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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 16.12.2023

Chronisches Fatigue Syndrom ME/CFS und Komorbiditäten – Begutachtung

Verfasst von: Carmen Scheibenbogen, Judith Bellmann-Strobl, Thomas Karger, Bianca Erdmann-Reusch und Uta Behrends
Das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine komplexe, meist stark beeinträchtigende und chronische Erkrankung, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung klassifiziert wurde. Leitsymptome sind Fatigue und Belastungsintoleranz. Letztere führt oft bereits nach leichter Alltagsaktivität zu einer Verschlechterung der Symptomatik (sogenannte post-exertionelle Malaise). Desweiteren bestehen Schmerzen, Schlafstörungen, neurokognitive, neuroendokrine, autonome/vegetative und immunologische Symptome. Der Beginn liegt meist zwischen dem 16. und 45. Lebensjahr und tritt häufig nach einer Infektion auf. In Deutschland waren präpandemisch geschätzt 300.000 Menschen erkrankt, infolge von SARS Cov-2 haben die Zahlen deutlich zugenommen. Bis heute ist die Erkrankung bei einem Teil der Ärzteschaft kaum bekannt und viele Betroffene erhalten oft lange Zeit keine oder eine falsche Diagnose. Gutachtliche Relevanz hat das ME/CFS vor allem im Schwerbehindertenerecht sowie bei der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung der Erwerbsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung.

Einleitung

Das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine komplexe, meist stark beeinträchtigende und chronische Erkrankung, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung klassifiziert wurde (ICD10 G93.3). Leitsymptome sind Fatigue und Belastungsintoleranz. Letztere führt oft bereits nach leichter Alltagsaktivität zu einer Verschlechterung der Symptomatik (sogenannte post-exertionelle Malaise). Desweiteren bestehen Schmerzen, Schlafstörungen, neurokognitive, neuroendokrine, autonome/vegetative und immunologische Symptome. Der Beginn liegt meist zwischen dem 16. und 45. Lebensjahr und tritt häufig nach einer Infektion auf. In Deutschland waren präpandemisch geschätzt 300.000 Menschen erkrankt, infolge von SARS Cov-2 haben die Zahlen deutlich zugenommen. Bis heute ist die Erkrankung bei einem Teil der Ärzteschaft kaum bekannt und viele Betroffene erhalten oft lange Zeit keine oder eine falsche Diagnose. Als Komorbiditäten sind vor allem das Post-COVID-Syndrom, das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom und das Fibromyalgiesyndrom relevant.

Chronisches Fatigue Syndrom/Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS)

ME/CFS ist eine chronische neurologische Krankheit, die unter verschiedenen Namen bekannt ist. Im ICD-10 (G93.3) werden Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS), Myalgische Enzephalomyelitis (ME) und postvirales Müdigkeitssyndrom genannt. Die Abkürzung ME/CFS hat sich international inzwischen etabliert und wird auch in Deutschland verwendet. Es gibt verschiedene Diagnosekriterien. Gemäß der in 2023 aktualisierten Leitlinie Müdigkeit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), der Stellungnahme des Deutschen Instituts für Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) von 2023, der in 2022 aktualisierten britischen Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE), der aktuellen Empfehlungen des amerikanischen Centers of Disease Control and Prevention (CDC) sowie dem Konsensuspapier des europäischen ME/CFS Netzwerks EUROMENE von 2021 sollen nur noch Diagnosekriterien verwendet werden, die das Hauptsymptom post-exertionelle Malaise (PEM) fordern (Nacul et al. 2021). Diese besondere Form der Belastungsintoleranz führt zu einer oft versetzt nach Alltagsaktivitäten eintretenden und oft lange anhaltenden Verschlechterung der Symptome. PEM ist das Leitsymptom von ME/CFS und trägt in besonderem Maß zur reduzierten Lebensqualität und Teilhabe der Betroffenen bei.
Am häufigsten werden national und international die Kanadischen Konsensuskriterien von 2003 und die des Instituts for Medicine (IOM) von 2015 für die Diagnostik verwendet (Carruthers 2007; IOM-Kriterien o. J.). Entsprechend den Kanadischen Kriterien müssen die fünf Hauptkriterien für mehr als 6 Monate (bei Kindern und Jugendlichen 3 Monate) vorliegen und mindestens zwei Symptome aus den Nebenkriterien (siehe Tab. 1).
Tab. 1
Kanadische Konsensuskriterien (CCC)
Hauptkriterien
 - neu aufgetretene Fatigue, die nicht Folge einer chronischen Belastungssituation ist und
so ausgeprägt ist, dass die durchschnittliche Leistungsfähigkeit deutlich reduziert ist
 - Pathologisch verlangsamte Erholungsphase mit normalerweise 24 h oder länger anhaltender Zunahme der Beschwerden nach alltäglichen (körperlichen, kognitiven, emotionalen, sensorischen oder orthostatischen) Belastungen (PEM)
 - Konzentrationsschwierigkeiten und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses
 - Schmerzen (Muskel- und/oder Kopfschmerzen und/oder Arthralgien)
Nebenkriterien
von den 3 Kategorien autonome, neuroendokrine und/oder immunologische Manifestationen müssen mindestens je ein Symptom aus 2 Kategorien vorliegen
Die IOM-Kriterien, die in den USA häufiger verwendet werden, beschränken sich auf fünf Symptome und erfassen mehr Patientinnen und Patienten und auch solche mit leichterem Verlauf. Die ersten drei sind obligat, das vierte alternativ zu zweien (siehe Tab. 2).
Tab. 2
IOM Kriterien
- Eine erhebliche Minderung oder Beeinträchtigung der Fähigkeit, berufliche, schulische, soziale oder persönliche Aktivitäten auf dem Niveau vor der Erkrankung auszuüben, die länger als sechs Monate andauert und von einer oft tiefgreifenden Fatigue begleitet wird, die neu aufgetreten ist, nicht das Ergebnis anhaltender übermäßiger Anstrengung ist und durch Ruhe nicht wesentlich gelindert wird.
- Post exertionelle Malaise*
- nicht erholsamer Schlaf*
- Kognitive Störungen* oder
- Orthostatische Intoleranz
*Schwere der Symptome mindestens die Hälfte der Zeit mit moderater – schwerer Intensität
Der Schweregrad von ME/CFS kann mit Hilfe von Fragebögen zur allgemeinen Funktionseinschränkung (Bell disability scale, Bell-Score, in deutscher Übersetzung siehe link Tab. 1), zur Lebensqualität (Short Form-36 [SF-36]) und zu bestimmten Symptomen (z. B. Fatigue Severity Scale [FSS], De Paul Symptome Questionnaire for PEM [DSQ-PEM]) erfasst werden. Bei den kognitiven Einschränkungen sind insbesondere Tests, die die anhaltende Aufmerksamkeit und visuell-räumliche Fähigkeiten erfassen, auffällig (Azcue et al. 2022). Die Fatigue ist oft auch muskulär und kann in diesem Falle mit einem Handdynamometer gemessen werden (Jäkel et al. 2021). Für die Erfassung der lageabhängigen Kreislaufregulationsstörungen eignet sich der Schellongtest, der passive 10-Minuten-Stehtest (NASA-Anlehntest) oder eine Kipptisch-Untersuchung (Lee et al. 2020; Scheibenbogen et al. 2023).
Das Haupterkrankungsalter liegt bei 15 bis 45 Jahren, Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Die Prävalenz lag präpandemisch wahrscheinlich bei 0,2–0,3 % (siehe IQWIG Bericht ME/CFS von 2023). Pandemiebedingt geht man von einer deutlichen Zunahme durch SARS-CoV-2 aus (Roessler et al. 2022). Dies wird auch durch aktuelle Zahlen der KBV unterstützt (https://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/2023/pm-230417-oe-gesundheit-943052).
Die meisten Betroffenen sind nicht oder nur eingeschränkt in der Lage einen Beruf auszuüben oder an Schulunterricht/Ausbildung teilzunehmen (Vink und Vink-Niese 2019). Die meisten Patienten, denen es gelingt, ihre Arbeit fortzusetzen oder wieder aufzunehmen, arbeiten Teilzeit in einem körperlich wenig anspruchsvollen Beruf. Die Prognose für die Rückkehr an den Arbeitsplatz ist schlecht, insbesondere wenn die Patienten länger als zwei bis drei Jahre krankgeschrieben waren. Nur ein kleiner Teil erholt sich ganz, wobei die Daten sehr heterogen sind (Adamowicz et al. 2014). Die Mehrheit der von ME/CFS Betroffenen bleibt krank und hat erhebliche Funktionseinbußen, schätzungsweise ein Drittel erreicht eine Verbesserung. Viele Patienten können die alltäglichen Aufgaben nicht allein bewältigen und der Unterstützungsbedarf reicht von Haushaltshilfe bis zur Pflegebedürftigkeit. Die Prognose bei Erkrankung im Kindes- oder Jugendalter gilt als deutlich besser, jedoch ist auch hier bei vielen eine langfristige Funktionseinschränkung zu erwarten (Moore et al. 2021).
Bislang gibt es keine kurative Therapie. Der 2023 Bericht des IQWIG zu ME/CFS fand keine Wirksamkeitsbelege für gezielte medikamentöse Therapien und rät von gestuften Trainingsprogrammen wegen des Risikos einer Krankheitsverschlechterung ab. Eine Psychotherapie sollte nur im Sinne der Unterstützung der Krankheitsverarbeitung angeboten werden (Grande et al. 2023). Die unterstützende Psychotherapie hat bei vielen Betroffenen wenig Akzeptanz, da ME/CFS in der Vergangenheit häufig psychiatrisiert wurde. Die Grundlage der Therapie ist bislang symptomorientiert mit Fokus auf Schmerzen, Schlaf- und Kreislaufstörungen sowie Behandlung eventueller Ko-Morbiditäten (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis, Allergien, weitere siehe unten, Renz-Polster und Scheibenbogen 2022; Scheibenbogen et al. 2023). Die Versorgungssituation der Patientinnen und Patienten ist schlecht. Obwohl ME/CFS relativ häufig ist, sind viele Ärzte mit dem Krankheitsbild nicht vertraut. Es fehlen spezialisierte Angebote für die ambulante, akutstationäre, telemedizinische und aufsuchende Versorgung sowie geeignete Rehabilitationsangebote. Die Schwerstbetroffenen sind bettlägrig, manche so schwach, dass sie Sondenernährung und Körperpflege benötigen. Aufgrund der extremen Reizempfindlichkeit ist oft auch eine von Licht und Lärm abgeschirmte Unterbringung erforderlich (Scheibenbogen et al. 2023).
Die genaue Ursache der Erkrankung ist bislang nicht geklärt. Pathobiologisch handelt es sich um eine Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Meist bestehen ausgeprägte Störungen der Kreislauf- und Durchblutungsregulation. Bei den meisten Patienten beginnt die Erkrankung mit einer Infektion. Neben den häufigsten Auslösern Severe Acute Respiratory Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) und Epstein-Barr-Virus (EBV) finden sich auch andere Herpesviren, Enteroviren, Influenzaviren und weitere virale, seltener bakteriell oder sonstige infektiöse Erreger. Auch Halswirbelsäulen-Verletzungen, Bindegewebserkrankungen wie das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom und psychische Traumata sind als Auslöser oder Risikofaktoren beschrieben. Ob sie primär ME/CFS triggern oder latente Infektionen reaktivieren ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar.
Der Begriff CFS wird manchmal auch fälschlicherweise für die chronische Fatigue verwendet, die bei ganz unterschiedlichen Erkrankungen wie Depression, Krebs, Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder schweren chronischen Organerkrankungen als häufiges Symptom auftreten kann. Hier fehlt jedoch meist die für ME/CFS typische post-exertionelle Malaise, und körperliche Aktivität verbessert oft die Fatigue. Wenn PEM gemäß der CCC bei anderen Erkrankungen auftritt, sollte geprüft werden, ob zusätzlich ME/CFS vorliegt. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das Risiko eine weitere autoimmunbedingte Erkrankung zu entwickeln bei autoimmunbedingten Erkrankungen erhöht ist.
Das posturale Tachykardie-Syndrom (PoTS), Fibromyalgie, Hashimoto-Thyreoditis, Reizdarm, Migräne, Hypermobilität und das Ehlers-Danlos-Syndrom treten als häufige Komorbiditäten von ME/CFS auf.

Post-COVID-Syndrom

ME/CFS wird auch durch SARS-CoV-2 ausgelöst und gehört daher auch zum Spektrum des Post-COVID-Syndroms (PCS). Auch beim PCS sind häufige Symptome Fatigue, Belastungsintoleranz, die Stunden bis Tage anhalten kann, Schmerzen, neurokognitive Einschränkungen sowie Kreislaufstörungen. Nur ein Teil der Betroffenen erfüllt jedoch die CCC oder IOM-Kriterien. Wir verweisen auf die S1-Leitlinien Long/Post-COVID der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) sowie auf die Stellungnahme der Bundesärztekammer von 2022 (Hallek et al. 2023) und das Konsensupapier der Konventgesellschaften der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) von 2022 für weitere Diagnostik und Einordnung (Töpfner et al. 2022).

Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom

Viele Patientinnen und Patienten mit ME/CFS haben eine orthostatische Intoleranz (OI). Das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (PoTS) als eine häufige Form der OI ist gekennzeichnet durch über mindestens drei Monate bestehende, lageabhängige Beschwerden wie Schwindel, Übelkeit, Benommenheit oder Sehstörungen sowie einem Herzfrequenzanstieg innerhalb von 10 min nach Aufrichten zum Stehen um mindestens 30 (bei Kindern und Jugendlichen 40) und/oder auf mehr als 120 Schläge/Minute. Die klassische orthostatische Hypotonie (OH) ist durch einen Blutdruckabfall von > 20 mmHg systolisch und/oder > 10 mmHg diastolisch innerhalb der ersten drei Minuten im Stehen gekennzeichnet, später als vier Minuten spricht man von einer verzögerten OH. Zu den genauen Diagnosekriterien und Therapieansätzen verweisen wir auf weiterführende Literatur (Scheibenbogen et al. 2023).

Fibromyalgiesyndrom

Die Fibromyalgie ist gekennzeichnet durch chronische generalisierte Muskelschmerzen in mehreren Körperregionen, die oft auch mit Fatigue und kognitiven Störungen einhergehen, siehe Kriterien des American College of Rheumatology (ARC). Auch hier sind Frauen deutlich häufiger betroffen. Aktuelle Studien sprechen für eine Rolle von Autoantikörpern. Die Abgrenzung zu ME/CFS kann anhand der CCC oder IOM erfolgen, vor allem durch das Hauptsymptom der PEM. Wir verweisen auf die S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms der AWMF und die aktuelleren Empfehlungen des Royal College of Physicians (Berwick et al. 2022).

Gutachtliche Bewertung

Grundsätzlich sollten bei der gutachtlichen Bewertung die Kanadischen Konsenskriterien (CCC) herangezogen werden. Alle Symptome sind hier subsummiert und werden im ICD unter G93.3 erfasst. Auf eine ICD-Kodierung der einzelnen, im Krankheitsverlauf individuell und zeitlich wechselhaft auftretenden Symptome sollte verzichtet werden. In den CCC sind die fünf Haupt- und drei Nebenkriterien definiert (s. Ziffer 2). Die Dauer der PEM wird in den CCC als „usually more than 24 hours“ definiert. In der Praxis hat sich gezeigt, dass viele Patienten angeben, dass die PEM bis mindestens zum nächsten Tag anhält, was sich für die diagnostische Einordnung bewährt hat. Patienten, die nur eine kürzere PEM-Dauer angeben oder keine Schmerzen haben, können jedoch die IOM-Kriterien erfüllen und sollten dann als ME/CFS nach IOM-Kriterien eingeordnet werden (s. Ziffer 2) und werden auch unter dem ICD-Code G93.3 erfasst.
Gutachterlich abzugrenzen ist die Fatigue, die bei anderen Erkrankungen auftreten kann: z. B. onkologischen Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen oder Depression. Diese Fatigue bei anderen Erkrankungen wird nicht unter G93.3 erfasst.
Die Kriterien der Schwerbehinderung (GdB/GdS) nach dem SGB IX sind in der VersMedV festgelegt. Eine Dauer der der Schädigung/Behinderung von mindestens sechs Monaten wird vorausgesetzt (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Bei einer „Heilungsbewährung“ (z. B. durchgeführte spezifische Therapie, geplante stationäre oder Reha-Behandlung) kann eine zeitlich begrenzte höhere Einstufung erfolgen. Berücksichtigt werden kann auch eine „außergewöhnliche seelische Begleitreaktion“, wenn eine spezielle ärztliche Behandlung notwendig ist, z. B. Psychotherapie. In diesem Fall kann neben der Kodierung nach G93.3 auch eine zusätzliche Kodierung (z. B. F32 oder F33) einbezogen werden. Unter 18.4 der VersMedV wird die Einordnung vorgenommen: „… das das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), … und ähnliche Syndrome sind jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen.“ Damit kommt entsprechend der Schwere der Erkrankung ein GdB von 0–100 in Betracht. Mit Hilfe der Bell-Skala (cfc.charite.de, im Dokument Kanadische Konsenskriterien), können die Auswirkungen der eingeschränkten körperlichen und geistigen Belastbarkeit präziser eingeordnet werden. Dabei ist zwingend die kognitive Beeinträchtigung mit zu berücksichtigen. In der VersMedV wird die kognitive Leistungsstörung unter Kategorie 3.1. „Hirnschäden“ abgebildet. Je nach Ausprägung wird in der Gesamtbewertung ein GdB von 30–40 % (geringe Leistungsbeeinträchtigung) bis 70–100 % (schwere Leistungsbeeinträchtigung) zugeordnet. Für Kinder und Jugendliche ist sie nur mit Einschränkung geeignet.
Bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit kann zunächst ebenfalls die 6-Monats-Grenze herangezogen werden. Im weiteren Verlauf ist die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (AU) vom ausgeübten Beruf abhängig.
In der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Versorgung nach dem Bundesbeamtengesetz kann die Bell-Skala herangezogen werden, aus der auch mögliche Teiltätigkeiten definiert werden können.
Die Voraussetzungen einer BU in privaten Versicherungen sind in den jeweiligen Versicherungsverträgen definiert. In der Regel muss auch eine Teiltätigkeit hinsichtlich der Anforderung an die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit ermöglicht werden. Die Definition der Teiltätigkeiten ist an die in der Sozialgerichtsbarkeit üblichen Fragen angelehnt. Verwendet wird der Begriff „absehbare Zeit“ ohne nähere Begriffsbestimmung. Auch hier kann der Zeitrahmen von 6 Monaten angewandt werden. Die Kriterien der Bell-Skala erlauben eine qualifizierte Beurteilung.
Bei ME/CFS sollte zusätzlich immer berücksichtigt werden, dass ab einem Bell-Score von 60 bereits Alltagsanstrengung und Stress zu einer Verschlechterung führen können und eine anhaltende Überbelastung eine dauerhafte Krankheitsverschlechterung auslösen kann. Betroffene mit einem Bell-Score von 30 sind in der Regel an das Haus gebunden und nur noch in der Lage, leichte Arbeiten oder Schreibtischarbeit für 2–3 h täglich durchzuführen, wobei individuelle Ruhepausen benötigt werden. Weitere Tätigkeiten sind dann oft nicht mehr möglich. Betroffene mit Bell-Score von 20 oder weniger müssen in der Regel aufsuchend versorgt werden.
Eine Infektion am Arbeitsplatz kann auch als berufsbedingter Auslöser eingestuft werden. Insbesondere im ersten Jahr der Pandemie sind viele Mitarbeiter in medizinischen Einrichtungen nach einer SARS-CoV-2-Infektion an ME/CFS erkrankt.

Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung

Die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit in Alltag und Beruf bei ME/CFS ist komplex. In der Regel kommt es bei den Betroffenen zu wiederholten oder längerfristigen Arbeitsunfähigkeitszeiten und gescheiterten beruflichen Wiedereingliederungsversuchen.
Der Ausschluss einer anderen Ursache der Symptomatik und möglicher Komorbiditäten und damit einer kausalen Behandlungsoption sollte der Leistungseinschätzung vorausgehen. Bei Bedarf ist eine fachinternistische, neurologische und gegebenenfalls psychiatrische Diagnostik und Beurteilung noch zu ergänzen (siehe Scheibenbogen et al. 2023). Das Vorliegen der bereits genannten Kanadischen Konsenskriterien ist zu überprüfen. Handkraftmessung, 6-Minuten-Gehtest und kognitive Leistungsdiagnostik unterstützen die Leistungsbeurteilung. Eine ausführliche Anamnese und Beurteilung der Funktions- und Fähigkeitsstörung nach International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) im beruflichen und privaten Kontext geben Hinweise auf das Leistungsvermögen bzw. die Leistungseinschränkung im Rahmen der oft komplexen multimodalen Beschwerdesymptomatik. Jeder Einzelfall bedarf der ausführlichen individuellen Betrachtung und Beurteilung im bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell. Zu beachten und gewichten sind bei ME/CFS die unterschiedlichen Ausprägungen des Leitsymptoms PEM, also der Belastungsintoleranz mit einer manchmal nachhaltigen Verschlechterung nach einer kognitiven, emotionalen oder physischen Belastung, die häufig von schwerer Fatigue, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit sowie Konzentrationsstörungen und kognitive Störungen (Orientierungsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit und mentale Erschöpfung) begleitet werden.
Die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens bzw. der Leistungsminderung erfolgt auf Grundlage der sozialmedizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung (Deutsche. Rentenversicherung, Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, 7. aktualisierte Auflage, Springer).
Hier ist eine genaue Arbeitsplatzanamnese der aktuellen Tätigkeit erforderlich, die neben der Zeitdauer auch die zu leistende Arbeitsschwere, die Arbeitsorganisation (Schichtdienst) und die Arbeitshaltung (sitzend, stehend, stationär oder mobil) erfasst. Zu beurteilen sind Leistungsminderungen hinsichtlich psycho-mentaler, sinnes-, bewegungsbezogener, kardio-pulmonaler Funktionen und besonderer Gefährdungs- und Belastungsfaktoren. Die Einschätzung, ob die letzte oder eine andere Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter 3 h täglich, 3 bis unter 6 h täglich oder mindestens 6 h täglich ausgeführt werden kann, erfolgt unabhängig von der Arbeitsmarktsituation.
Für leichter Erkrankte (ab Bell-Score 40) ist teilweise noch eine leichte Tätigkeit, die überwiegend sitzend und in flexibler Teilzeit ausgeführt werden kann, möglich. Vermieden werden sollten Tätigkeiten unter Zeitdruck, starker psychischer oder kognitiver Beanspruchung, da ME/CFS-Patienten oft Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen und eine verminderte Stressresilienz aufweisen. Häufiger besteht auch die Belastungsintoleranz gegenüber Reizüberflutung wie Lärm, Licht, bewegten Bildern, Publikumsverkehr. Die Möglichkeit flexibler Arbeitszeit und selbst gewählter Pausen ist essenziell. Erhöhte Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen sollten vermieden werden. Daher sind Einzelarbeitsplätze, Home-Office, Rückzugsmöglichkeiten, flexible Pausen und gegebenenfalls zeitweise PC-Arbeiten im Liegen günstig. Es muss die Möglichkeit geben, Pacing-Strategien, wie das individuelle Energie- und Aktivitätsmanagement, im Arbeitsalltag umzusetzen. Berufliche Teilhabe, ebenso Gleitzeitmodelle und Möglichkeiten der individuellen Arbeitszeitgestaltung sollten angestrebt werden.
Wenn es möglich ist, individuelles Pacing auch im Arbeitsalltag anzuwenden, kann es gelingen, dass Betroffene mit leichter Form von ME/CFS (Bell ab 60) am Erwerbsleben auch in Vollzeit teilnehmen können. Häufig liegen jedoch stärkere Einschränkungen des erwerbsbezogenen Leistungsvermögens vor, mit einer Einschränkung von 3 bis unter 6 h bzw. unter 3 h pro Tag. Dann muss die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente (EMR) geprüft werden und kann Entlastung von existenziellen Fragen im Alltag bedeuten. Ist eine berufliche Neuorientierung oder Umschulung in eine leichtere, flexiblere, reizärmere Tätigkeit erforderlich, kann die Prüfung von Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) durch den Leistungsträger angeregt werden.
Falls verfügbar ist eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme in einer Klinik mit einem auf ME/CFS spezialisierten Therapieprogramm zu empfehlen (ideal 5 Wochen). Das Erlernen eines Energie- und Aktivitätsmanagements (Pacing) unter Beachtung der individuellen Belastungsintoleranz ermöglicht oft die Teilnahme an einem wohldosierten kognitiven und leichtem physischen Übungsprogramm im Wechsel mit Entspannungsphasen und der Vermeidung von PEM. Ein ambulantes Angebot physio-, ergotherapeutischer und physikalischer Therapien unterstützt eine strukturierte Alltagsgestaltung und einen Rehabilitationserfolg nachhaltig.
Ziel ist es, eine aktivere Alltagsgestaltung und Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen, Isolation und Einsamkeit zu vermeiden und Perspektiven für ein Verbleiben oder eine Rückkehr in das Erwerbsleben zu prüfen und ggf. zu eröffnen. Eine gelungene Krankheitsbewältigung (Coping) verbessert die Lebensqualität ME/CFS-Betroffener.
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