Einführung (Historie)
Die rechtliche Betreuung ist erstmals am 1. Januar 1992 mit dem Betreuungsgesetz (BtG, Bundesgesetzblatt Teil I 1990 S. 2002) eingeführt worden. Das sog. Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige vom trat am 01.01.1992 in Kraft. Insgesamt umfasste es ca. 300 Paragrafen in um die 50 unterschiedlichen Gesetzen. Der Schwerpunkt lag jedoch im Bürgerlichen Gesetzpunkt, in dem das Kapitel über Vormundschaften für Volljährige gestrichen und durch die Regelungen zur gesetzlichen Betreuung (§§ 1896 bis 1908i BGB a. F.) ersetzt wurden (Valdes-Stauber et al.
2012). Betreuung als Rechtsfürsorge zur Unterstützung der betroffenen Person ist an die Stelle von Entmündigung, Vormundschaft für Erwachsene und Gebrechlichkeitspflegschaft getreten. Die rechtliche Betreuung stellt ein flexibles Rechtsinstrument zur Unterstützung von Erwachsenen dar, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht oder nicht mehr vollumfänglich besorgen können. Sie ist strikt am individuellen Bedarf des kranken oder behinderten Menschen ausgerichtet, berücksichtigt seine verbliebenen Fähigkeiten und wahrt seine Selbstbestimmung. Rechtseingriffe werden auf das erforderliche Maß beschränkt. Der gerichtlich bestellte Betreuer unterstützt den Betreuten in einem gerichtlich genau festgelegten Aufgabenkreis dabei, seine Angelegenheiten rechtlich selbst zu besorgen und sein Selbstbestimmungsrecht zu wahren. Er macht von seiner Vertretungsmacht nur Gebrauch, soweit dies erforderlich ist. Dem Willen und den Wünschen der betroffenen Person hat der Betreuer grundsätzlich zu entsprechen, es sei denn deren Umsetzung gefährdet den Betreuten erheblich oder ist dem Betreuer nicht zumutbar.
Die Verfahrensregeln für den Umgang mit diesen Personen wurden bereits 1992 im Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit (FGG) vereinheitlicht. Mit dem dritten Gesetz zur Änderung des
Betreuungsrechts, das am 01.09.2009 in Kraft trat, wurden u. a. die verbindliche Wirkung von in Patientenverfügungen niedergelegten Willenserklärungen definiert (§§ 1901a und b BGB a. F.) und die Verfahrensvorschriften für die Betreuung im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) in den §§ 271–341 zusammengefasst. Seither ist das Betreuungsgericht zuständig für alle Betreuungsangelegenheiten. Die öffentlich-rechtlichen Unterbringungsgesetze der Länder (PsychKG oder Unterbringungsgesetze) wurden den Vorschriften des FamFG angepasst. Auch für diese Fälle ist das Betreuungsgericht zuständig.
Das Gesetz setzt zudem eine Hierarchie von Befugnissen und Entscheidungswegen fest, die ein abgestuftes und den jeweiligen Bedürfnissen angepasstes Reagieren ermöglichen sollen. Im Prinzip wurde versucht, dem Ausmaß der jeweiligen Einschränkungen des Betroffenen Rechnung zu tragen und die Rechte des Betroffenen bei jeder Entscheidung so weit als möglich zu respektieren. Hierbei ist auch der zeitliche Verlauf von Erkrankungen und Behinderungen zu berücksichtigen. Insbesondere wird einer Vollmacht, die der Patient für bestimmte Bereiche aus eigenem Interesse erteilt, der Vorrang vor einer Betreuung eingeräumt (§ 1896 Abs. 2 BGB a. F.). Die Vorsorgevollmacht
sollte dabei ausgestellt werden, solange noch keine Beeinträchtigungen die Geschäftsfähigkeit und die
Einwilligungsfähigkeit in Frage stellen.
Am 05. März 2021 wurde das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und
Betreuungsrechts vom Deutschen Bundestag beschlossen, dass am 01.01.2023 in Kraft getreten ist. Es handelt sich um die wohl größte Reform des Kindschafts-, Vormundschafts-, Pflegschafts- und Betreuungsrechts seit dem Bestehen des BGB. Die Vorschriften des Vormundschafts- und Betreuungsrecht wurden neu geregelt. Das Betreuungsrecht ist jetzt Leitmaterie, auf die das Vormundschaftsrecht verweist (§ 1798 Abs. 2 BGB n.F.). Die noch konsequentere Ausrichtung des Betreuungsrechts und der Betreuungspraxis auf das Selbstbestimmungsrecht der betreuten Person ist zentrales Anliegen des Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 (Bundesgesetzblatt Teil I S. 882), mit dem das Betreuungsrecht insgesamt neu geregelt wurde. Die neuen Vorschriften haben ggü. dem bisherigen Recht auch den Vorteil, dass sie wesentlich übersichtlicher, verständlicher und damit praxistauglicher gestaltet sind.
Das neue (reformierte) Betreuungsrecht 2023
Leitmotive und Ziele
Bereits das „alte“ bisherige
Betreuungsrecht (1992) sollte dem Schutz und der Unterstützung erwachsener Personen dienen, die – vor allem- wegen psychischer Erkrankung bzw. geistiger oder seelischer Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr selbst regeln können und deshalb der Hilfe bedürfen. Rechtliche Modifikationen nach dem ersten in Kraft treten 1992 sollten dabei die Selbstbestimmung dieses Personenkreises weiter stärken, was auch durch die Rechtsprechung bestätigt wurde. Ziel der jetzigen Reform (Betreuungsrecht 2023) ist es, das Gebot größtmöglicher Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen mit Behinderungen (Art 12 UN-BRK) sowohl im Vorfeld als auch während einer Betreuung durchgängig zu verwirklichen bzw. zu stärken.
Die Gesetzesänderung wurde im
Betreuungsrecht u. a. erforderlich, nachdem zwei Evaluationen (Nolting et al.
2018; BMJV
2018) feststellten, dass das Selbstbestimmungsrecht im Sinne von § 12 der UN-Behindertenrechtskonvention „nicht durchgängig zufriedenstellend verwirklicht“ sei (BMJ
2021), Betreuungen zu häufig anstelle von eigentlich vorgeschaltete soziale Hilfen eingerichtet würden, und gewisse Mängel in den erforderlichen Fachkenntnissen und -kompetenzen insbesondere bei ehrenamtlichen, jedoch auch bei Berufsbetreuern festgestellt wurden. Der Gesetzgeber (bzw. das zuständige Bundesministerium der Justiz BMJ) hat sich bei der Reform deshalb von diesen Erkenntnissen und den nachfolgenden öffentlichen Diskussionen in den Jahren 2015–2017 leiten lassen (Forschungsprojekte „Qualität in der rechtlichen Betreuung“, BMJV
2018), was sich insbesondere bei der Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatz in die betreuungsrechtlichen Praxis sowie Betonung vorgelagerter anderer Hilfen zeigt. Unter anderem soll nun durch die Gesetzesreform eine schärfere Trennung zwischen sozialrechtlichen Hilfen und der gesetzlichen Vertretungs- und Schutzfunktion einer gesetzlichen Betreuung auf der anderen Seite erreicht werden (§ 1814 Abs. 3 BGB), der Betreuer soll nur dann tätig werden, wenn der Betreute dazu nicht in der Lage ist, und dessen vorhandene Fähigkeiten fördern und ausbauen helfen (§ 1821 Abs. 1,2 und 6). Das Primat der Wünsche des Betreuten wird gestärkt werden (§ 1821 BGB), Einrichtung und Kontrolle einer gesetzlichen Betreuung gegenüber dem Betreuten transparenter durchgeführt werden. Das neu in Kraft tretende Betreuungsorganisationsgesetz (BtOG) strebt eine zunehmende Professionalisierung an, unter anderem durch eine Stärkung professioneller Betreuungsvereine und die Einführung eines Registers für Berufsbetreuer.
Zentrale Elemente bzw. Leitmotive der Reform sind:
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Mehr Unterstützung statt Vertretung
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Vorrang der Wünsche des Betreuten
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Einheitliche zentrale Regelungen in den neuen §§ 1814–1881 BGB
Um das Selbstbestimmungsrechts des Betreuten bestmöglich zu gewährleisten, soll die Unterstützung der Betroffenen unbedingt Vorrang vor der rechtlichen Vertretung haben, die auf die unbedingt erforderlichen Bereiche beschränkt sein soll. Von den reformbedingten Änderungen sind vor allem Betreuer, Betreuungsvereine, Behörden und Gerichte betroffen. Der Wunsch des Betreuten ist der zentrale Maßstab für das neue
Betreuungsrecht. Alle relevanten Paragrafen finden sich nunmehr in den §§ 1814–1881 BGB neustrukturiert geregelt. Das Betreuungsrecht ist damit wesentlich übersichtlicher und verständlicher im Gesetz verankert, was nicht nur den professionellen Rechtsanwendern, sondern vor allem auch den Betroffenen, den privaten Betreuern aber auch Ärzten bzw. Sachverständigen Verständnis und Anwendung erleichtert.
Wichtige Neuregelungen im Betreuungsrecht 2023
Die wohl wichtigsten fünf Bereiche der Betreuungsreform betreffen:
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Die Betreuerbestellung (§ 1814 BGB)
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Die Führung der Betreuung (§ 1821 BGB)
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Den Vorrang der Vorsorgevollmacht
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Die befristete Ehegatten-Gesundheitsvollmacht
Ausblick
Erst die Zukunft wird zeigen, wie sich die neuen Regelungen in der Rechtspraxis bzw. der Realität bewähren. Einige, wie z. B. die Ehegattenvertretung in Akutsituationen und die Haftung des Betreuers, sind bereits im Vorfeld auf Kritik gestoßen. Ebenso bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang die bisherige Rechtsprechung auf das neue Recht Anwendung findet, vor allem dort, wo der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe benutzt (z. B. bei den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuung).
Die Betreuerbestellung (§ 1814 ff BGB)
Der Gesetzgeber sieht im neuen § 1814 BGB die „
Fundamentalnorm“ des neuen
Betreuungsrecht (Deutscher Bundestag, S. 229)
„§ 1814 BGB Voraussetzungen
(1) Kann ein Volljähriger seine Angelegenheiten ganz oder teilweise rechtlich nicht besorgen und beruht dies auf einer Krankheit oder Behinderung, so bestellt das Betreuungsgericht für ihn einen rechtlichen Betreuer (Betreuer).
(2) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden.“
Bereits bei der Bestellung des Betreuers soll zukünftig weniger das medizinische Defizit des Betroffenen in Vordergrund stehen (so noch § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB a. F.), als vielmehr der konkrete Unterstützungsbedarf, der auf einer Krankheit oder Behinderungen gründen muss.
Objektiver Betreuungsbedarf (Unterstützungsbedarf)
Im Gegensatz zum früheren § 1896 Abs. 1 BGB a. F. setzt das Gesetz nunmehr den tatsächlichen Handlungsbedarf, d. h. die Unfähigkeit des volljährigen Betroffenen seine Angelegenheiten zu besorgen, an die erste Stelle der Prüfung und nicht die Erkrankung bzw. Behinderung. Nicht der medizinische Befund soll das vorrangig festzustellende Tatbestandmerkmal sein, sondern der individuelle, konkret zu bestimmenden objektive Unterstützungsbedarf. Durch den Begriff „rechtlich“ wird deutlich gemacht, dass betreuungsrelevant nur solche Bedarfe sind, die durch einen Betreuer auch wahrgenommen werden können bzw. müssen (Deutscher Bundestag
2020, S. 230 f.).
Subjektive Betreuungsbedüftigkeit (Krankheit oder Behinderung)
Wie bisher setzt die Anordnung einer Betreuung neben dem objektiven Unterstützungsbedarf auch eine subjektive Betreuungsbedüftigkeit voraus, d. h. sie muss auf eine Krankheit bzw. Behinderung des Betroffenen beruhen. Dieses einschränkende Erfordernis ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Anordnung einer Betreuung einen Eingriff in das Recht auf individuelle und selbstbestimmte Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG darstellt, der nur unter strengen Voraussetzungen zulässig ist. (Vgl. BVerfG Beschluss vo 23.03.2016, 1 BvR 184/13). Auffällig ist, dass § 1814 Abs. 1 BGB den Begriff der „psychischen Krankheit“ nicht mehr benutzt, sondern nur noch von Erkrankung bzw. Behinderungen spricht. Damit will das Gesetz jedoch ausschließlich einer möglichen Diskriminierung vorbeugen, da es im Lichte der UN-BRK nicht mehr angezeigt ist, psychische Erkrankungen besonders herauszustellen und diese Gruppe von betroffenen Menschen als potenziell besonders betreuungsbedürftig erscheinen zu lassen. Da es sich um eine rein sprachliche, nicht inhaltlich qualitative Änderung handelt, soll sich der potenzielle Adressatenkreis einer Betreuung durch die neue Regelung zukünftig nicht ändern, d. h. weder eingeschränkt noch ausgeweitet werden. So geht der Gesetzgeber davon aus, dass die bisherige Rechtsprechung des BGH sowohl zu den Abhängigkeitserkrankungen und dem notwendigen Schweregrad als auch zu psychischen Erkrankungsbildern weiter Geltung hat (Deutscher Bundestag
2020, S. 230 f.). Allerdings wird erst die zukünftige höchstrichterliche Rechtsprechung zeigen, ob die semantischen Änderungen des Gesetzes nicht doch Einfluss auf die Eingangskriterien (subjektive Betreuungsbedüftigkeit) haben und wenn ja bei welchen Krankheitsformen (z. B. Abhängigkeitserkrankungen) dies relevant sein wird (Kämmer
2023).
Unter „psychischer Krankheit“ im Sinne des früheren § 1896 BGB a. F. wurden körperlich begründbare und endogene Psychosen, Abhängigkeitserkrankungen mit entsprechendem Schweregrad, Neurosen und
Persönlichkeitsstörungen verstanden, unter „geistiger Behinderung“ angeborene und frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte und unter „seelischer Behinderung“ alle psychischen Beeinträchtigungen, die als dauerhafte Folgen
psychischer Krankheiten auftreten.
Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) weist in seiner Broschüre „Betreuungsrecht“ darauf hin, dass sowohl körperlich als auch psychische Erkrankungen die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung begründen können. Beispielhaft werden Demenzerkrankungen, Krankheiten als Folge von Gehirnschädigungen aber auch Abhängigkeitserkrankungen (z. B. durch medikamenten-, Drogen- oder Alkoholmissbrauchs) mit entsprechendem Schweregrad genannt. Unter Behinderungen fallen demnach u. a. angeborene oder erworbene Hirnschädigungen mit Intelligenzdefekten verschiedener Schweregrade. Aber auch körperliche Behinderungen können ausreichen, wenn sie die Fähigkeit zur selbstständigen Besorgung der eigenen Angelegenheiten aufheben oder wesentlich behindern (z. B. bei dauernder Bewegungsunfähigkeit). Allerdings erfolgt die Betreuungseinrichtung in diesem Fällen nur auf besonderen Antrag der Betroffenen
https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Betreuungsrecht.html.
Kausalität
Der objektive Betreuungsbedarf und die subjektive Betreuungsbedürftigkeit müssen kumulativ vorliegen und nachgewiesen sein. Zudem müssen zwischen dem jeweils festzustellenden Unterstützungsbedarf und den diesen verursachenden Krankheit bzw. Behinderung ein kausaler Zusammenhang bestehen. Hier liegt ein Schwerpunkt der gutachtlichen Tätigkeit. Zwar war dieser Zusammenhang auch nach der früheren Regelung schon erforderlich. Aufgrund des jetzt noch offeneren Krankheits- bzw. Behindertenbegriffs, muss der Gutachter nun vermutlich noch deutlicher (konkreter) als bisher das Krankheitsbild, dessen Folgen und Auswirkungen beschreiben, wobei die gestellte Diagnose allein nicht ausreichend ist, die Ursächlichkeit zu belegen (Deutscher Bundestag
2020, S. 230 f.).
Besonderheiten bei rein körperlicher Behinderung (§ 1814 Abs. 2 BGB)
Gegen den „freien“ Willen eines Volljährigen darf ein Betreuer – wie bisher – nicht bestellt werden (§ 1814 Abs. 2 BGB). Bei körperlicher Behinderung kann eine Betreuung zudem grds. nur auf Antrag der Betroffenen errichtet werden (§ 1814 Abs. 4 BGB).
Dies bedeutet, dass eine Betreuung gegen den Willen eines Volljährigen nur dann eingerichtet werden kann, wenn dieser aufgrund einer Krankheit (i. d. R. einer psychischen Störung) oder schweren Behinderung hinsichtlich Bedeutung und Tragweite einer gesetzlichen Betreuung nicht mehr einsichts- und einwilligungsfähig ist. Nach der Absicht des Gesetzgebers sind die rechtlichen Eingriffe möglichst gering zu halten. Im Gutachten sollten daher aus den festgestellten Einschränkungen diejenigen Bereiche und Aufgaben, in denen der Betroffene seine Angelegenheit nicht mehr selbstständig besorgen kann, konkret herausgearbeitet werden. Die vorsorgliche Einrichtung für Aufgaben, die der Betroffene aktuell noch besorgen kann und dazu möglicherweise in Zukunft nicht mehr fähig ist, ist nicht zulässig.
Grundsatz der Erforderlichkeit (§ 1814 Abs. 3 BGB)
Wie bisher gilt auch im neuen
Betreuungsrecht der mit Verfassungsrang ausgestattete Erforderlichkeitsgrundsatz, denn in der Bestellung eines Betreuers liegt immer auch ein Eingriff in die Rechte des Betroffenen, selbst wenn dieser darüber voll informiert ist und der Betreuung zugestimmt hat. In diesem Sinne wurde die bisherige Regelung im § 1896 Abs. 2 BGB a. F. übernommen und die rechtlichen Voraussetzungen nach § 1814 Abs. 1 BGB ergänzt bzw. die Notwendigkeit für eine rechtliche Betreuung weiter ein geschränkt. Dabei bezieht sich der Satz 1 auf die grundsätzliche Erforderlichkeit, während Satz 2 den Grundsatz der Nachrangigkeit der Betreuung proklamiert. Anders als bisher nach § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB soll die grundsätzliche Erforderlichkeit der Betreuung nicht nur über die Notwendigkeit einzelner Aufgabenkreise definiert werden, sondern gerade aus dem Zusammenspiel Satz und Satz 2 des § 1814 Abs. 3 BGB ergibt sich, wann überhaupt eine Betreuung zulässig ist bzw. wann andere Formen der Vertretung ausreichend sind, die eine rechtliche Betreuung obsolet machen. So kann z. B. die Komplexität oder Schwierigkeit des Regelungsbedarfs für sich allein keine Betreuung rechtfertigen, wenn für deren Bearbeitung regelhaft sowieso externe (z. B. anwaltschaftliche) Hilfe in Anspruch genommen werden muss (Deutscher Bundestag
2020, S. 232, 233).
Der Grundsatz der Erforderlichkeit bezieht sich auf alle Bereiche des
Betreuungsrecht:
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Das „Ob“ einer Betreuerbestellung
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Den Umfang des Aufgabenkreises des Betreuers
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Die Auswirkungen der gerichtlich zu ergreifenden Maßnahmen
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Möglichkeit vorrangiger anderer Hilfen bzw. Vorsorgevollmachten
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Die Dauer einer Betreuungsanordnung
Umfang der Betreuung/Aufgabenbereiche (§ 1815 BGB)
Ein Betreuer darf nur für Aufgabenbereiche bestellt werden, in denen eine Betreuung tatsächlich erforderlich ist (§ 1815 Abs. 1 BGB). Bereiche, welche von der betroffenen Person eigenständig erledigt werden können, dürfen dem Betreuer nicht übertragen werden. Was der Betroffene noch selbst erledigen kann bzw. wo er eine rechtliche Vertretung benötigt, wird im gerichtlichen Verfahren festgestellt, oftmals mit Unterstützung ärztlicher Begutachtung.
Das Betreuungsgericht muss die Aufgabenbereiche im Einzelnen konkret anordnen und dabei die Erforderlichkeit strikt beachten. Eine „Betreuung in allen Angelegenheiten“ wie sie früher durchaus üblich war, ist zukünftig unzulässig. Bereits vor der Reform, ging die Tendenz in der Rechtspraxis (auch aufgrund der UN-BRK) dahin, dem Betreuten möglichst viele Entscheidungsmöglichkeiten zu belassen. Dennoch hat die Praxis gezeigt, dass es zur Vermeidung regelmäßiger Abänderungen/Anpassungen des gerichtlichen Betreuungsbeschlusses zweckmäßiger ist, die Bereiche für eine Betreuung oder für einen Einwilligungsvorbehalt pauschal zu benennen (z. B. Gesundheitssorge, Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung) und Ausnahmen von diesen pauschalen Betreuungsbereichen festzulegen (z. B. Geldausgaben bis € 500,00) als nur ganz spezifische Aufgaben einem Betreuer zu übertragen (z. B. Autokauf). Ob bzw. wie dies nach der Reform zukünftig von den Gerichten gehandhabt wird, bleibt abzuwarten, wobei vermutlich von einer restriktiveren Handhabung auszugehen ist. Auch der Leitfaden des BMJ „Betreuungsrecht“ empfiehlt, von pauschalen Regelungen möglichst abzusehen.
Abhängig von der individuellen Notwendigkeit können dem Betreuer gerichtlich einzelne oder mehrere Aufgabenbereiche grds. auch pauschal bzw. allg. formuliert übertragen werden. Für bestimmte Bereiche schreibt das Gesetz in § 1815 Abs. 2 BGB jedoch zwingend eine ausdrückliche individuelle Anordnung vor. Hierunter fallen Maßnahmen, die besonders intensiv in das Selbstbestimmungsrecht eingreifen, wie z. B. freiheitsentziehende Maßnahmen, Bestimmung des Aufenthaltes im Ausland, das Umgangsrecht des Betroffenen bzw. dessen Tele- und elektronische Kommunikationswege sowie die Entgegennahme, Öffnung und Versendung von Poststücken.
Schutz in Personenangelegenheiten/Gesundheitssorge
Werden einem Betreuer Aufgaben im Bereich der Personensorge übertragen, sie handelt es sich zumeist um die Gesundheitssorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Da sich häufig um Eingriffe handelt, die stark in die Persönlichkeitssphäre eingreifen oder das Leben der Betroffenen dauerhaft beeinflussen können, muss die tatsächliche
Einwilligungsfähigkeit intensiv geprüft werden, bevor der Betreuer seine Entscheidung anstelle der des Betroffenen stellt. Dies gilt vor allem für ärztliche Eingriffe bzw. Unterbringungs- und Zwangsmaßnahmen, für die es häufig zusätzlich einer Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf.
Im Bereich des Aufenthaltsbestimmungsrecht – d. h. die Bestimmung des Lebensmittelpunkts der Betreuten – geht es zumeist um eine
Unterbringung in einem Senioren- oder Pflegeheim. Ist diese dauerhaft, so steht irgendwann die
Auflösung der eigenen Wohnung des Betroffenen zu Disposition. Da dies mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen verbunden ist, unterliegt die Aufgabe des eigengenutzten Wohnraums (z. B. Kündigung eines Mietverhältnisses bzw. eine Wohnungsauflösung) den strengen Voraussetzungen des § 1833 BGB und ist nur mit Zustimmung des Betreuungsgerichts möglich.
Ärztliche Eingriffe – Einwilligungsfähigkeit – Patientenverfügung
Maßnahmen zur Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung bzw. sonstige ärztliche Eingriffe sowie diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einhergehen, bedürfen einer
Einwilligung der Patienten. Auch wenn ein Betreuer mit diesem Aufgabenkreis vorhanden ist, muss grds. der Betreute als Patient einwilligen, soweit bei ihm die notwendige
Einwilligungsfähigkeit besteht.
Einwilligungsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit „Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme jedenfalls in groben Zügen zu erfassen das Für und Wider der Maßnahme abzuwägen“. (BGHZ 29,33 st. Rspr zitiert nach Taupitz (
2020), S. 509)
Bei Vorliegen von kognitiven Einschränkungen oder sonstigen psychopathologischen Befunden, welche die kognitive Erfassung von Sachverhalten und emotional-motivationale Willensbildung möglicherweise beeinträchtigen, muss die
Einwilligungsfähigkeit individuell unter Berücksichtigung der Art des Eingriffs bewertet werden. Bei einem risikoarmen und leicht zu verstehenden Eingriff wie einer venösen
Blutentnahme wird mehr oder weniger der natürliche Wille als ausreichend erachtet, sodass z. B. auch bei Demenzkranken noch Einwilligungsfähigkeit angenommen wird. Bei der Notwendigkeit einer Lokalanästhesie oder Pharmakotherapie wird bei einer mittelschweren Demenzerkrankung regelhaft keine Einwilligungsfähigkeit mehr bestehen und die ersatzweise Willenserklärung im Rahmen einer Vollmacht oder gesetzlichen Betreuung erforderlich werden.
Auf die
Einwilligung des Betroffenen oder seines Betreuers kann unter der Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung verzichtet werden, wenn bei einem medizinischen Notfall unverzügliches Handeln erforderlich ist, und auf das Vorliegen einer Einwilligung nicht gewartet werden kann, ohne Lebensgefahr oder eine erhebliche Gesundheitsschädigung zu riskieren. Sofern der gesetzliche Betreuer oder Bevollmächtigte nicht zu erreichen ist, und eine geringfügige zeitliche Verzögerung medizinisch vertretbar erscheint, kann auch das Betreuungsgericht bzw. der richterliche Notdienst einwilligen. Willensbekundungen, die im Rahmen einer Patientenverfügung
gem. § 1827 BGB getroffen worden sind, müssen von allen Beteiligten zwingend beachtet werden. Gerade auch für solche akuten Notfälle wurde unter Ehegatten das neue Rechtsinstrument der befristeten Ehegatten-Gesundheitsvollmacht nach § 1358 BGB mit der Reform eingeführt, um die Einschaltung der Betreuungsgerichte zu vermeiden (vgl. dazu Ziff 8.2).
Ist die
Einwilligungsfähigkeit nicht gegeben, muss geprüft werden, ob der Betreuer die entsprechende
Einwilligung selbst erteilen kann, oder hierfür die Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich ist. Dabei ist vom Betreuer zunächst zu prüfen, ob der Betreute eine wirksame schriftliche
Patientenverfügung erstellt hat und ob die anliegende Einwilligung von dieser erfasst ist (§ 1827 Abs. 1 BGB). Wenn ja, ist der Betreuer bei seiner Entscheidung an den Willen des Betroffenen gebunden. Liegt keine Patientenverfügung vor, bzw. erfasst diese nicht die aktuell anstehende Behandlungssituation, so muss der Betreuer aufgrund des mutmaßlichen Willens oder konkreter Anhaltspunkte eine Entscheidung über den geplanten Eingriff treffen (§ 1827 Abs. 2 BGB). Ausführliche Hinweise gibt das BMJ in seiner Broschüre „Patientenverfügung“.
In bestimmten Fällen bedarf die
Einwilligung (Entscheidung) des Betreuers der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger andauernden Gesundheitsschaden erleidet (§ 1829 Abs. 1 BGB). Die Gefahr muss konkret sein, hypothetische oder unwahrscheinliche Risiken lösen keine Genehmigungspflicht aus. Die Mitwirkung des Betreuungsgerichts nach § 1829 BGB soll den Betreuer auch von der alleinigen Verantwortung entlasten.
Sterilisation (§ 1830 BGB)
Die heute sehr selten gewordene Sterilisation ist nunmehr in § 1830 BGB geregelt. In jedem Fall bedarf es hierfür der Bestellung und
Einwilligung eines speziellen Sterilisationsbetreuers und der Genehmigung durch das Betreuungsgericht.
Freiheitsentziehende Unterbringung/Ärztliche Zwangsmaßnahmen (§§ 1832, 1832 BGB)
Ein Betreuer kann den Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen mit gerichtlicher Genehmigung in einer geschlossenen Einrichtung (z. B. psychiatrischen Krankenhaus), einer entsprechenden Abteilung im Krankenhaus oder z. B. auch in einem Seniorenheim unterbringen. Hierzu benötigt er formal gem. § 1815 Abs. 2 die ausdrückliche Zuweisung dieses Aufgabenbereiches. Zudem müssen die strengen Voraussetzungen nach § 1831 Abs. 1 – Abs. 3 BGB vorliegen, d. h. die Gefahr eine erheblichen gesundheitlichen Selbstschädigung oder gar Selbsttötung bzw. die zwingende stationäre Durchführung ärztlicher Maßnahmen zur Abwendung eines drohenden erheblichen Gesundheitsschadens. Diese Voraussetzungen gelten gemäß § 1831 Abs. 4 auch für sog. unterbringungsähnlichen Maßnahmen, z. B. Fixierung durch Sitzgurt etc. Voraussetzung hierfür sind „objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens“ (BGH, 20.07.2022, XII ZB 81/22). Eine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr ist hierbei nicht erforderlich. Wichtig ist die konkrete Beschreibung des befürchteten Gesundheitsschadens. „Die Begründung darf sich auch bei wiederholt untergebrachten Betroffenen nicht auf formelhafte Wendungen beschränken, sondern muss die Tatbetandsvoraussetzungen im jeweiligen Einzelfall durch die Angabe von Tatsachen konkret nachvollziehbar machen“ (XII ZB 81/22). Beispiele für formelhafte Wendungen bzw. näher hinsichtlich der resultierenden Gefährdungsaspekte zu konkretisierenden Sachverhalte sind (Kämmer,
2023):
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Gefährdung im Straßenverkehr (BGH, 14. März 2018 – XII ZB 629/17; OLG Hamm, 12.09.2000, 15 W 288/00, Juris)
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Verwahrlosung. Eine „völlig Verwahrlosung“, die zur „körperlicher Verelendung und Unterversorgung“ führt, könne jedoch die Voraussetzungen erfüllen. (XII ZB 629/17)
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Chronifizierung: Die in der ursprünglichen Entscheidung zur Begründung herangezogene allgemeine Verschlechterung „in den Bereichen Gesundheit, Arbeitssituation, finanzielle Situation, soziale Kontakte etc“ rechtfertige nur dann die
Unterbringung, wenn sie mit einer Heilbehandlung § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB (bzw. § 1832 Abs. 1 BGB) verbunden werden könne (BGH, 31.05.2017, XII ZB 342/16).
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Obdachlosigkeit
Eine medizinische Untersuchung bzw. ein ärztlicher Eingriff gegen den Willen des Betroffenen ist nur unter den Voraussetzungen nach § 1832 Abs. 1 BGB zulässig, wenn ansonsten ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht und der Betreuer einwilligt. Die betreute Person darf ihren eigenen Willen krankheitsbedingt nicht (mehr) frei bilden können, und die ärztliche Zwangsmaßnahme muss dem (mutmaßlichen)
Patientenwillen entsprechen. Solche Maßnahmen sind immer die Ultima Ratio, wenn der Patient tatsächlich nicht von der Notwendigkeit überzeugt werden kann bzw. andere Maßnahmen nicht ausreichend sind, um den drohenden Schaden abzuwehren. Zudem müssen sie immer stationär durchgeführt werden und vom Betreuungsgericht genehmigt werden.
Bei einem gefährlichen ärztlichen Eingriff oder bei einer
Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung ist eine erneute Untersuchung erforderlich, wobei Sachverständiger und behandelnder Arzt nicht identisch sein dürfen (§ 298 FamFG).
Rechtliche Auswirkungen der Betreuung
Geschäftsfähigkeit/Geschäftsunfähigkeit
Die Bestellung eines Betreuers führt nicht zu einer Entrechtung des Betroffenen. Auch die Geschäftsfähigkeit ist davon grds. nicht betroffen. Ob ein Betroffener tatsächlich geschäftsunfähig ist (§ 104 Nr. 2 BGB) muss im Einzelfall beurteilt werden. Wie bei allen anderen Personen kommt es dabei darauf an, ob der Betreute Wesen, Bedeutung und Tragweite seiner Willenserklärungen einsehen und sein Handeln danach ausrichten kann.
Einwilligungsvorbehalt/Gesetzliche Einschränkungen
Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass eine Betreuung keinen Einfluss auf die rechtliche Handlungsfähigkeit hat, stellt der gerichtlich angeordnete Einwilligungsvorbehalt dar (§ 1825 BGB). Er soll den Betroffenen davor bewahren, unvernünftige Rechtsgeschäfte mit evtl. weitreichenden finanziellen Konsequenzen abzuschließen. Zwar kann ein Betreuer auch ohne Vorliegen eines Einwilligungsvorbehalts die Nichtigkeit der abgegebenen Willenserklärung gem. § 105 BGB geltend machen, jedoch liegt die Beweislast auf Seite seines Betreuten. Um den Betroffenen vor diesem Risiko mit ggf. gravierenden Folgen zu schützen, kann auch nach dem neuen
Betreuungsrecht ein Einwilligungsvorbehalt für bestimmte Bereiche gerichtlich angeordnet werden, wenn ansonsten eine prognostizierte erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten bestünde (§ 1825 BGB). Rechtsgeschäfte, die der Betreute abgeschlossen hat, werden damit erst durch die
Einwilligung des Betreuers gültig. Im Streitfall liegt dann die Beweislast beim Geschäftsgegner. Der Einwilligungsvorbehalt erstreckt sich jedoch nicht auf geringfügige Geschäfte des täglichen Lebens. Nach der Rechtsprechung kann ein Einwilligungsvorbehalt nur dann eingerichtet werden, wenn der Betreute aufgrund seiner Störung nicht mehr über seinen eigenen Willen bestimmen kann (BayObLG v. 16. 12. 1994, Juris).
Gesetzliche Genehmigungserfordernisse für bestimmte Rechtsgeschäfte wie z. B. die Ausschlagung einer Erbschaft, Grundstücksangelegenheiten oder Wertpapiere (vgl. §§ 1819–1822 BGB) finden sich nunmehr in den §§ 1848–1854 BGB.
Höchstpersönliche Rechte (Heirat, Testament, Wahlrecht)
Betreute Personen können, wenn sie geschäftsfähig sind, ihre höchstpersönlichen Rechte weiter wahrnehmen, z. B. Heiraten, ein Testament errichten oder ihr Wahlrecht ausüben. Die Betreuerbestellung hat darauf keinen Einfluss, es gibt hier auch keinen Einwilligungsvorbehalt, sodass eine Zustimmung des Betreuers für diese Angelegenheiten ausscheidet.
Die Führung der Betreuung/Vertretungsmacht (§§ 1821 ff BGB)
Der Gesetzgeber sieht in der neuen Regelung des § 1821 die „
Zentrale Norm des Betreuungsrecht“. Sie legt den inhaltlichen Maßstab für jedes Handeln des Betreuers fest und kann somit als
„Magna Charta“ für das gesamte
Betreuungsrecht bezeichnet werden (Deutscher Bundestag
2020, S. 249). Der Betreuer muss seine Aufgaben persönlich wahrnehmen. Dazu gehört auch dass er den notwendigen persönlichen Kontakt zur betreuten Person pflegt, sich mit ihr im Bedarfsfalle bespricht und sich regelmäßig einen persönlichen Eindruck vom Betreuten verschafft (§ 1821 Abs. 5 BGB).
Vorrang der Wünsche des Betreuten
Wie schon bei der Betreuerbestellung, gelten auch für die Führung der Betreuung der Erforderlichkeitsgrundsatz und der Charakter der Betreuung als Unterstützung. Die Wünsche des Betreuten stehen dabei immer im Vordergrund. Der Betreuer hat sie (ggf. im Einzelfall) festzustellen und zu erfüllen. Dies gilt auch für Wünsche, die bereits zuvor in einer vorsorglichen Betreuungsverfügung geäußert bzw. festgelegt wurden, sofern kein abweichender Wille erkennbar ist. Davon abweichen darf der Betreuer nur bei erheblicher Gefährdung des Betreuten, krankheitsbedingt verminderter Erkenntnis oder Unzumutbarkeit.
Diese Grundsätze gelten auch in Vermögensangelegenheiten (§ 1838 BGB). Beruhen die Wünsche auf freier Willensbildung, ist ihnen auch dann zu entsprechen, wenn sie (vermeintlich) wirtschaftlich unvernünftig sind (Münch, FamRZ 2020, 1513, 1515). Will der Betreuer bei der Vermögensverwaltung von den Grundsätzen der §§ 1839 ff abweichen, so hat er dies dem Betreuungsgericht anzuzeigen, das dann die entsprechenden Anordnungen erlässt.
§ 1854 Nr. 8 BGB enthält eine Abweichung vom bisher recht restriktiven Schenkungsverbot (Beschränkung auf sittliche Pflichten bzw. Gelegenheitsgeschenke entsprechend der Lebensverhältnisse des Betreuten) seitens des Betreuers. Zukünftig kann bzw. wird das Betreuungsgericht auch gewünschte Schenkungen genehmigen (z. B. vorweggenommene Erbschaften, Stiftungen etc.), die wirtschaftlich unvernünftig sind bzw. das Vermögen erheblich schmälern, sofern nicht höherrangige Rechtsgüter gefährdet oder die gesamte Lebens- und Versorgungssituation erheblich verschlechtert wird und dies der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung nicht erkennen kann. Betreute können mit Genehmigung des Gerichts somit auch wirtschaftlich unvernünftige Entscheidungen treffen, auch wenn dadurch ihr Vermögen (erheblich) geschmälert wird. In der Praxis sind dies zumeist Konstellationen einer vorweggenommenen Erbschaft in Form von Schenkungen. Wenn diese Schenkungen im Rahmen der Lebensverhältnisse des Betroffenen angemessen sind, bedarf es keiner Genehmigung.
Vertretungsmacht des Betreuers
In seinem Aufgabenbereich ist der Betreuer wie bisher der gesetzliche Vertreter des Betroffenen (§ 1823 BGB). Er darf von dieser Vertretungsmacht jedoch nur Gebrauch machen, wenn dies tatsächlich erforderlich ist und andere, niederschwellige Unterstützungsarten nicht ausreichen (§ 1821 Abs. 1 Satz 2 BGB). Der Betreute kann grds. aber weiterhin neben dem Betreuer rechtsgeschäftlich handeln (vgl. Ziff. 5)
Trotz möglicher Einschränkungen der Vertretungsmacht, soll eine vom Betreuer als Vertreter abgegebene Willenserklärung aber gültig sein, um den Vertragspartner zu schützen. (Deutscher Bundestag
2020, S. 251). Gesetzliche Ausschlüsse von der Vertretungsmacht sind nunmehr in § 1824 BGB geregelt.
Haftung des Betreuers
Wie bisher haftet der Betreuer dem Betreuten ggü. für Schäden durch fahrlässig begangene Pflichtverletzungen (§ 1833 Abs. 1 Satz 1 BGB). § 1826 Abs. 1 Satz 2 BGB enthält jedoch (neu) eine Beweislastumkehr zu Lasten des Betreuers, der beweisen muss, dass er den eigetretenen Schaden nicht zu verantworten hat. Die ursprünglich in einem früheren Gesetzesentwurf enthaltene Einschränkung der Haftung auf sog. eigenübliche Sorgfalt, die bei Eltern, Kindern und Ehegattenverhältnissen greift, wurde kurzfristig wieder gestrichen. Der Gesetzgeber sah dadurch eine große Gruppe von Betreuten benachteiligt und hält es für ausreichend, dass ehrenamtliche Betreuer durch obligatorische Sammelhaftpflichtversicherungen über die Bundesländer abgesichert sind (Deutscher Bundestag
2020). Da aber in jedem Fall das Risiko eines Haftpflichtprozesses beim Betreuer verbleibt – zumal bei geltender Umkehr der Beweislast – wird vielfach kritisiert bzw. bezweifelt, ob die neue Haftungsregelung tatsächlich zur Stärkung der Ehrenamtlichkeit der Betreuung als zukünftiges Leitbild beiträgt oder sie eher behindert.
Vorsorgevollmacht/Ehegatten-Gesundheitsvollmacht (§ 1820 ff, 1814 Abs. 3 BGB)
Wie bereits ausgeführt, wird ein Betreuer nur bestellt, wenn dies notwendig ist. Diese Erforderlichkeit entfällt, wenn für die maßgeblichen Bereiche, in denen grds. ein Betreuungsbedarf besteht, eine (Vorsorge-)Vollmacht erteilt wurde. Einzelheiten dazu finden sich in der Broschüre „Betreuungsrecht“ des BMJ mit entsprechenden Mustern.
Vorsorgevollmacht/Kontrollbetreuung
Der Vorrang eine wirksam erteilten (Vorsorge-)Vollmacht vor einer rechtlichen Betreuung, der dem Selbstbestimmungsrecht dient, gilt auch nach dem neuen
Betreuungsrecht und ist in § 1814 Abs. 3 Nr. 1 BGB geregelt. Die bevollmächtigte Person kann im Bedarfsfalle wirksam handeln, ohne dass es weiterer Maßnahmen bedarf. Das Betreuungsgericht wird nur in wenigen gesetzlich geregelten Fällen tätig bzw. setzt einen Kontrollbetreuer ein. Anders als bei einer Betreuung ist der Bevollmächtigte dem Betreuungsgericht nicht rechenschaftspflichtig.
Eine Vollmacht kann sich nicht nur auf Vermögensangelegenheiten, sondern auch auf Gesundheitsangelegenheiten oder z. B. Fragen des Aufenthaltes erstrecken. Zwar ist grds. auch eine sog. Generalvollmacht „Vertretung in allen Angelegenheiten“ (zumeist an enge Angehörige) möglich. Um Missverständnissen vorzubeugen bzw. die Wirksamkeit der Vollmacht (ggü. Dritten) zu unterstreichen, sollten aber auch in einer Vollmacht die Bereiche ausdrücklich genannt werden. Bestimmte Rechte der bevollmächtigen Person, z. B.
Einwilligungen bzw. Widerruf in gefährliche ärztliche Eingriffe, freiheitsentziehende Maßnahmen zum Schutz des Betreuten oder auch Organspenden, werden von eine Generalvollmach nicht umfasst und müssen immer konkret festgelegt werden (§ 1820 Abs. 2 BGB)
Zwar gibt es für (Vorsorge-)Vollmachten grds. keine zwingenden Formvorschriften. Aber vor allem aus Gründen der Klarheit und Beweiskraft, sollte diese immer schriftlich mit eigener Unterschrift erfolgen und auch Aussagen bzw. Zeugen für die Geschäftsfähigkeit des Vollmachtausstellers enthalten, um späteren Zweifeln Dritter entgegenzuwirken. Eine kostengünstige öffentliche Beglaubigung ihrer Unterschrift ist bei den örtlich zuständigen Betreuungsbehörden möglich. Eine notarielle Beurkundung, die grds. auch eine Beratung mitumfasst, bezieht sich darüber hinaus auch auf den Inhalt der Vollmacht.
§ 1820 BGB regelt erstmal den Umgang mit einer Vorsorgevollmacht und das Verhältnis zu eine ggf. notwendigen Kontrollbetreuung. Da auch zukünftig gerade im privaten Bereich erteilte Vollmachten oftmals nicht registriert sein dürften, kommt der Informationspflicht ggü. dem Betreuungsgericht eine große Bedeutung bei.
„Alte“ Vorsorgevollmachten bzw. Betreuungsverfügungen, die noch vor der Reform 2023 wirksam erstellt wurden, behalten grds. ihre Gültigkeit. Auch der Verweis auf frühere Rechtsnormen ist unproblematisch, soweit die Reform inhaltlich keine Neuregelung enthält.
Ärzte sind angehalten, ihre psychisch erkrankten Patienten fürsorglich auf Möglichkeit und den Nutzen einer solchen Vollmacht hinzuweisen, solange sie noch nach eigenem Gutdünken einen Bevollmächtigten wählen können.
Befristete Ehegatten-Gesundheitsvollmacht (§ 1358 BGB)
Eine wichtige Neuregelung der Reform betrifft die auf maximal 6 Monate befristete gesetzliche Bevollmächtigung von Ehepartnern bzw. eingetragenen Lebensgemeinschaftspartnern in allen wichtigen Fragen der Gesundheitssorge (§ 1358 BGB), auch Ehegattennotvertretungsrecht genannt. Dadurch soll vermeiden werden, dass wie früher in akuten Notsituationen (nach Unfällen oder schweren Erkrankungen) ein vorläufiger Betreuer bestellt werden muss. Die gesetzliche Vertretungsmacht setzt voraus, dass der Partner aufgrund von Bewusstlosigkeit oder Krankheit selbst nicht handeln kann (§ 1358 Abs. 1 BGB). Die Vertretungsmacht ist sehr weitreichend und umfasst nicht nur die
Einwilligung bzw. Untersagung ärztlicher Maßnahmen, sondern auch notwendige freiheitsentziehende Handlungen bis zu 6 Wochen bzw. den Abschluss von Behandlungsverträgen rund um die Heilbehandlung und Rehabilitation sowie die Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht. Letztlich sollen dadurch nicht nur die Gerichte, sondern auch die behandelnden Ärzte von der Verantwortung entlastet werden. (näherer Details vgl. Broschüre „Eherecht“
www.bmj.de).
Dieses gut gemeinte rechtliche Instrument könnte in der Praxis jedoch Schwierigkeiten bereiten, da es zahlreiche Ausnahmen gibt. Die gesetzliche Vertretungsbefugnis besteht nämlich u. a. nicht, wenn die Ehegatten getrennt leben, dem vertretenen Ehegatten oder dem Arzt bekannt ist, dass der Betroffene eine Gesundheitssorge durch den Partner abgelehnt oder eine andere Person damit betraut hat, schließlich wenn. eine Betreuung besteht oder angeordnet wird (§ 1358 Abs. 3 BGB). Der zuständige Arzt muss gem. § 1358 Abs. 4 dem vertretenden Ehegatten eine schriftliche Bescheinigung ausstellen, seit wann die Voraussetzungen gem. § 1358 Abs. 1 vorliegen, sowie eine schriftliche Bestätigung über das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen von Ausschlussgründen (§ 1358 Abs. 3) überreichen und sich letzteres schriftlich bestätigen lassen. Ein Musterformular zur Ehegattennotvertretung findet sich unter:
https://www.bundesaerztekammer.de/service/muster-formulare. Das Vertretungsrecht besteht für maximal 6 Monate ab dem Zeitpunkt, ab dem es erstmals in Anspruch genommen wird Dieser muss ärztlicherseits schriftlich bestätigt und dem vertretenden Ehegatten als Nachweisdokumen ausgehändigt werden.– Unter anderem informiert dies andere Behandler und medizinische Institutionen über diese Frist. Es handelt sich jedoch um keine Vollmachtsurkunde gem. § 172 BGB.
Gerade die Vielfalt der Ausschlussgründe, von denen einige den Betroffenen im Akutfall auch nicht bekannt sein könnten, bringt eine gewisse Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten mit sich, sodass erst die Zukunft zeigen wird, wie rechts- bzw. praxistauglich die Ehegatten-Gesundheitsvollmacht tatsächlich ist.
Begutachtung (§§ 280 ff FamFG)
Ein Betreuer darf erst bestellt werden, wenn ein Gutachten durch einen Arzt für Psychiatrie bzw. Erfahrung auf diesem Gebiet die Notwendigkeit einer Betreuung bescheinigt. Dabei muss der Arzt den Betroffenen persönlich untersuchen oder befragen (§ 280 Abs. 1 und 2 FamFG).
Inhalt und Umfang des Gutachtens sind in § 280 Abs. 3 FamFG ausdrücklich festgelegt
„Das Gutachten hat sich auf folgende Bereiche zu erstrecken:
1.
das Krankheits- oder Behinderungsbild einschließlich dessen Entwicklung,
2.
die durchgeführten Untersuchungen und die diesen zugrunde gelegten Forschungserkenntnisse,
3.
den körperlichen und psychischen Zustand des Betroffenen,
4.
den aus medizinischer Sicht aufgrund der Krankheit oder Behinderung erforderlichen Unterstützungsbedarf und
5.
die voraussichtliche Dauer der Maßnahme.“
In dem Gutachten sind die Erkenntnisquellen (mit Datum), der medizinische Sachverhalt, die klinischen Diagnosen und ihre Subsumption unter die Begriffe des § 1814 BGB, die Auswirkung der Krankheit oder Behinderung, die Diagnosen auf die Funktionsfähigkeit des Betroffenen darzulegen, soweit sie rechtlich relevant ist. Wie bereits unter Ziffer 3 ausgeführt, kommt dem objektiven Betreuungsbedarf (Unterstützung) sowie der Erforderlichkeit nach der Reform eine noch größere Bedeutung bei als nach früherem Recht. Die richtige diagnostische Einschätzung ist selbstverständlich wichtig, jedoch muss der Gutachter vor allem darlegen und begründen, welcher Unterstützungsbedarf sich aufgrund der Krankheit/Behinderung tatsächlich ergibt, und ob nicht andere niederschwelligere Maßnahmen oder Alternativen im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ausreichend sind. Stets geprüft werden müssen deshalb vorrangige Hilfsmöglichkeiten wie das Vorliegen einer Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung.
Es ist zum Umfang des Aufgabenkreises und zur voraussichtlichen Dauer der Betreuungsbedürftigkeit Stellung zu nehmen. Die Begutachtung erfordert zudem eine Auseinandersetzung mit der Prognose der Erkrankung und deren Auswirkung auf die psychosozialen Kompetenzen des Untersuchten.
Außerdem hat der Gutachter zur Notwendigkeit eines Einwilligungsvorbehaltes Stellung zu nehmen und die Bereiche anzugeben, für die eine solche Maßnahme erforderlich ist. Weiter muss er sich dazu äußern, ob eine Anhörung durch den Richter und eine Bekanntgabe des Betreuungsbeschlusses gesundheitliche Konsequenzen haben könnte.
In allen diesen Fällen muss sich das Gericht aufgrund des vorliegenden Gutachtens ein eigenes unabhängiges Urteil bilden und ggf. auch zusätzliche Fragen an den Gutachter stellen. Es hat dazu den zu Betreuenden anzuhören. Nur in den gesetzlich genannten Ausnahmefällen kann auf die Einholung eines ärztlichen Betreuungs-Gutachtens verzichtet werden und auf eine vorliegende ärztliche Bescheinigung oder ein Pflegegutachten als Grundlage für eine Entscheidung herangezogen werden (vgl. § 281, 282 FamFG).
Neben der Betreuerbestellung und der Festlegung der Aufgabenbereiche kann eine ärztliche Begründung in zahlreichen anderen o. g. Bereichen des
Betreuungsrechts erforderlich werden.
Empirische Erkenntnisse zur gesetzlichen Betreuung und Ausblick
Bundesweit liegen keine lückenlosen Zahlen über gesetzlichen Betreuungen vor. Die Zahl der Betreuungsanordnungen hat sich jedoch seit Einführung des Betreuungsgesetzes mehr als verdoppelt. 1992 wurden um die 75.000 Betreuungen erstmalig eingerichtet, seit 2000 liegt diese Zahl durchwegs bei mindestens 190.000, das
Maximum lag 2009 und 2010 bei über 230.000 Neuanordnungen (Bundesamt für Justiz
2018). Die statistische Erhebung der Landesarbeitsgemeinschaft für Betreuungsangelegenheiten (LAG) in Baden-Württemberg weist zwischen 2010 und 2020 einen stetigen Anstieg der eingerichteten Betreuungen von 114.284 auf 121.709 aus. 2020 bestanden 35,7 % der Betreuungen aufgrund körperlicher Behinderungen einschließlich
Schlaganfall, 21,8 % wegen Altersdemenz, 26,4 % wegen psychischer Erkrankungen/seelischer Behinderungen und 8,9 % aufgrund geistiger Behinderung. 80 % umfassten den Bereich Gesundheitsfürsorge, über 60 % Vermögenssorge und Aufenthaltsbestimmung, um die 50 % Postangelegenheiten (KVJS
2021). Valdes-Stauber et al. (
2012) ermittelten in ihrer Untersuchung zwischen 1992 und 2009 einen besonders ausgeprägten Anstieg von über 600 % bei Verfahren zur Erweiterung der Aufgabenkreise. Annähernd parallel zur Steigerungsrate der Anordnungen verlief der Zuwachs an betreuungsrechtlichen
Unterbringungen. Die Betreuungsrate und deren Steigerung im Zeitverlauf variierte erheblich zwischen den einzelnen Bundesländern. Die Autoren diskutieren als Erklärung für die Steigerungen unter anderem die Überforderung einer zunehmenden Zahl an Menschen in einer komplexer werdenden Gesellschaft und die zunehmende Sensibilität für die rechtliche und ethische Bedeutung freiheitsentziehende Maßnahmen.