Einleitung
Als Folge einer akuten oder progredienten Schädigung des Rückenmarks und der Cauda equina (Traumen, Tumoren, entzündliche Erkrankungen des Myelons oder der Wirbelsäule, vaskuläre und metabolische Erkrankungen sowie toxische Einwirkungen) entwickelt sich eine
Querschnittlähmung mit komplettem oder inkomplettem Schädigungsmuster der
motorischen,
sensiblen und
vegetativen Funktionen.
Die Funktionsunterbrechung führt in Abhängigkeit von ihrem Ausmaß und ihrer Höhe zu teilweisen oder vollständigen
Ausfällen der Gefühlsempfindungen, der aktiven Bewegung der Gliedmaßen, der Muskulatur des Zwerchfells, des Brustkorbs und des Bauches sowie der Funktionen von Harnblase und Mastdarm sowie der Sexualfunktion, ferner zu Regulationsstörungen von
Atmung und Kreislauf.
Klassifikation
Die Dokumentation der erhobenen Befunde einer
Querschnittlähmung sollte nach der International Standards for neurological Classification of Spinal Cord Injury
(ISNCSCI- Klassifikation
) und nach der ASIA Impairment Scale (AIS)
erfolgen. Hierbei ist die Untersuchung des Segmentes S4–S5 mit Einschätzung des perianalen Empfindens und der willkürlichen Analsphincterkontraktion
notwendig, um definitionsgemäß über eine komplette oder inkomplette Querschnittlähmung entscheiden zu können. Eine komplette Querschnittlähmung liegt nur vor, wenn kein perianales Empfinden und keine willkürliche Analsphincterkontraktion mehr vorhanden sind (Tab.
1)
Tab. 1
AIS-Klassifikation (eigene Darstellung entsprechend den Vorgaben der American Spinal Cord Association)
A – Komplett | Keine sensible oder motorische Funktion ist in den sakralen Segmenten S4–S5 erhalten |
B – Inkomplett | Sensible, aber keine motorische Funktion ist unterhalb des neurologischen Niveaus erhalten und dehnt sich bis in die sakralen Segmente S4/S5 aus |
C – Inkomplett | Motorische Funktion ist unterhalb des neurologischen Niveaus erhalten und die Mehrzahl der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus haben einen Muskelkraftgrad von weniger als 3a |
D – Inkomplett | Motorische Funktion ist unterhalb des Schädigungsniveaus erhalten und die Mehrheit der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus haben einen Muskelkraftgrad größer oder entsprechend 3 |
E – Normal | Sensible und motorische Funktionen sind normal |
Die Funktionsverbesserung nach Erstbehandlung und Rehabilitation bei erlittener
Querschnittlähmung ist die Summation einiger parallel ablaufender Prozesse. Trotz aller Interventionen verbleiben 70–80 % der Patienten, die initial eine komplette Querschnittlähmung vorweisen, in der Gruppe AIS A. Etwa 15–20 % können sich von AIS A nach B verbessern, 8 % von A nach C. Bei den Patienten, die initial der Gruppe AIS B zuzuordnen sind, verbleiben 20 % in B, 40 % können sich von B nach C verbessern, 30 % von B nach D (Khorasanizadeh et al.
2019). Auf die Nutzung eines Rollstuhls sind jedoch 70 % der Patienten angewiesen.
Lähmungsbedingte Komplikationen
Lähmungsbedingte
Komplikationen können unmittelbar nach Eintritt der
Querschnittlähmung auftreten, aber auch im weiteren Verlauf erst nach vielen Jahren und sind oft im gestörten Vegetativum begründet. Hierzu gehören:
-
Pneumologische Probleme, insbesondere bei Halsmarkgelähmten, hochthorakaler Lähmung sowie bei Querschnittgelähmten im hohen Alter, ggf. mit einhergehender vollständiger Abhängigkeit von
maschineller Beatmung
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Dysphagie
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Orthostatische Dysregulation
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lähmungsbedingte Bradykardien
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Gestörte Wärmeregulation, Hypo- und Hyperthermien
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Ödemneigung an den Extremitäten
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Gestörte Hauttrophik
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Dekubitalulzera
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Thrombosen
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Spinale Spastiken
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Neuropathische Schmerzen
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Inkontinenz bei neurogener Funktionsstörung des unteren Harntraktes
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Hyperreflexie bei bestehender Detrusor- Sphinkter- Dyssynergie (DSD)
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Urologische Komplikationen, einschließlich Steinbildung und Funktionsverlust der Niere
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Inkontinenz bei neurogener Darmfunktionsstörung, auch mit Gefahr des Auftretens eines
Ileus
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Megakolon
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Osteopenie
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Periartikuläre Verkalkung der hüftbegleitenden Muskulatur
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Lähmungsbedingter Verschleißschaden der Wirbelsäule
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Verschleißschaden durch Stützbelastungen (Rotatorenmanschette, Karpaltunnel)
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Immuninsuffizienz
Nach wie vor sind die Folgen der
neurogenen Funktionsstörung des unteren Harntraktes von lebenslimitierender Bedeutung (Lidal et al.
2007). Aufsteigende Harnwegsinfekte können zu Nierenschädigungen führen, auch sekundär kann es zu schweren Veränderungen des Harntrakts kommen. Vorrangiges Ziel ist es, den oberen Harntrakt vor den Auswirkungen der Blasenfunktionsstörung zu schützen. Hierbei ist eine neuro-urologische Diagnostik und Behandlung von größter Wichtigkeit.
Die neurogene Darmfunktionsstörung ist häufig für die Betroffenen mit gravierenden sozialen Auswirkungen im Alltag verbunden. Die Darmentleerung kann trotz Einführung eines Abführregimes, unterschiedlich für den schlaffen bzw. spastischen Darm, sehr zeitaufwendig und nicht sicher kontrollierbar sein.
Infolge eines Dehnreizes des Darmes oder der Harnblase kann es zu einer
autonomen Dysreflexie kommen, die eine lebensbedrohliche autonome Sympatikusreaktion darstellt. Angegeben werden z. B.
Kopfschmerzen, vermehrtes Schwitzen und körperliche Unruhe. Blutdruckspitzen von 250 mm Hg sind keine Seltenheit und können zu hypertonen Gehirnblutungen führen. Bei Vorliegen einer autonomen Dysreflexie kann es im Einzelfall zu so gravierenden Einschränkungen kommen, dass sogar eine MdE von 100 % vorliegen kann und eine permanente Krankenbeobachtung vorgehalten werden muss, um bedarfsabhängig zur Vermeidung von vital bedrohenden vegetativen Symptomen (Anstieg des Blutdrucks) z. B. zu kathetern.
Neuropathische Schmerzen nach Rückenmarkschädigung treten häufig auf. Aufgrund der limitierten therapeutischen Möglichkeiten schränken sie die
Lebensqualität und somit die Teilhabefähigkeit der Betroffenen sehr ein.
Die
spinale Spastik entwickelt sich bei 53–80 % der Patienten mit Rückenmarkverletzung, die Inzidenz korreliert mit der Läsionshöhe und dem neurologischen Defizit (Rekand et al.
2012). Klinisch manifestiert es sich u. a. in muskulärem Hypertonus, Klonus, einschießenden Spasmen sowie im klassischen Beuge- und Streckspastik (Mukherjee und Chakravarty
2010). Eine spastische Muskeltonuserhöhung kann mitunter vom Betroffenen gewinnbringend eingesetzt werden, z. B. für eine Rumpfstabilität beim Sitzen oder beim Transfer. Folgeschäden, wie Kontrakturen, Dekubitalulzera, Unterbrechung des nächtlichen
Schlafes, spastik-assoziierte Schmerzen, etc. sollten vermieden bzw. gelindert werden, um eine Erleichterung der Pflegemaßnahmen und ebenso einen positiven Einfluss auf Funktionalität, Mobilität und
Lebensqualität zu haben.
Regelhaft kann es auch zu einer
Störung der Sexualfunktion kommen, die die
Lebensqualität der querschnittgelähmten Menschen negativ beeinflusst, diese Auswirkungen sind bei der Einschätzung der MdE mit 5–10 % zu berücksichtigen.
Einfluss der Hilfsmittelversorgung:
Bei Vorliegen einer
Querschnittlähmung ist die Hilfsmittelversorgung von herausragender Bedeutung. Allerdings bleibt es auch weiterhin nur bei einem mittelbaren Ausgleich der Behinderung.
Der Adaptivrollstuhl, die Unterarmgehstützen und auch der Rollator können nicht das normale Gehen ersetzen. Auch modernste Technik wie z. B. das Exoskelett stellt keinen unmittelbaren Behinderungsausgleich dar. Auch moderne Rollstuhlzuggeräte oder Restkraft verstärkende Zusatzantriebe, wie zuschaltbare elektrische Radnabenantriebe können das Alltagsleben im Einzelfall erleichtern, jedoch ersetzen auch diese
Hilfsmittel nicht die Funktion des Stehens und Gehens.
Bei Bewertung der vorhandenen Steh- und Teilgehfähigkeit ist der praktische Nutzen der Hilfsmittelversorgung in den Focus zu stellen. Wenige Schritte erschließen noch nicht das nähere Wohnumfeld. Es ist zu hinterfragen, wie viel Hilfe benötigt der Betroffene z. B. beim Verladen des Rollstuhls, beim Transport des Rollators in die Wohnung, beim Anlegen der Orthese, etc.
Gutachtliche Bewertung
Die Einschätzung der Folgen einer Querschnittslähmung erfolgt im Wesentlichen aus dem Lähmungsausmaß und den daraus resultierenden Funktionseinbußen sowie der Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen, aber auch mittelbaren Folgen der
Querschnittlähmung (z. B. Schmerzen und psychische Beeinträchtigungen) müssen ggf. darüber hinaus Berücksichtigung finden. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist bei der Einschätzung der
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf die anerkannten MdE-Tabellen zurückzugreifen, beim Grad der Schädigungsfolge (GdS)/Grad der Behinderung (GdB) auf die in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) geregelten Tabellensätze.
Komplette Querschnittlähmung
Bei Vorliegen einer kompletten
Querschnittlähmung erfolgt die Einstufung grundsätzlich unabhängig vom Lähmungsniveau mit einer GdB/GdS 100 (VersMedV) und einer MdE von 100 % (SGB VII, gesetzliche Unfallversicherung) auch die
Invalidität (AUB der
privaten Unfallversicherung) wird hierbei aus der Kombination von Bewertung innerhalb (Lähmungen der Gliedmaßen) und außerhalb der Gliedertaxte (Blasen-/Mastdarmstörung, Instabilität des Rumpfskelettes, etc.) regelmäßig den Invaliditätsgrad von 100 % der Versicherungssumme erreichen.
Inkomplette Querschnittlähmung
Bei inkompletten
Querschnittlähmungen ist wesentliches Kriterium das Vorhandensein einer Störung der Blasen- und Mastdarmfunktion. Davon ausgehend, dass das Vorliegen einer Funktionsstörung des unteren Harntraktes bereits mit GdB/GdS 50 zu beurteilen ist, kann eine Einstufung bei bestehenden gewichtigen Teillähmungen beider Arme und Beine nicht bei 80 liegen, sondern wird im Regelfall ebenfalls mit GdB/GdS 100 eingestuft (VersMedV). Ähnlich ist die Einstufung bei unvollständigen Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigungen mit Teillähmung beider Beine, jedoch Störung der Blasen- und Mastdarmfunktion zu sehen.
Keine Berücksichtigung fanden bisher die vegetativen Dysregulationen und vor allem auch die Auswirkungen der Spastik und des neurogenen Schmerzsyndroms. Letzteres fand nur dann Berücksichtigung, wenn sich hierdurch ein funktionelles Defizit ergab. Schmerz bedeutet jedoch immer auch eine Belastungseinschränkung, die natürlich auch die bestehende
Erwerbsfähigkeit beeinflusst. Ebenso muss auch die medikamentöse Therapie mit ihren Nebenwirkungen betrachtet werden und nicht zuletzt auch die psychische Situation des Betroffenen.
Die Einstufung unterhalb von GdB/GdS 100 bzw. MdE 100 % hat dann zu erfolgen, wenn im Einzelfall tatsächlich keine oder nur geringe Folgekomplikationen vorliegen und tatsächlich bzgl. der Fortbewegung vollständig oder zumindest teilweise auf die Fortbewegung mit dem Rollstuhl verzichtet werden kann. Selbstverständlich ist dann auch das Lähmungsniveau zu berücksichtigen.
Ausgehend von einer MdE in Höhe von 100 % bei Vorliegen einer kompletten Querschnittlähmung, kann eine Reduzierung der MdE bei inkompletter Querschnittlähmung nur in nachstehenden Fällen erwogen werden:
Komplette Querschnittlähmungen
| |
Vollständige Halsmarkschädigung | 100 |
Vollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung | 100 |
Inkomplette Querschnittlähmungen
| |
C0–C3 | mit bestehender Überwachungspflicht ( Atmung, autonome Dysreflexie) | 100 |
C4–C8 | Partieller Funktionserhalt liegt vor: – eine Teilgehfähigkeit kann vorliegen und auch ein erheblicher Erhalt der Hand- und Armfunktionen – ggf. ist Sensibilität und Tiefensensibilität nur teilweise eingeschränkt (es liegen ggf. keine koordinativen Störungen vor) – Es besteht keine Überwachungspflicht (Atmung, autonome Dysreflexie) – Die Blasen- und Mastdarmfunktion sind ggf. noch erhalten oder nur minimal eingeschränkt – Spinale Spastik und Deafferentierungsschmerz sind soweit kompensiert, dass sich daraus keine funktionellen Einschränkungen ergeben | 70–100 |
Th 1– Th 10 | Partieller Funktionserhalt liegt vor: – Eine Teilgehfähigkeit kann vorliegen. Hand- und Armfunktionen sind vollständig erhalten – ggf. ist Sensibilität und Tiefensensibilität nur teilweise eingeschränkt (es liegen ggf. keine koordinativen Störungen vor) – Einschränkungen der Atmung bestehen nicht – autonome Dysreflexien können ausgeschlossen werden – Die Rumpfstabilität ist ggf. nicht eingeschränkt – Blasen- und Mastdarmfunktion sind ggf. noch erhalten oder nur minimal eingeschränkt – Spinale Spastik und Deafferentierungsschmerz sind soweit kompensiert, dass sich daraus keine funktionellen Einschränkungen ergeben | 70–100 |
Th 11 – S2, einschließlich Cauda-Syndrom | Partieller Funktionserhalt liegt vor: – Teilgehfähigkeit liegt vor – Sensibilität und Tiefensensibilität ist nur teilweise eingeschränkt (es liegen keine koordinativen Störungen vor) – keine Einschränkung der Atmung – ausreichende Rumpfstabilität – Blasen- und Mastdarmfunktion sind ggf. noch erhalten oder nur minimal eingeschränkt – Spinale Spastik (soweit keine schlaffe Lähmung ab L vorliegt) und Deafferentierungsschmerz sind soweit kompensiert, dass sich daraus keine funktionellen Einschränkungen ergeben | 60–100 |
Sonderfall: Conus-Syndrom eine isolierte Schädigung des Conus medullaris (S3–S5, in Höhe LWK1) | Symptome: – Störung der Miktion, Defäkation und Sexualfunktion – „Reithosenanästhesie“ – Reflexe segmental, Analreflex(S3–S5), Bulbokavernosusreflex (S3–S4) erloschen – Gehfähigkeit erhalten, Hinken bei gestörter Gluteusinnervation | 60–80 |
Sollte durch den Unfall eine psychische Unfallfolge zurückbleiben (
posttraumatische Belastungsstörung o. ä.) oder sollte sich als Folge der Beeinträchtigungen eine andersartige psychische Erkrankung einstellen, muss dies bei der MdE-Einschätzung berücksichtigt werden.
In jedem ist die MdE-Festsetzung eine Einzelfallentscheidung. Eine Komplett-Begutachtung sollte durch Paraplegiologen, in einem Zentrum für Rückenmarkverletzte bzw. Querschnittgelähmte, vorgenommen werden. Bei speziellen Fragestellungen kann eine Zusatzbegutachtung auf neuro-urologischem, unfallchirurgischem, psychotraumatologischem und neurologischem Fachgebiet erforderlich sein.
Bei inkompletten
Querschnittlähmungen sollte eine regelmäßige Überprüfung erfolgen, da Verschlechterungen nicht auszuschließen sind. Hierbei ist z. B. an das Auftreten einer
Syringomyelie als Spätkomplikation einer zumeist traumatisch bedingten Querschnittlähmung zu denken.