Prämedikationsvisite
Um eine adäquate und individuelle Risikoaufklärung des Patienten durchzuführen und unter Berücksichtigung von geplanter OP und patienteneigenen Risikofaktoren das geeignete Anästhesieverfahren auszuwählen, sind eine ausführliche Anamnese und eine körperliche Untersuchung notwendig.
Die Anamnese kann durch einen vom Patienten auszufüllenden Fragebogen vorbereitet werden und sollte alle Organsysteme umfassen, da pathophysiologische Veränderungen im Rahmen der Anästhesie Einfluss auf nahezu aller Organe haben und den Verlauf einer Anästhesie beeinflussen können oder bei der Durchführung der Anästhesie bzw. der Auswahl der eingesetzten Wirkstoffe Berücksichtigung finden müssen. Die Anamnese ist zu dokumentieren.
Insbesondere anästhesierelevanten Begleiterkrankungen oder Prädispositionen stehen im Fokus. Hierzu gehören Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge, das Erfassen der kardialen Leistungsreserve, einer ggf. erbliche Prädisposition zur
malignen Hyperthermie, und von Risikofaktoren für postoperative Übelkeit und Erbrechen. Ist ein rückenmarknahes Regionalanästhesieverfahren geplant ist eine ausführliche Gerinnungsanamnese Bestandteil der präoperativen Risikoevaluation
. Hierzu stehen Gerinnungsfragebögen zur Verfügung, die auch
Thrombozytenfunktionsstörungen erfassen (Pfanner et al.
2007). Diese zählen zu den häufigsten Gerinnungsstörungen und werden durch laborchemische Globaltests der Gerinnung sowie das Blutbild nicht erfasst. Eine Laboruntersuchung entbindet somit nicht von der Gerinnungsanamnese.
Ergibt die Anamnese oder die körperliche Untersuchung Hinweise auf eine bisher nicht erkannte oder die Verschlechterung einer vorbestehenden Erkrankung von Herz, Kreislauf oder Lunge, so sollte eine entsprechende Diagnostik und konsiliarische Untersuchungen der entsprechenden Fachdisziplin unter Berücksichtigung der Dringlichkeit des operativen Eingriffs erfolgen. Die Fragestellung sollte hierbei konkret sein und eine Erhebung des aktuellen Status der Erkrankung beinhalten wie auch die Frage einer präoperativen Optimierungsmöglichkeit. Die Frage der „Narkosefähigkeit“ an eine andere Fachdisziplin erübrigt sich. Ob und mit welchem Risiko ein maßgeschneidertes Anästhesieverfahren durchgeführt werden kann legt letztendlich der Facharzt für Anästhesiologie unter Berücksichtigung der vorliegenden Befunde fest. Auch bei stabilen Vorerkrankungen sind die zuletzt erhobenen Befunde einzuholen und zu sichten.
Standardisierte präoperative diagnostische Verfahren (Labordiagnostik,
EKG, Röntgen Thorax) sind altersunabhängig nicht notwendig, sondern nur im Kontext des patienteneigenen sowie des eingriffsspezifischen perioperativen Risikos
durchzuführen. Den erhobenen Befunden ist auf jeden Fall bei Planung und Durchführung der Anästhesie sowie des postoperativen Procederes Rechnung zu tragen. Das Risiko für perioperative kardiovaskuläre Ereignisse
verschiedener Eingriffe ist in Tab.
1 dargestellt (Kristensen et al.
2014).
Tab. 1
Risiko für perioperative kardiovaskuläre Ereignisse verschiedener Eingriffe (Kristensen et al.
2014)
Hohes Risiko | Aortenchirurgie/große arterielle Gefäßeingriffe |
| Offene peripherarterielle Gefäßeingriffe und Amputationen an der unteren Extremität |
| Thrombembolektomie |
| Duodeno-Pankreatektomie |
| Leber- und Gallengangschirurgie |
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| OP bei Darmperforation |
| Nebennierenresektion |
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Mittleres Risiko | Intraperitoneale Eingriffe |
| Karotis-Chirurgie (Pat. mit neurologischen Symptomen) |
| Aortenchirurgie endovaskulär |
| Operationen im Kopf-Hals-Bereich |
| Große neurochirurgische, urologische, gynäkologische und orthopädische Eingriffe |
| |
| Kleine intrathorakale Eingriffe |
Niedriges Risiko | Oberflächliche Eingriffe |
| Zahn-Operationen |
| Schilddrüsen-Chirurgie |
| Augen-Chirurgie |
| Plastisch-rekonstruktive Eingriffe |
| Karotis-Chirurgie (Pat. ohne neurologische Symptome) |
| Kleinere urologische (TUR Prostatata), gynäkologische und orthopädische (Knie-Arthroskopien) Operationen |
| Mammachirurgie |
Risikoaufklärung
Neben dem operativen Eingriff stellt auch die Durchführung einer Anästhesie einen Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten dar und erfüllt somit den Tatbestand der Körperverletzung. Nur durch eine rechtswirksame Aufklärung und Zustimmung des Patienten ist diese zu rechtfertigen. Rechtswirksam ist eine
Einwilligung nur nach einem ordnungemäßen Aufklärungsgespräch und wenn der Patient zum Zeitpunkt der Zustimmung einwilligungsfähig war. Diese kann also nicht unter der Wirkung einer anxiolytischen Prämedikation oder innerhalb von 24 Stunden nach einer anderen Narkose oder Sedierung durchgeführt werden.
Die Aufklärung dient der Achtung der Würde des Patienten und wahrt dessen Selbstbestimmungsrecht an seinem Körper. Das Aufklärungsgespräch soll den mündigen Bürger individuell über Risiken sowie Chancen der geplanten Anästhesietechnik, aber auch über mögliche Behandlungsalternativen umfassend informieren. Ziel ist die informierte und freie Entscheidung des Patienten zu einem Behandlungsverfahren. Hierzu formuliert das bürgerliche Gesetzbuch (§ 630c Abs. 2 S. 1 BGB), dass der Behandelnde verpflichtet ist zu Beginn der Behandlung, falls erforderlich auch im Verlauf, in verständlicher Sprache sämtliche für die Behandlung wesentliche Umstände zu erläutern. Insbesondere Diagnose, voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, Therapie und die nach der Therapie zu ergreifende Maßnahmen sind hier explizit erwähnt.
Die Inhalte des Gesprächs sollten möglichst ausführlich dokumentiert werden. Zur Vorbereitung kann dem Patienten ein Informationsblatt ausgehändigt werden, anhand dessen auch das Aufklärungsgespräch dokumentiert werden kann, auch die Aushändigung der schriftlichen Information sollte hierbei vermerkt werden.
Zum Zeitpunkt der Aufklärung
schreibt der Gesetzgeber, dass sie „so rechtzeitig erfolgen (muss), dass der Patient seine Entscheidung über die
Einwilligung wohlüberlegt treffen kann“ (§ 630e Abs. 2 Nr. 2 BGB). Hierbei sollte kein äußerer Zwang bestehen, das heißt eine Aufklärung nach dem Anlegen der für die Operation notwendige Kleidung oder im Operationssaal bzw. einem Einleitungsraum verbietet sich. Die Aufklärung des operativen Eingriffs sollte zuvor erfolgt sein. Die Einwilligung kann in einem zeitlichen Rahmen von 6–12 Wochen vor dem Eingriff eingeholt werden. Ein länger zurückliegendes Aufklärungsgespräch sollte wiederholt werden oder dem Patienten zumindest ein Rahmen für Fragen und Besprechung von Unklarheiten angeboten werden. Für kleinere Eingriffe bei Patienten ohne schwerwiegende Vorerkrankungen kann ein Gespräch auch telefonisch durchgeführt werden, vorausgesetzt der Patient stimmt diesem Procedere zu. Die Voraussetzungen hierfür sind in Tab.
2 genannt (Weis und Gaibler
2010).
Tab. 2
Telefonische Aufklärung
nach (Weis und Gaibler
2010)
- nur bei Routineeingriffen zulässig |
- der Aufklärungsbogen muss vor dem Gespräch überreicht werden (z. B. durch den Operateur) |
- ein persönliches Gespräch muss angeboten werden und möglich sein |
- konkreten Telefontermin vereinbaren |
- am OP-Tag nochmals die Möglichkeit Fragen zu stellen geben |
- der mündlich erteilten Einwilligung muss am OP-Tag eine schriftliche, mit Verweis auf das telefonische Gespräch, folgen |
- auf eine sorgfältige Dokumentation des Telefongesprächs achten |
- bei minderjährigen Patienten ggf. beide Elterneteile telefonisch aufklären |
- Voruntersuchungen/Vorbefunde sichten und der Akte hinzufügen |
Die Aufklärung kann nur durch einen Arzt durchgeführt werden, der über den für den geplanten Eingriff notwendigen Ausbildungsstand verfügt. Das Gespräch kann delegiert werden. Der aufklärende Arzt muss den Eingriff nicht selbstständig durchführen, wohl aber sicher beschreiben, Behandlungsalternativen benennen und die Eingriffsrisiken für den individuellen Patienten einschätzen können. Eine Delegation an nichtärztliches Personal verbietet sich.
Grundsätzlich muss jeder Patient der einsichtsfähig ist, unabhängig von einer gegebenen Geschäftsfähigkeit,
aufgeklärt werden. Dies bedeutet, dass zum Beispiel auch Minderjährige neben den Sorgeberechtigten aufgeklärt werden müssen. Von einer Einsichtsfähigkeit ist nach geeigneter Überprüfung regelmäßig ab dem 14.–15. Lebensjahr auszugehen. Bei nicht komplexen Eingriffen, die mit keinen größeren Risiken verbunden sind, genügt die Aufklärung eines Elternteils, vorausgesetzt der Regelfall des gemeinsamen Sorgerechts beider Elternteile liegt vor. Dabei muss das Einverständnis des nicht anwesenden Elternteils erfragt und festgehalten werden. Bei größeren Eingriffen sollten beide Elternteile aufgeklärt werden, die
Einwilligung beider ist direkt einzuholen. Können sich die Eltern insbesondere bei Eingriffen mit dem Risiko einer langen Morbidität oder sogar Letalität nicht einigen, ist eine Entscheidung durch das Familiengericht
herbeizuführen.
Bei nicht einwilligungsfähigen erwachsenen Patienten, aus welchem Grund auch immer, ist die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung für die Gesundheitsfürsorge herbeizuführen. Bei bewusstlosen Patienten oder Notfalleingriffen geht der Gesundheitsschutz vor. Wurde für einen Patienten eine Betreuung eingerichtet, dieser ist jedoch noch oder wieder in der Lage für den geplanten Eingriff in der konkreten Situation einzuwilligen, so ist er aufzuklären. Ist der Betreute nicht einwilligungsfähig, ist er Betreuer aufzuklären.
Grundsätzlich hat jeder Patient auch das Recht auf Nichtwissen, das bedeutet er kann die Risikoaufklärung verweigern und dennoch in den Eingriff einwilligen. Dies sollte entsprechend dokumentiert werden.
Nicht jedes Risiko muss im Rahmen der Aufklärung besprochen werden, jedoch müssen häufige Risiken erläutert werden, aber auch sehr seltene Ereignisse mit einschneidender Tragweite für den Patienten, wie zum Beispiel die Querschnittlähmun
g nach einer
rückenmarknahen Regionalanästhesie müssen Erwähnung finden. Eine genaue Häufigkeitsangabe oder eine Orientierung an den Häufigkeitsdefinitionen von Beipackzetteln von Medikamenten ist nicht notwendig. So entschied der Bundesgerichtshof, dass der „allgemeine Sprachgebrauch“ hinreichend für die Definition von Häufigkeitsangaben ist: „Gelegentlich“ bezeichne damit „eine gewisse Häufigkeit, die größer als ‚selten‘, aber kleiner als ‚häufig‘ ist“ (BGH, 29.01.2019 – VI ZR 117/18).
Kommen für einen bestimmten Eingriff verschiedene Anästhesieverfahren in Frage, ist insbesondere hier die spezifische Aufklärung über Risiken und Chancen essenziell für die selbstbestimmte Entscheidung des Patienten. Hierzu schreibt der Gesetzgeber im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 630e Abs. 1 S. 3 BGB): „Auch auf Alternativen zu der Maßnahme ist hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden innerhalb des medizinischen Standards zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können“.
Die Beratung bezüglich der Auswahl sollte immer kontext-sensitiv erfolgen unter Berücksichtigung von speziellen Risikofaktoren durch Begleiterkrankungen des Patienten, aber auch des sozialen Umfeldes, wie zum Beispiel die Folgen einer Nervenläsion nach
Regionalanästhesie für einen Profi-Sportler oder Berufsmusiker im Vergleich zu einer Stimmbandläsion nach Intubationsnarkose für einen Sänger oder Schauspieler. Diese
Aufklärungspflicht wird nicht dadurch eingeschränkt, dass die Behandlungsalternative aus personellen, organisatorischen Gründen oder wegen fehlenden Know-hows nicht durchgeführt werden kann. Auf das grundsätzliche Bestehen der Alternative
kommt es an. Eine Aufklärung über alternative Behandlungsoptionen ist nicht erforderlich, wenn eine theoretisch gegebenes Alternativverfahren im konkreten Fall ausscheidet (BGH, 07.04.1992, VI ZR 224/91) sowie bei gleichwertigen und anerkannten OP-Methoden mit gleichen Risikospektren und gleichen Erfolgsaussichten. Liegen patientenspezifische Risikofaktoren für eine
Allgemeinanästhesie vor, ist über Behandlungsalternativen wie etwa eine Regionalanästhesie aufzuklären. Erfolgt dies nicht, liegt ein Aufklärungsversäumnis und damit keine rechtswirksame
Einwilligung vor (Kessler et al.
2016).
Intraoperativ trägt der Anästhesist die Verantwortung für die Durchführung einer Bluttransfusio
n. Bei elektiven Eingriffen mit einer Transfusionswahrscheinlichkeit >10 % muss im Aufklärungsgespräch über die Risiken einer allogenen
Bluttransfusion sowie die alternativen, autologen Hämotherapieverfahren
hingewiesen werden. Auf die Möglichkeit autologer Verfahren muss auch hingewiesen werden, wenn diese in der behandelnden Klinik nicht zum Einsatz kommen.
Eine postoperative Sicherungsaufklärung
bezüglich der perioperativen Gabe von Blutprodukten ist zwingen notwendig. Nach Notfalleingriffen muss der Patient über die möglichen Risiken in Kenntnis gesetzt werden. Aber auch nach elektiven Operationen muss der Patient wissen, ob Blutprodukte bei ihm zur Anwendung kamen. Mittlerweile wird die Sicherungsaufklärung auch für die perioperative Gabe von
Metamizol insbesondere hinsichtlich Symptomen und Risiken einer Agranulozytose
gefordert (Stamer et al.
2019).
Direkt vor dem Eingriff müssen sich die behandelnden Ärzte nochmals davon überzeugen, dass die
Einwilligung nach wie vor dem freien Willen des Patienten entspricht, da sich dieser ja in der geforderten Bedenkzeit zwischen Eingriff und Aufklärung anderweitig entschieden haben könnte (OLG Köln, 16.01.19 – 5 U 29/17) (Bürkle und Schallner
2020; Gemeinsame Empfehlung DGAI, DGCH und DGIM
2017).
Behauptet ein Patient in einem
Schadensersatzprozess nicht korrekt aufgeklärt worden zu sein, so liegt die Beweislast für eine ordnungsgemäße Aufklärung beim behandelnden Arzt.
§ 630 h Abs. 2 BGB: „Der Behandelnde hat zu beweisen, dass er eine
Einwilligung gemäß § 630d eingeholt und entsprechend den Anforderungen des § 630e BGB aufgeklärt hat. Genügt die Aufklärung nicht den Anforderungen des § 630e BGB, kann der Behandelnde sich darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte.“
Die Erinnerung an ein konkretes Aufklärungsgespräch ist in der Regel schwierig und lässt sich nur aus der Dokumentation und den Notizen in der Patientenakte rekonstruieren. Der BGH entschied in einem konkreten Fall, hier war eine spezielle Operationstechnik in der Dokumentation des Aufklärungsgesprächs nicht erwähnt worden, dass ein Verweis auf die „gängige Praxis“ solcher Aufklärungsgespräche genügt. Denn an den dem Arzt obliegenden Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung darf „allerdings keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Das Gericht darf seine Überzeugungsbildung gemäß § 286 ZPO auf die Angaben des Arztes über eine erfolgte Risikoaufklärung stützen, wenn seine Darstellung in sich schlüssig und „einiger“ Beweis für ein Aufklärungsgespräch erbracht ist. Dies gilt auch dann, wenn der Arzt erklärt, ihm sei das strittige Aufklärungsgespräch nicht im Gedächtnis geblieben. Das unterzeichnete Einwilligungsformular ist – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht – ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs“. Hierdurch soll die vom BGH erkannte „Gefahr, die sich aus dem Missbrauch seiner (Arzt) Beweislast durch den Patienten zu haftungsrechtlichen Zwecken ergeben kann“, etwas reduziert werden (BGH, 28.01.2014 – VI ZR 143/13).