Einleitung und Charakterisierung der Berufskrankheit (BK) 5103
Mit der Novellierung der Berufskrankheiten-Verordnung zum 1. Januar 2015 wurde in die Liste der Berufskrankheiten (BK) die BK 5103 als neue BK aufgenommen. Nach der Legaldefinition der BK 5103 können unter dieser Plattenepithelkarzinome
oder multiple
aktinische Keratosen der Haut
, die auf eine Exposition gegenüber natürlicher (d. h. solarer) ultravioletter (UV-)Strahlung
zurückzuführen sind, anerkannt werden (Brandenburg und Lindemann
2023; John et al.
2023a,
b,
2024). Dagegen können unter der BK 5103
Basalzellkarzinome, Maligne
Melanome und Angio- oder Fibrosarkome nicht anerkannt werden (John et al.
2024). Die Frage einer Ausdehnung des BK-Tatbestands im Sinne der BK 5103 auf Basalzellkarzinome prüft aktuell (Stand Juli 2024) der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten (ÄSVB) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Der derzeitige Diskussionstand, besonders innerhalb wissenschaftlicher Fachkreise, lässt vermuten, dass eine zeitnahe Möglichkeit der Anerkennung von
Basalzellkarzinomen unter der BK 5103 derzeit unwahrscheinlich erscheint.
Aktinische Keratosen, inklusive Morbus Bowen
Aktinische Keratosen sind die Frühform des Plattenepithelkarzinoms. Sie stellen sich als raue, schuppende Hautveränderungen dar, die als Makulae, Papeln oder hautfarbene bis rötlich oder rötlich-braune Plaques auftreten. Ihre Größe kann dabei von etwa einem Millimeter bis zu etwa zwei Zentimeter im Durchmesser variieren. Als „multipel“ (d. h. gehäuft) im Sinne der BK 5103 gelten aktinische Keratosen, wenn sie mit einer Zahl von mehr als 5 innerhalb von 12 Monaten einzeln oder konfluierend in einer Fläche (flächig) von größer als 4 cm
2 auftreten; in diesem Fall wird von einer Feldkanzerisierung gesprochen. Somit müssen innerhalb eines 12-Monatszeitraumes a) mindestens 6 aktinische Keratosen entstehen und diagnostiziert werden oder b) die Keratosen müssen – konfluierend – eine Fläche von mindestens 4 cm
2 bedecken.
Aktinische Keratosen sind nahezu ausschließlich in von der Sonne UV-belasteten Hautarealen, den sogenannten „Sonnenterrassen
“, zu finden – insbesondere im Hals-Nasen-Ohren-ärztlichen Fachgebiet an Kopf und Hals, Nase, Ohren, Stirn, sowie am Lippenrot der Unterlippe. Aktinische Keratosen sind in der Regel klinisch sicher durch den Hautarzt zu diagnostizieren, wobei jedoch die histologische Sicherung zumindest einer aktinischen Keratose hilfreich sein kann. Keinesfalls ist es jedoch erforderlich, jede aktinische Keratose histologisch zu sichern. Für die Erstattung einer Ärztlichen Anzeige (Formtext F6000; zu beziehen über
www.dguv.de) bei multiplen aktinischen Keratosen müssen exakt die Zahl pro 12 Monate und die jeweiligen Lokalisationen bzw. die Fläche bei Feldkanzerisierung (mindestens 4 cm
2) und die entsprechende Lokalisation benannt werden; analoges gilt für die Erstattung des – wesentlich detaillierteren und auf die Ärztliche Anzeige in der Regel folgenden – Hautkrebsberichtes (Formtext F6120-5103;
www.dguv.de).
Wissenschaftliche Angaben zur
Prävalenz der
aktinischen Keratosen in der Allgemeinbevölkerung sind rar. In Deutschland wurde 2014 die Prävalenz bei 90.800 Arbeitnehmern basierend auf Daten der gesetzlichen Krankenkassen berechnet: Die Prävalenz aller Altersgruppen betrug 2,7 % und stieg mit zunehmendem Alter an (11,5 % in der Altersgruppe der 60- bis 70-Jährigen). Männer waren mit 3,9 % häufiger betroffen als Frauen (1,5 %). In der letzten Dekade konnte eine deutliche Zunahme der aktinischen Keratosen festgestellt werden. Ursache hierfür sind neben ätiologischen Faktoren, wie der chronischen UV-Exposition, der demografische Wandel mit höherem Anteil der älteren Bevölkerung. Man geht davon aus, dass aktuell in Deutschland bereits 1,7 Mio. Menschen aufgrund von aktinischen Keratosen in dermatologischer Behandlung sind (AWMF
2022).
Plattenepithelkarzinome, einschließlich Bowenkarzinom, ggf. Keratoakanthom (Keratoakanthom-artiges Plattenepithelkarzinom)
Das Plattenepithelkarzinom
ist nach dem
Basalzellkarzinom der zweithäufigste Hauttumor und stellt 20 % aller nicht-melanozytären Hauttumoren (engl. non-melanoma skin cancer; NMSC
) dar. Nach Schätzungen des
Robert-Koch-Instituts sind im Jahr 2014 in Deutschland etwa 29.300 Männer und 20.100 Frauen erstmalig an einem Plattenepithelkarzinom erkrankt. Die Inzidenz des Plattenepithelkarzinoms stieg in den letzten 30 Jahren in Deutschland schätzungsweise um das 4-fache an (AWMF
2022). Ein systematischer Review und eine
Metaanalyse aus dem Jahr 2011 haben epidemiologisch belegen können, dass langjährig Außenbeschäftigte ein signifikant höheres Risiko haben, an einem Plattenepithelkarzinom zu erkranken als Personen, die nicht im Freien arbeiten (Schmitt et al.
2010,
2011). Hierdurch konnte gezeigt werden, dass, obwohl heller Hautkrebs als „Volkskrankheit“ gilt, eine bestimmte Personengruppe durch ihre berufliche Tätigkeit in erheblich höherem Grade („Verdoppelungsrisiko“) als die Allgemeinbevölkerung diese Erkrankung erleidet. Mittlerweile sind die hierzu vorliegenden epidemiologischen Daten durch eine große Studie in der Bundesrepublik im Auftrag der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) noch wesentlich präziser und belastbarer geworden (Schmitt et al.
2018a,
b).
Das Plattenepithelkarzinom beginnt in der Regel mit einer Verdickung der Hornschicht der Epidermis und wächst dann in umliegende Gewebe ein, wobei die Randsäume häufig entzündet sind. Im Zentrum des Plattenepithelkarzinoms findet sich oft ein Geschwür mit reibeisenartigem Tastbefund. Es tritt häufig an Übergängen von Haut zu Schleimhaut auf, zum Beispiel an den Lippen, kann aber auch auf Narbengewebe entstehen. Bei einem Plattenepithelkarzinom gilt die Diagnose nur durch eine entsprechende histologische Untersuchung mit Nachweis der Invasivität belegt.
Leiden Versicherte am 1. Januar 2015 an dieser Krankheit, ist die Krankheit auf Antrag als BK anzuerkennen, wenn sie vor diesem Tag eingetreten ist (§ 6 Abs. 1 BKV). Der Krankheitseintritt kann somit beliebig weit zurückliegen. Verjährungsregelungen stehen der Anerkennung nicht entgegen. Leistungsansprüche werden rückwirkend allerdings längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren erbracht (§ 6 Abs. 7 S. 2 BKV) (John et al.
2024). Derzeit werden die meisten Anerkennungen bezüglich einer BK 5103 bei bereits berenteten ehemaligen Außenbeschäftigten wegen multipler
aktinischer Keratosen ausgesprochen (Durchschnittsalter > 70 Jahre), in weniger als einem Viertel der Anerkennungen liegen diesen invasive Plattenepithelkarzinome zu Grunde: 2021 waren von 3504 im Bereich der DGUV anerkannten BK 5103-Erkrankungen 23 % (n = 808) invasive Plattenepithelkarzinome. In den zurückliegenden Jahren wurden den
Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung unter dem Dach der DGUV sowie der Sozialversicherung Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) zusammen jährlich zum Teil über 9000 Verdachtsanzeigen auf Vorliegen einer BK 5103 gemeldet, von denen jeweils ca. 60 % anerkannt wurden (Tab.
1).
Tab. 1
Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit (BK) 5103 und anerkannte BK 5103 seit 2019. (John et al.
2024)
Verdachtsanzeigen | 9931 | 9343 | 8878 |
Anerkennungen | 5503 | 5687 | 4968 |
Berufliche Exposition gegenüber ultravioletter (UV-)Strahlung
Zu den betroffen Personengruppen mit einer BK 5103 zählen besonders diejenigen, die eine besondere solare UV-Exposition
im Rahmen ihrer Berufsausübung haben. Dazu gehören Arbeiten im Freien (sogenannte Außenbeschäftigte), betroffen sind insbesondere folgende Bereiche (John et al.
2024):
-
Land- und Forstwirtschaft
-
Fischerei und Seefahrt
-
Baugewerbe und Handwerk (z. B. Dachdecker, Zimmerleute, Bauarbeiter, Maurer, Stahlbauschlosser,
Schweißer an Brücken)
-
Straßenarbeiter
-
Bademeister, Bergführer u. ä.
-
Versicherte Tätigkeiten im Ausland (z. B. in südlichen Ländern oder auf See)
In Bezug auf Sonnenexposition stellt das Zurücklegen des Weges von und nach dem Ort der Tätigkeit keine versicherte Tätigkeit i.S. des § 9 SGB VII dar. Somit darf die solare UV-Strahlung auf diesen Wegen nicht als schädigende Einwirkung berücksichtigt werden. Dagegen ist die direkte Sonnenlichteinwirkung, die bei der Zurücklegung von Fahrstrecken, Schiffspassagen oder Fußwegen, die als Teil der versicherten Tätigkeit auf Veranlassung des Arbeitgebers zurückgelegt werden ein Bestandteil des versicherten Risikos und somit bei der Arbeitsanamnese ggf. mit zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der Messergebnisse der dosimetrischen DGUV-Messkampagne sind in Deutschland etwa 7 Mio. Menschen am Arbeitsplatz relevanter solarer UV-Strahlung ausgesetzt und haben somit ein erhöhtes Hautkrebsrisiko (AWMF
2022; Wittlich et al.
2023), siehe Abschn.
4 in diesem Kapitel.
Der im Allgemeinen erforderliche Nachweis eines sog. Verdopplungsrisikos wird in der Regel durch die Definition einer kumulativen Einwirkungsdosis erbracht, die infolge der versicherten Tätigkeiten erfüllt werden muss. Sowohl für das Plattenepithelkarzinom als auch für
aktinische Keratosen wird gemäß der wissenschaftlichen Begründung eine Risikoverdopplung schon bei einer deutlich geringeren zusätzlichen kumulativen UV-Lichtdosis
erreicht als dem Doppelten der durchschnittlichen Lichtexposition, der Personen üblicherweise ausgesetzt sind (BAuA
2013). Wegen der starken Altersabhängigkeit des Auftretens dieser Erkrankungen verändert sich auch die für eine relevante Erhöhung des Erkrankungsrisikos zusätzlich erforderliche UV-Lichtdosis in Abhängigkeit vom Alter, sodass nach der bei Einführung dieser BK bestehenden Erkenntnislage eine vom Alter unabhängige kumulative UV-Lichtdosis als Mindesteinwirkung und Abschneidekriterium nicht zu definieren war. Stattdessen hat der ÄSVB in der wissenschaftlichen Begründung eine Abschätzung dahingehend vorgenommen, dass es erforderlich aber auch ausreichend ist, wenn zu der privaten, nicht versicherten Exposition gegenüber natürlicher UV-Strahlung eine zusätzliche arbeitsbedingte Belastung von 40 % in dem Hautareal, in dem sich der Tumor entwickelt hat, hinzukommt. Nach dieser „tragfähigen wissenschaftlichen Konvention“ verdoppelt sich das Erkrankungsrisiko bei einer zusätzlichen arbeitsbedingten UV-Belastung von 40 %. Dabei handelt es sich nicht also um eine starre „Mindestdosis“ mit einem Grenzwert, sondern um das Verhältnis zwischen privater und arbeitsbedingter Exposition: Eine zusätzliche berufliche Einwirkung von mindestens 40 % ist als rechtlich wesentlicher Kausalfaktor definiert. Keine Rolle spielt der Hautlichttyp, da er das Risiko für versicherte und nicht versicherte Verursachung gleichermaßen modifiziert.
Die außerberufliche Lebenszeitbestrahlung wird bislang pauschal abgeschätzt, wobei davon ausgegangen wurde, dass ein Mensch in Deutschland innerhalb eines Jahres 130 SED natürlichen Ursprungs (d. h. Sonne) im Privatbereich ausgesetzt ist (SED: Standarderythem-Dosis, 1 SED
= 100 J/m
2 erythemwirksamer Bestrahlung) (Wittlich
2015). Jüngere Daten deuten allerdings auf eine deutlich höhere (bis zu einem Faktor 2) durchschnittliche Bestrahlung der deutschen Bevölkerung hin, dies auch im Einklang mit der einschlägigen internationalen Literatur (Strehl und Wittlich
2021). Ein Zusammenhang dieses Phänomens auch mit erhöhter terrestrischer UV-Strahlung im Rahmen des Klimawandels wird angenommen. Die arbeitsbedingten UV-Strahlungsexpositionen sind durch eine konkrete einzelfallbezogene Berechnung zu ermitteln. Da es für die Kausalitätsbeurteilung nicht nur auf das Erreichen des geforderten Mindest-Anteils an der gesamten UV-Lichtbelastung des Versicherten ankommt, sondern auch das Ausmaß der Überschreitung dieser Grenze für die Kausalitätsbeurteilung von Bedeutung sein kann, sollten in der Regel alle Ermittlungsmöglichkeiten des zuständigen Unfallversicherungsträgers ausgeschöpft werden. Es wird eine Berechnungsformel, welche die verschiedensten Umgebungsparameter der beruflichen Exposition mit einbezieht, seitens der Unfallversicherungsträger verwendet (sogenannte Wittlich’sche Formel
) (Wittlich et al.
2016). Die Ermittlung der Exposition hat immer mit Blick auf die Tumorlokalisation zu erfolgen.
Als Orientierungswert für eine versicherungsrechtlich relevante UV-Exposition zur Plausibilitätsprüfung im Rahmen der Begutachtung wird in der wissenschaftlichen Begründung ein Wert von 170 SED je volles Outdoorjahr genannt. Bei diesem Wert handelte es sich um einen vom ÄSVB zugrunde gelegten Durchschnittswert für alle im Freien Beschäftigten. Das Berechnungsmodell der Unfallversicherungsträger ging dagegen seit Einführung der BK 5103 zu Gunsten der Versicherten von einem Durchschnittswert für Außenbeschäftigte (in Deutschland) in Höhe von 300 SED aus, von dem jeweils Abschläge aufgrund der Besonderheiten der Arbeitstätigkeit erfolgen. Bei der Bewertung der Arbeitsplätze sind als Faktoren zu beachten: Anteil der Arbeit im Freien, Breitengrad, betroffene Körperstelle (Sonnenterrassen), Höhenfaktor, Jahreszeit, Tageszeit, ggf. weitere Einflussfaktoren, wie z. B. Rückstrahlung von spiegelnden Oberflächen. Auch der Einfluss konkurrierender privater UV-Exposition (zum Beispiel privater Aufenthalt in den Tropen, intensiver langjähriger Freizeitsport auf dem Wasser etc.) muss im Einzelfall berücksichtigt werden; der Gutachter muss hierzu auch auf das Verteilungsmuster aktinischer Schäden außerhalb beruflich exponierter Hautareale achten.
Sowohl der o.g. Wert von 300 SED als auch der Wert für die private Durchschnittsexposition werden zurzeit im Rahmen aktueller Forschungsarbeiten überprüft (Strehl und Wittlich
2021). Aufgrund der Ergebnisse der umfangreichen dosimetrischen Messkampagne der DGUV in über 150 Tätigkeiten bei fast 1000 Außenbeschäftigten steht fest, dass es zum Teil deutlich höhere berufliche Jahresexpositionen in den verschiedensten beruflichen Tätigkeiten, etwa in der Bauindustrie, gibt; zum Teil wurden Jahresexpositionen von bis zu 600 SED gemessen (Wittlich et al.
2023). Entsprechend sind die Parameter für die Feststellung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 5103 zurzeit in der Diskussion. Die seinerzeit in der wissenschaftlichen Begründung des ÄSVB aufgeführte Tabelle zur Ermittlung der erforderlichen Mindesttätigkeitsdauer in Vollbeschäftigung für Erreichen der arbeitstechnischen Voraussetzungen in Abhängigkeit vom Lebensalter ist deshalb überholt (Strehl und Wittlich
2021).
Eine Überprüfung und ggf. Neu-Justierung der Relationen zwischen nicht versicherten und versicherten UV-Lichteinwirkungen, um den aktuellen Erkenntnissen über die Einwirkungsintensitäten des natürlichen UV-Lichts sowohl im beruflichen als auch im außerberuflichen Lebensbereich angemessen Rechnung zu tragen („neue Metrik“), ist bisher nicht erfolgt (Strehl und Wittlich
2021). In der Praxis wird bis zum Vorliegen eines angepassten Berechnungsansatzes von der bisherigen Orientierung auszugehen sein, wonach eine Verdopplung des Hautkrebsrisikos gegenüber der Normalbevölkerung dann anzunehmen ist, wenn Außenbeschäftigte zu ihrer Lebenszeit-UV-Exposition durch den Beruf eine mindestens vierzigprozentige zusätzliche berufliche UV-Exposition empfangen haben. Für dieses Konzept sind seinerzeit durch den ÄSVB ältere epidemiologische Daten und Extrapolationen zugrunde gelegt worden, die wegen der als überholt anzusehenden Expositionsberechnungen einer Überprüfung und Aktualisierung bedürften (Armstrong und Kricker
2001; Schaart et al.
1993).
Derzeit kann als Faustformel gelten, dass Beschäftigte in Außenberufen, die mehr als zehn Jahre Vollzeitbeschäftigungszeit aufweisen, in der Mehrzahl der Fälle die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 5103 erfüllen.
Die meisten zur Begutachtung erscheinenden Versicherten haben ohnehin bei weitem längere Außentätigkeiten aufzuweisen. Für die gutachtliche Praxis ist bedeutsam, dass die Präventionsdienste der Unfallversicherungsträger in den dem Gutachter zur Verfügung gestellten Unterlagen die Ergebnisse der Berechnungen bezüglich der arbeitstechnischen Voraussetzungen dezidiert niederlegen. Diese Berechnungen sollten allerdings durch den Gutachter geprüft und insbesondere bei der Anamneseerhebung darauf geachtet werden, ob möglicherweise versicherte Zeiten mit UV-Exposition übersehen wurden. In diesen Fällen sollten Nachermittlungen angeregt werden.
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei der Berufskrankheit (BK) 5103
Entsprechend der Art, Zahl und Funktionseinschränkungen der Hautkrebsereignisse wird die Entschädigung gewährt. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich die Empfehlung zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hautkrebserkrankungen sowie Empfehlungen zur
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei der Berufskrankheit Hautkrebs (Diepgen et al.
2016,
2017). Bewährt haben sich in der Praxis die aktualisierten MdE-Empfehlungen von Krohn et al. (
2021) mit der tabellarischen Darstellung gemäß der Bamberger Empfehlung (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung
2017) (Tab.
2), die auch von der Sozialgerichtsbarkeit akzeptiert werden. Auch bei der BK 5103 ist für die MdE-Einschätzung neben der Diagnose die Beurteilung der Krankheitsaktivität von Bedeutung (Tab.
3 und
4). Einheitliche gutachtliche Kriterien zur Differenzierung zwischen ausschließlich beruflich bedingten Hauttumoren und außerberuflich verursachten Hauttumoren (Freizeitverhalten und UV-Lichtexposition) sind bisher nicht erarbeitet worden (Drexler et al.
1997).
Tumorgruppe A | 0* | 0* | 10 |
Tumorgruppe B Plattenepithelkarnzinom(e) (und ggf. weiteren aktinischen Keratosen und/oder Feldkanzerisierung) | 0* | 10 | ≥ 20 |
Tab. 3
Krankheitsaktivität bei Tumorgruppe A – Erläuterungen
keine/gering: | Neuauftreten von weniger als 6 aktinischen Keratosen innerhalb von 12 Monaten |
mittelgradig | Neuauftreten von 6 bis 20 aktinischen Keratosen oder Entstehen einer klinisch sichtbaren Feldkanzerisierung(en) von in der Summe 4–50 cm2 innerhalb von 12 Monaten |
hochgradig | Neuauftreten von mehr als 20 aktinischen Keratosen oder Entstehen einer klinisch sichtbaren Feldkanzerisierung(en) von in der Summe mehr als 50 cm2 innerhalb von 12 Monaten |
Tab. 4
Krankheitsaktivität bei Tumorgruppe B – Erläuterungen
keine/gering | - keine Neubildung eines weiteren Plattenepithelkarzinoms innerhalb der letzten 4 Jahre und - Neuauftreten von weniger als 6 aktinischen Keratosen innerhalb von 12 Monaten |
mittelgradig | - Neubildung eines weiteren Plattenepithelkarzinoms nach mehr als 2 und weniger als 4 Jahren oder - Neuauftreten von 6 bis 20 aktinischen Keratosen oder Entstehen einer klinisch sichtbaren Feldkanzerisierung(en) von in der Summe 4–50 cm2 innerhalb von 12 Monaten |
hochgradig | - Neubildung eines weiteren Plattenepithelkarzinoms innerhalb von 2 Jahren oder - Neuauftreten von mehr als 20 aktinischen Keratosen oder Entstehen einer klinisch sichtbaren Feldkanzerisierung(en) von in der Summe mehr als 50 cm2 innerhalb von 12 Monaten |
Unter der BK 5103 können Plattenepithelkarzinome und Carcinomata in situ unter dem Bild multipler
aktinischer Keratosen/
Morbus Bowen beziehungsweise einer Feldkanzerisierung anerkannt werden. Auch Bowen-Karzinome sind unter der BK 5103 subsumiert. Strittig ist, ob
Keratoakanthome ebenfalls anerkannt werden können und dabei als invasive Plattenepithelkarzinome zu werten sind; histologisch kann die Unterscheidung zwischen diesen beiden Entitäten schwierig sein (Elsner et al.
2017). In der Vergangenheit sind Anerkennung von Keratoakanthomen seitens der Unfallversicherungsträger in der Regel abgelehnt worden, soweit es sich nicht um histologische Mischformen gehandelt hat. Mit der aktuellen S3-Leitlinie „Aktinische Keratose und Plattenepithelkarzinom der Haut“, nach der Keratoakanthome als Plattenepithelkarzinome eingeordnet werden, sollte sich die Verwaltungspraxis in der Zukunft ändern (AWMF-Registernummer: 032/022OL S3-Leitlinie Aktinische Keratose und Plattenepithelkarzinom der Haut
2022). Die Voraussetzung ist immer, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung als BK 5103, was den Umfang der empfangenen UV-Exposition angeht, erfüllt sind und die Tumoren in beruflich UV-exponierten Hautarealen aufgetreten sind (in der Regel Kopf, Hände, Unterarme).
Basalzellkarzinome sind unter der BK 5103 nicht anerkennungsfähig, auch dann nicht, wenn sie in hochgradig aktinisch geschädigten beruflich exponierten Hautarealen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Beispiel zu
aktinischen Keratosen oder sogar Plattenepithelkarzinomen auftreten. Allerdings wird, wie oben ausgeführt, zurzeit im ÄSVB-Berufskrankheiten beim BMAS eine mögliche Anerkennung von Basalzellkarzinomen unter bestimmten Voraussetzungen als Berufserkrankung auf der Basis jüngerer Forschungsergebnisse geprüft (Schmitt et al.
2018a,
b; Bauer et al.
2020; Wendt und Möhner
2023).
Für die praktische Begutachtung hat dies einstweilen keine Konsequenz; hier hat sich aber als wichtig erwiesen, bei beruflich UV-exponierten Beschäftigten mit Verdacht auf eine BK 5103 auch nach einer zusätzlich stattgehabten, relevanten Exposition gegenüber polyzyklischen aromatischen Verbindungen (PAK), zum Beispiel Teeren zu fragen.
Es zeigt sich, dass in einer ganzen Reihe von UV-exponierten Risikoberufen, wie etwa Dachdeckern, Straßenbauern oder Schiffsführern, Kontakte mit Teer, Heißteer-Verklebungen, Karbolineum und anderen älteren Holzschutzmitteln nicht selten sind. Falls eine ausreichende Exposition im Sinne einer BK 5102 vorgelegen hat (Unfallversicherungsträger gegebenenfalls nachermitteln lassen) empfiehlt es sich, die Anerkennung dieser Berufskrankheit vorzuschlagen und entsprechend auch die MdE-Einschätzung vorzunehmen, was dann auch die Berücksichtigung von
Basalzellkarzinomen erlaubt. Bei gleichzeitigem Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen sowohl einer BK 5102 („Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe“) als auch einer BK 5103, sind beide BK-Tatbestände anzuerkennen. Für die Feststellung der durch diese Berufskrankheiten bedingten MdE ist es nicht erforderlich, eine getrennte Bemessung vorzunehmen, da deren Tatbestand die gleiche Krankheit beschreibt bzw. das gleiche Zielorgan hat. Es ist eine einheitliche MdE integrativ zu bilden und nur eine Rente zu zahlen, da es sich um eine in ihren Auswirkungen auf die
Erwerbsfähigkeit einheitlich zu beurteilende Erkrankung handelt. Bei gleichzeitigem Vorliegen der BK 5102 und 5103 ist für die Bildung der integrativen MdE die Tabelle der Bamberger Empfehlung zur MdE Einschätzung bei der BK 5102 anzuwenden, da diese Tabelle alle relevanten Hautkrebsentitäten enthält (siehe Kap. „BK 5102 – Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe“ in diesem Buch).
Arbeitsmedizinische Vorsorge und Individualprävention
Aufgrund der Häufigkeit beruflicher Hautkrebserkrankungen im Sinne der BK 5103 (mittlerweile bereits die zweithäufigste anerkannte Berufskrankheit, wenn beruflich erworbene COVID-19-Infektionen unberücksichtigt bleiben; ferner ist die BK 5103 die häufigste BK, die eine Rentenberechtigung nach sich zieht), sowie der vorliegenden Ergebnisse der dosimetrischen DGUV-Messkampagne, die unerwartet hohe Expositionen von zum Teil über 600 SED berufliche Jahresdosis bei Außenbeschäftigten ergeben hatte (Wittlich et al.
2023), wurde seitens des Bundesarbeitsministeriums die arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung zum 18. Juli 2019 spezifisch in Bezug auf das Risiko „berufliche solare UV-Exposition“ geändert. Der Arbeitgeber hat bei Beschäftigten mit intensiver Belastung durch natürliche UV-Strahlung von regelmäßig einer Stunde oder mehr je Tag Maßnahmen des
Arbeitsschutzes zu treffen, durch die eine Belastung aufgrund natürlicher UV-Strahlung möglichst gering gehalten wird (BMAS
2019). Parallel wurde die arbeitsmedizinische Angebotsvorsorge eingeführt (arbeitsmedizinische Regel (AMR) 13.3 vom 24.09.2019), die vorsieht, dass Außenbeschäftigte, die im Zeitraum von April bis September zwischen 11:00 und 16:00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (MESZ) mindestens 1 h pro Arbeitstag an mindestens 50 Arbeitstagen im Freien beschäftigt sind, eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung seitens des Arbeitgebers angeboten bekommen müssen; dies bei Beginn der Tätigkeit, nach einem Jahr und dann regelmäßig alle drei Jahre (BAuA
2019). Vorsorgeberechtigt sind bei Berücksichtigung dieser Kriterien sind hierzulande etwa 7 Mio. Beschäftigte (Wittlich
2022; Wittlich et al.
2023).
Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Risiko, an berufsbedingtem Hautkrebs zu erkranken, unter Außenbeschäftigten stark unterschätzt und die Anwendung von Sonnenschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz weitgehend vernachlässigt wird (Rocholl et al.
2020). Von hoher Relevanz erscheinen Maßnahmen zur Verbesserung des Sonnenschutzverhaltens von Außenbeschäftigten, z. B. im Sinne gesundheitspädagogischer Schulungen (Bauer et al.
2018; Symanzik et al.
2023). Ein Beispiel für eine solche, bereits erfolgreich implementierte Maßnahme stellt die Individuelle Lichtschutzberatung (ILB) dar, im Rahmen derer Außenbeschäftigte, bei denen in der Regel schon durch einen niedergelassenen Dermatologen Lichtschäden der Haut festgestellt wurden, in individuellen gesundheitspädagogischen Gesprächen unterstützt von haptischen Experimenten umfassend rund um das Thema UV-Schutz, aber auch zu den Auslösern von Hautkrebs, aufgeklärt werden (Ludewig et al.
2020). Kürzlich wurden Kriterien für die Prüfung der Geeignetheit von topischen Sonnenschutzmitteln an Arbeitsplätzen entwickelt (Rocholl et al.
2021), die aktuell vom DGUV Sachgebiet Hautschutz zur
Zertifizierung geeigneter Sonnenschutzmittel an Arbeitsplätzen aufgegriffen wurden (GS-PS-19: „Grundsätze für die Prüfung und Zertifizierung von grundlegenden Anforderungen an Sonnenschutzmittel bei Benutzung im beruflichen Bereich. Stand 03.2024“) (DGUV Test
2024). Die nach diesen Kriterien bereitgestellten und zertifizierten Produkte erlauben eine rational begründete Auswahl von Sonnenschutzmitteln für Außenbeschäftigte.
Aufgrund von mit dem Klimawandel einhergehenden Gegebenheiten sollten in der Zukunft weitreichende Überlegungen angestellt werden, inwiefern bestehende Präventionskonzepte modifiziert und neue Präventionsstrategien hinsichtlich beruflichen Hautkrebses bei Außenbeschäftigten gestaltet werden können (Symanzik und John
2022,
2024).