Vermeidung von Mobilität im Alltag,
Gangunsicherheit oder Sturzangst erfassen, korrelieren daher gut mit dem Initialsymptom Erschöpfung und mit der Wahrscheinlichkeit, ein Frailty-Syndrom zu entwickeln (Anders et al.
2008). Die Verlässlichkeit der Berichte von Patient:innen zu diesem Themenkomplex ist ausreichend, wenn nicht Details wie die tatsächliche Sturzhäufigkeit, sondern Anzeichen der sich verschlechternden Gangsicherheit erfragt werden (z. B. „Nutzung des Geländers und Blick auf die Füße beim Treppabsteigen“; „Vermeidung von überflüssigen Besorgungen außer Haus“). Da die Fähigkeiten noch vorhanden sind, aber bereits in adaptierter Art und Weise seltener und weniger selbstverständlich ausgeführt werden, spricht die geriatrische Forschung in diesem Stadium auch von „Prädisability“. Nach der Faustregel „use it or lose it“ unterhält dieser Prozess sich selbst durch negative Synergien – vor allem durch das Vermeidungsverhalten und einen veränderten
Metabolismus (Lang et al.
2009). Andere Screening-Instrumente verbinden diese beiden Signalsymptome „Fatigue“ und „Prädisability“ zu einem Terminus „Fatigability“. Nun liegt alles daran, die bisher versteckten Auslöser des Prozesses zu identifizieren, diese möglichst kausal zu behandeln und die Mobilität inklusive der mentalen, psychischen und körperlichen Anteile als selbstverständliche Fähigkeit wiederherzustellen, die den älteren Bürger:innen damit die aktive soziale Teilhabe in allen Ausprägungen (Ehrenamt, Sorge um Andere, Hobbies) erlaubt.
Fallbeispiele zu Prävention und Gesundheitsförderung: Anwendungsübungen
1)
Palliation: Eine 94-jährige Patientin ist am 23. Dezember vom Wohnortpflegeheim in die zentrale
Notaufnahme eines Krankenhauses der Schwerpunktversorgung gekommen. Sie ist nicht ansprechbar, somnolent, die Augen halb geschlossen, ohne Blickkontakt. Es zeigen sich ferner Spuren kompletter Inkontinenz, Kontrakturen aller Extremitäten und ein sakrales Dekubitalgeschwür III°. Die Haut ist kalt, blass, Schleimhäute minderdurchblutet, der Atem unregelmäßig rasselnd. Es liegt eine Pflegeakte vor mit der Hauptdiagnose „Schwere
Demenz vom Alzheimer-Typ“ sowie eine 12 Jahre alte Patientenverfügung mit dem Wunsch, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Die hinzugekommene, alleinstehende Tochter macht sich Sorgen, weil ihre Mutter seit 2 Tagen nicht mehr getrunken hat: „Da muss man doch was unternehmen!“
Einordnung alternativ zum
Screening: Telefonat mit dem betreuenden Hausarzt. Dort Vorliegen einer
Vorsorgevollmacht ausgestellt auf einen rüstigen Halbbruder und einer Patientenverfügung. Im Gespräch Entscheidung für eine
palliative Versorgung im Pflegeheim unter Opioidmedikation, Empfehlungen zur Pflegeüberleitung und Entlastung des Pflegepersonals vor Ort durch ehrenamtliche Sterbebegleiter. Die Patientin verstirbt eine Woche später ohne Anzeichen für Schmerzen (nonverbal ermittelbar über die BESD-Skala).
2)
Kuration: Ein 76-jähriger Patient ist am 23. Dezember vom ADAC aus Südtirol ausgeflogen und in die Kardiologie eines Krankenhauses eingeliefert worden. Er hatte sich vor 7 Tagen beim Skilaufen eine rechtsseitige Tibiafraktur zugezogen, die operativ versorgt wurde. Intraoperativ traten
tachykarde Herzrhythmusstörungen bei bekanntem, arteriellen Hypertonus und
Aortenklappenstenose auf. Der Patient ist ansprechbar, orientiert und stabil, zeigt aber Zeichen der kardialen Dekompensation. Er ist teil-immobilisiert, darf das rechte Bein 6 Wochen nicht belasten. Es stellt sich Frage nach der Indikation für einen herzchirurgischen Eingriff (Klappenersatz).
Screening: aktuell verminderte körperliche Belastbarkeit
Assessment: noch keine funktionellen Beeinträchtigungen, aber Zeichen einer reaktiven Depression
Einordnung: Rüstiger Senior mit akuter Hochrisikoerkrankung.
Empfehlung: Vorstellung in der Kardiochirugie und Operation (möglichst Bioklappe zur Vermeidung einer Antikoagulationspflicht).
Im Anschluss ambulante Kardiorehabilitation inklusive Ernährungsberatung und psychologische Begleitung. Später dauerhafte Überleitung in eine Herzsportgruppe. Psychiatrische Erstvorstellung.
3)
Komplexbehandlung: Eine 80-jährige Patientin lebt weitgehend selbstständig in einer Wohnanlage für Senior:innen. Sie wird regelmäßig ärztlich gesehen zur Kontrolle eines
Diabetes mellitus Typ 2. Ferner sind Fachärzt:innen beteiligt zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie einer leichten Gonarthrose, rezidivierenden Harnwegsinfekten und grauem Star. Die Patientin fühlt sich zunehmend gangunsicher und fragt um Rat. Eine
diabetische Neuropathie wird ausgeschlossen, auch auf
zerebrale Durchblutungsstörungen finden sich keine Hinweise. Der beteiligte Orthopäde sieht noch keine Indikation für einen Gelenkersatz und fasst zusammen: „Für das Alter geht’s doch noch ganz gut!“
Assessment: Beginnende Einschränkungen der Performance (Stuhlaufstehtest 16 s, TU&G 14 s, Tandemstand unsicher).
Einordnung: Gebrechliche Patientin mit Inaktivität, Kraftmangel vor allem der Rumpf- und Beinmuskulatur und Neigung zum Rückzug.
Empfehlung: Übungen zur Aktivierung von zentraler und peripherer Balance z. B. Tai Chi im Seniorentreff.
Bei fortschreitender Verschlechterung sowohl der Funktion als auch der Blutzuckereinstellung kommt es vor Umsetzung dieser Empfehlungen zu einem Sturz mit Oberschenkelhalsfraktur und Anlage einer Totalendoprothese (TEP) linksseitig. Indikation zur teilstationären, geriatrischen Komplexbehandlung nach Abschluss der lokalen Wundheilung. Darunter Verbesserung der Gangfunktion und Entlassung ohne Pflegestufe in die eigene Häuslichkeit.
4)
Gesundheitsförderung: Eine 69-jährige Ärztin im Ruhestand spielt leidenschaftlich Golf, fühlt sich aber nicht ausgelastet. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung Check Up 35plus erwähnt sie schmerzhafte Beschwerden im Rücken und der rechten Schulter. Die Befunde ergeben eine leichte
Hypercholesterinämie. Bereits vor 2 Jahren hatten diese zu einem Therapieversuch mit Statinen geführt, der aufgrund einer Unverträglichkeit mit beginnender Myopathie aufgegeben wurde.
Lokalbefund: unauffällig, muskulärer Hartspann v. a. im M. deltoideus rechts mehr als links.
Einordnung: Rüstige, gesunde Seniorin
Empfehlungen zum Ausbau gesundheitlicher Reserven mit folgenden Bausteinen:
Soziale Vorsorge und Aktivität: Einbindung in ein Ehrenamt z. B. als Simulationspatientin für den Unterricht der Medizinstudierenden.
Körperliche Aktivität: Rat zum ausgleichenden Krafttraining der Muskulatur an Geräten inklusive vorbereitender Extensionsübungen. Darunter Beschwerdefreiheit und Verbesserung der Bewegungsabläufe beim Golf sowie der Blutfettwerte.
Gesunde Ernährung: Erhöhung des Anteiles von Gemüse an der täglichen Kost sowie des Anteiles von Fischmahlzeiten auf 2-mal wöchentlich bei Einsparung von Kohlenhydraten.