Skip to main content
Die Ärztliche Begutachtung
Info
Publiziert am: 22.03.2024

Erkrankungen und Verletzungen des Bewegungsapparates – Begutachtung

Verfasst von: Julia Seifert und Michael Wich
Orthopäden und Unfallchirurgen sollten in der gutachtlichen Bewertung die Abgrenzung von Verletzungen gegenüber Erkrankungen des Bewegungsapparates durchführen.
Erkrankungen können aber auch einen Mitwirkungsfaktor haben oder als Schadensanlage bzw. Vorschaden den Verlauf einer Verletzung mitbestimmen.
Im folgenden Kapitel werden klassische akute Verletzungen, aber auch systemische Erkrankungen oder degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates beschrieben und hinsichtlich ihrer Kausalität diskutiert.

Einleitung

Der menschliche Bewegungsapparat besteht aus zwei wesentlichen Systemen: dem knöchernen Skelett einschließlich der Gelenke, die das Gerüst bilden, und den Muskeln, die für die Statik und Dynamik des Skeletts zuständig sind.
Dem Muskelsystem zugerechnet werden sog. Hilfseinrichtungen, wie Sehnen, Faszien und Schleimbeutel. Die Muskulatur macht ca. 40–50 % unseres Körpergewichtes aus und erzeugt bei Bewegung Wärme, sodass die Muskulatur zur Wärmeregulation beiträgt.
Mit zunehmendem Alter unterliegen beide Systeme klassischen degenerativen Prozessen, die durch eine altersbedingte verminderte Mobilität bzw. Inaktivität sowie hormonelle Umstellungen (Klimakterium, Altersdiabetes, genetischer Alterungsprozess von Zellen und Geweben u. a.), aber auch von Durchblutungsstörungen und Mangelernährung bestimmt werden. Die Folgen können Osteoporose, Osteopenie, Osteochondrose, Arthrose, Tendopathie, Muskel- und Knorpelatrophie sein.
Diese altersbedingten Umbauprozesse, die als physiologisch zu betrachten sind, sind genetisch individuell unterschiedlich stark ausgeprägt, betreffen aber prinzipiell jeden Menschen.
Aber auch Überbeanspruchung und Fehlbelastung (z. B. Leistungssport, Berufskrankheiten, angeborene Fehlstellungen) oder Unfälle und Verletzungen (Frakturen, Luxationen, Muskel-, Band-, Sehnen- und Knorpelläsionen) können den Bewegungsapparat schädigen. In deren Folge können z. B. frühzeitige Arthrosen entstehen (sog. posttraumatische Arthrose).
Daher müssen bei der Begutachtung vorhandene nachweisbare Veränderungen des Muskel-Skelett-Systems bzgl. ihrer Kausalität, wie Unfallfolge versus Degeneration, analysiert werden.
Der Gutachter muss die jeweiligen Kausalitätslehren in den verschiedenen Rechtsgebieten kennen, z. B. Äquivalenz- bzw. wesentliche Bedingungstherorie (Sozialrecht) versus Adäquanztheorie (Zivilrecht), differenzieren und berücksichtigen.
Die Funktion des Bewegungsapparates wird in allen Gutachtenformen neben einer ausführlichen und auf den betroffenen Körperteil bezogenen Untersuchung beschrieben sowie abschließend auf einem Messblatt für die jeweiligen Körperabschnitte in Gradzahlen wiedergegeben: Messblätter für obere und untere Extremitäten, Wirbelsäule und Hand. Bei möglicherweise bestehenden Differenzen zwischen aktivem und passivem Bewegungsausmaß ist dieses im Text anzugeben.
Messblätter enthalten grundsätzlich die Werte der aktiven Beweglichkeit (wobei der Untersucher die Extremität in der Bewegung begleiten oder führen soll).
Aufgrund eines Untersucherbias ist es sinnvoll, Umfangsmaße zentimetergenau und Bewegungsausmaße in wenigstens 5° Schritten anzugeben. Die in den Messblättern geforderten Angaben entsprechen der Neutral-Null-Messmethode.

Muskelverletzungen und Erkrankungen

Muskelverletzungen

Die Schweregrade von Muskelverletzungen reichen von einfachen Prellungen und Zerrungen ohne nachweisbare Pathomorphologien (unter der Nachweisgrenze eines MRT), nachweisbaren Muskelfaserrissen (MRT oder Sono: Hämatome, Ödeme) bis hin zu schweren offensichtlichen Schäden wie Muskelquetschungen und -zerreißungen oder -abrissen. Letztere sind in der Primärdiagnostik und in der Identifizierung des Gesundheitserstschadens häufig einfach zu erfassen und machen in der späteren Beurteilung der Kausalität bzw. sich daraus ergebender Folgen wenig Probleme.
Muskeln können auch sekundär geschädigt werden, insbesondere wenn diese innerhalb von Muskellogen liegen, die durch straffe Faszien abgeschlossen sind (Kompartment) und innerhalb dieser nur eine begrenzte Volumenzunahme möglich ist: sog. Kompartmentsyndrom.
Kompartmentsyndrome entstehen dann, wenn der intrafasziale (Logen-)Druck den arteriellen Perfusionsdruck übersteigt. Es kommt zu Minderdurchblutung, „capillary leakage“, Ödem, Nervenschäden und im Endstadium zur Muskelnekrose. Ursachen eines Kompartmentsyndroms können Frakturen, Luxationen, schwere Kontusionen, Überbelastung, postischämische Reperfusion, fehlerhafte Gipsbehandlung und Lagerungsschäden sein. Auch können testosteronhaltige Nahrungsergänzungsmittel das Risiko der Entstehung eines Kompartmentsyndroms erhöhen.

Muskelerkrankungen

Myositis ossificans

Man unterscheidet eine generalisierte Form, die sog. Myositis ossificans progressiva, oder auch Fibrodysplasia ossificans progressiva (FOP – Münchmeyer-Syndrom) bei der es sich um eine seltene, angeborene autosomal-dominant vererbte Allgemeinerkrankung handelt, die in Schüben zu ausgedehnten Verknöcherungen der quer gestreiften Muskulatur führen kann. Die Erkrankung breitet sich cranio-caudal aus. Eine zugelassene Therapie dieser sehr seltenen Erkrankung ist zurzeit noch nicht verfügbar.

Heterotope Ossifikationen (HO) oder Myositis ossificans localisata

Sie werden in traumatische, chronisch-traumatische und neurogene Formen eingeteilt.
Verknöcherungen können als Folge von Verletzungen des Knochens (Frakturen, Luxationen), der Weichteile (Verbrennungen, schwere Kontusionen) oder nach operativen Eingriffen lokal auftreten (traumatisch).
Als Prophylaxe bei endoprothetischen Eingriffen können NSAR (bevorzugt Indomethacin) verabreicht werden. Zusätzlich kann bei > 50 ig Jährigen eine prä- und/oder postoperative Bestrahlung mit jeweils 7 Gy in Erwägung gezogen werden (Klemm et al. 2022).
Ebenso finden sich solche Veränderungen nach Langzeitbeatmung und Intensivtherapie von Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma oder Rückenmarkverletzung (sog neurogene heterotope Ossifikation).
Dauerhafter Druck oder Erschütterungen, die wiederholt an ein und derselben Stelle einwirken, können zu solchen lokalen Verknöcherungen führen (z. B. „Reiterknochen“ an der Innenseite des Oberschenkels – chronisch-traumatisch).
Ursächlich für HO sind in Weichteilen lokalisierte Zellen, die sich metaplastisch verhalten können: Endothelzellen, mesenchymale Stammzellen, Fibrobasten (u. a.). Sie werden getriggert durch inflammatorische Mediatoren, Immunzellen mit bestimmten Oberflächenantigenen, Knochenbildung stimulierenden Proteinen (BMP-4) oder Hormonen (Testosteron). Zudem scheint die Immobilisation von Extremitäten ossifikationsfördernd zu sein (Vanden Bossche und Vanderstraete 2005).

Sehnenverletzungen

Apophysenverletzungen

Die Apophyse stellt den knöchernen Ansatzbereich von Sehnen (indirekt von Muskeln) und Bändern dar. Sie besitzen einen eigenen Knochenkern, der zunächst rein knorpelig, später mineralisiert und ossifiziert und mit der Meta/Diaphyse verschmilzt (z. B. Trochanter major und minor).
In der Wachstumsphase der Pubertät kommt es vorübergehend auch durch hormonelle Einflüsse zu einer Auflockerung der Apophysen, die dann bei sehr kräftigem Muskelzug abreißen können. Typischerweise findet man diese Verletzung bei sportlichen Jungen, da bei Mädchen die Ossifikation und Verschmelzung der Apophysen früher einsetzt und die Muskelkraft bei ihnen geringer ist.
In den meisten Fällen handelt es sich also nicht um eine rein traumatische Schädigung, sondern um das Zusammentreffen einer vorliegenden Krankheitsanlage mit einem von außen einwirkenden Ereignis. Es bedarf bei der Begutachtung für die GUV hier also stets einer Einzelfallprüfung, ob das Ereignis in seiner Bedeutung einer herausragenden Teilursache entspricht oder, ob hier ein eine sog. Gelegenheitsursache anzunehmen ist.
Eine Sonderform stellt der M. Osgood-Schlatter dar. Er wird im deutschsprachigen Raum den aseptischen Knochennekrosen zugeordnet und betrifft den Ansatz der Kniescheibensehne am Schienbeinkopf (Tub. tibiae). Er bereitet in der Regel längerfristig bestehende Beschwerden (Schmerzen, Schwellung, Überwärmung). Auch hier spielen eine Überbelastung (Sport, Übergewicht) während des pubertären Wachstumsschubes eine Rolle. Dadurch wird die Verknöcherung der Apophyse gestört und verzögert. Plötzliche starke Muskelanspannungen oder -dehnungen können zum Abriss führen. Eine Dislokation der Tuberositas tibiae nach ventral, cranial sollte operativ refixiert werden.
Die eigentliche Erkrankung des M. Osgood-Schlatter ist selbstlimitierend und von guter Prognose.

Achilles-, Quadrizeps- und Lange Bizepssehne (LBS), Rotatorenmanschette

Eine planmäßige, d. h. willkürliche Innervation der Muskulatur (mit einer daraus resultierenden ungehinderten, nicht unterbrochenen Bewegung) führt nicht zu einer unphysiologischen Belastung der Sehne. Sehnenzerreißungen im Rahmen dieser alltäglichen Belastungen lassen daher den Rückschluss auf vorbestehende erhebliche degenerative Veränderungen zu. Sehnen haben eine geringe metabolische Aktivität und können sehr gut anaerobe Kapazitäten nutzen. Ihre Durchblutung erfolgt über die muskulären und ossären Übergangszonen (intrinsisches System) und über das Paratenon (extrinsisches System). Die Sehnenbelastbarkeit hängt ab von ihrem Durchmesser und ihrem Kollagenanteil.
Typische traumatische Rissszenarien für Sehnen liegen dann vor, wenn sie einer sehr abrupten, unerwarteten, starken und exzentrischen Zugbelastung ausgesetzt werden, bei der es zu einem Überschreiten der Reissfestigkeit der Sehne kommt.

Achillessehne

Die Achillessehnenruptur ist ein häufiges Krankheitsbild, da sie eine sehr stark belastete Sehne trifft. Das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt 6:1. Typisch sind degenerative Veränderungen des Sehnengewebes durch Überbelastung und Mikrotraumen (Sport), Durchblutungsstörungen (Nikotinabusus, Diabetes mellitus), chronischen Entzündungen (Rheuma, Gicht), mechanische Belastungen (Haglund-Ferse) sowie Kortison-, Antibiotika- und Statintherapie (Ludolph et al. o. J.; Ludolph 2005).
Sonderform: Die Achillessehne kann mit einem dreieckigen Knochenteil aus dem Fersenbein abreißen. Wegen des Aussehens bezeichnet man diese Verletzung, die besonders häufig beim Frontalsturz des Skifahrers beobachtet wird, als Entenschnabelbruch des Fersenbeins.
Gutachtliche Bewertung in der GUV: Die Zusammenhangsfrage nach Sehnenrupturen wird vom Gutachter häufig nur dann sicher geklärt werden können, wenn eine vollständige Vorgeschichte, exakte Unfallanamnese, MRT-, Operationsbefund und eine histologische Untersuchung der verletzten Sehne ausgewertet werden können (Fuchs et al. 2017). Auch mit der Kernspintomografie ist die Altersbestimmung einer Achillessehnenruptur meist nur unzuverlässig möglich, obwohl diese Untersuchungsmethode sowohl im Hinblick auf Sehnenverletzungen als auch im Hinblick auf degenerative Sehnenveränderungen eine sehr hohe Sensitivität und Spezifität aufweist (Kölbl et al. 2003).
Entscheidend ist letztlich die Analyse des Unfallhergangs, zu der neben den ersten Angaben des Versicherten nach dem Unfall, entsprechende Unfallermittlungen durch den Versicherungsträger herangezogen werden sollten.
Stets ist zu klären, ob das Ereignis zumindest wesentliche Teilursache oder doch nur als Gelegenheitsursache (Anlassgeschehen) zu werten ist (Bidell und Lodise 2016; Stoller et al. 1987).
Gelegenheitsursache: Die Schadensanlage darf aber nur dann als allein wesentlich angesehen werden, wenn sie nachweislich so stark ausgeprägt war, dass es zur Entstehung des Gesundheitsschadens nicht der äußeren Einwirkung aus der versicherten Tätigkeit bedurft hätte, sondern dieser auch durch alltäglich vorkommende Einwirkungen des unversicherten Alltagslebens zu derselben Zeit und in etwa gleichem Umfang eingetreten wäre (Hegelmaier et al. 1992). Findet sich in der histologischen Aufarbeitung des während der Operation entnommenen Sehnengewebes die schwerste Form einer Texturstörung der Sehne, dann kann ein Arbeitsunfall auch bei einem adäquaten Trauma ausgeschlossen werden, da bei der schwersten Form der vorbestehenden Sehnengewebsveränderung definitionsgemäß auch jedes alltägliche Ereignis zum Riss der Sehne führen kann.
Anders liegen die Verhältnisse bei der plötzlichen passiven Maximalbeanspruchung des Muskel-Sehnen-Systems muskulär fixierter Gelenke. In diesem Fall entfallen die physiologischen Regelkreisläufe der Muskulatur. Die volle Last trifft die anteilige Sehne, und es kann dadurch die Zugkraft der Sehne überschritten und eine Rissbildung verursacht werden. Damit wird man die Sehnenruptur als Unfallfolge anerkennen können, auch wenn gewisse degenerative Veränderungen bei der histologischen Untersuchung gefunden werden (Grosser 2010). Der histologische Nachweis mittelgradiger degenerativer Sehnenveränderungen schließt somit einen Unfallzusammenhang nicht kategorisch aus. Der Unfall ist dann zumindest wesentliche Teilursache.
Geeignete Unfallmechanismen sind: Sturz aus der Höhe mit Belastung des extendierten Fußes, überraschender Tritt in ein Bodenloch aus dem Laufen haraus, sodass es zur plötzlichen Vollbelastung des Vorfußes kommt und der Sturz nach vorne beim Skifahren bei sich nicht öffnender Bindung sowie gleichartige Ereignisse.
Für die Private Unfallversicherung obliegt es dem Gutachter zwischen einem Unfall oder einer ebenfalls mitversicherten „erhöhten Kraftanstrengung“ und der Mitwirkung unfallfremder Krankheiten und Gebrechen (Sehnendegeneration) abzuwägen. Letztere können im Rahmen des „Mitwirkungsanteils unfallfremder Erkrankungen“ berücksichtigt und zum Abzug gebracht werden.

Quadrizepssehne (QS)

Die QS-Rupturen finden sich überwiegend bei Personen > 40 Jahre, wobei Männer im Verhältnis 4–6:1 deutlich häufiger betroffen sind. Eine Beidseitigkeit der Rupturen weist auf eine Systemerkrankung bzw. Stoffwechselstörungen hin: Diabetes mellitus, Gicht, Hyperparathyreoidismus, Rheuma, Niereninsuffizienz sowie Anabolikamissbrauch, Antibiotika der Flourchinolonderivate (Ludolph 2005) oder Kortikoideinnahme.
Ursächlich oder teilursächlich können auch eine vorausgegangene Implantation einer Endoprothese sowie die Entnahme von Transplantaten (z. B für das VKB) sein.
Rupturen können zum Sturz führen, da die Streckfähigkeit des Kniegelenkes und damit die Stabilität im Gehen abrupt gemindert wird. Ob der Sturz die Ursache der Ruptur oder die Ruptur Ursache des Sturzes ist, sollte durch entsprechende Untersuchungen und Ermittlungen (siehe Achillessehne) analysiert und abgewogen werden.
Da Quadrizepssehnenrupturen operativ versorgt werden müssen, sollte stets intraoperativ eine Gewebeprobe zur histologischen Untersuchung entnommen werden.

Lange Bizepssehne (LBS)

Risse der LBS entstehen meist im Rahmen indirekter Krafteinleitung bei angespannter Sehne traumatisch (Rückschlag des Gewehrkolbens) oder durch ruckartige Belastung bei angespannter Sehne, so z. B. beim unvorhergesehenen Abfangen einer schweren Last, beim Tragen oder Abfangen des eigenen Körpers beim Sturz.
Diese seltenen traumatischen Risse der LBS sind abzugrenzen von den viel häufigeren Spontanrissen der schwer texturgestörten Sehne bei Veränderungen des Gleitgewebes im Sulcus intertubercularis.
Der periphere Ausriss der distalen Bizepssehne am proximalen Radius ist dagegen häufiger traumatischer Genese. Neben der seltenen direkten Verletzung der Sehne in der Ellenbeuge kommt die plötzliche passive Maximalbeanspruchung, z. B. beim unerwarteten Abfangen einer schweren Last, oder einer ruckartigen und gewaltsamen Streckung des gebeugten Ellenbogens als Ursache in Betracht (Grosser 2010).

Rotatorenmanschette (RM)

Schwere Krafteinleitungen im Bereich des Schultergelenkes können zu Einrissen der Rotatorenmanschette führen. Kommt es bei einer traumatischen Schultergelenksverrenkung zu einer Verletzung der Rotatorenmanschette mit oder ohne Abriss des Tuberculum majus oder minus, ist die Begutachtung unproblematisch.
Anders liegen die Verhältnisse bei der ansatznahen Ruptur der Rotatorenmanschette, da bei der Entstehung dieses Schadens zumeist degenerative Faktoren und ein äußeres Ereignis ineinandergreifen (Müller und Rehn 1984). Die Häufigkeit degenerativer Veränderungen und spontaner Rupturen in diesem Bereich gerade beim älteren Menschen (Müller und Rehn 1984; Oestern und von Blankenburg 1989) macht eine traumatische Genese der Rotatorenmanschettenruptur eher unwahrscheinlich und führt in den meisten Fällen zur Ablehnung des Unfallzusammenhanges (Wang und Wang 2021).
Müller und Rehn (Ludolph et al. 1985) wiesen darauf hin, dass gerade deshalb die Gefahr der gutachtlichen Vereinfachung besonders groß ist.
Grundsätzlich kommt jede von außen auf die Schulter einwirkende Kraft als Rupturursache in Frage, die zu einer Zugbelastung der Rotatorenmanschette führt.
Dies sind im wesentlichen Distorsionsereignisse mit exzentrischer Belastung:
  • Passiv erzwungene heftige Innen- oder Außenrotation bei anliegendem oder abgespreiztem Arm: z. B. Sturz vom Gerüst/Treppe, wobei der Sturz durch Festhalten verhindert werden soll.
  • Passive Traktion des Armes nach vorne, unten oder medial: ungeplantes Auffangen sehr schwerer Gegenstände, Nichtloslassen einer zurückschnellen Kurbel
  • Axiale Stauchung des Humeruskopfes nach ventral/kranial: Sturz rücklings, der mit zurückgeführtem Arm/Hand abgefangen werden soll.
Sowohl für die Diagnostik der Ruptur als auch für die der degenerativen Vorschädigung der Rotatorenmanschette ist die Kernspintomografie unverzichtbar. Mit ihr können akute von chronischen Rupturen unterschieden werden, Impingementzeichen, AC-Gelenkarthrose, Acromiondeformitäten, Pulley-Läsionen (s.u.), tendopathische Veränderungen, Knochenzysten, Ganglien und kraniale Labrumläsionen sowie Muskelatrophien lassen Rückschlüsse auf das Ausmaß degenerativer Vorschäden zu.
Verletzungsspezifische Veränderungen gibt es hingegen nicht (Lahm et al. 2004). Damit muss bei Verletzungen der Rotatorenmanschette neben der Berücksichtigung der Vorschäden eine genaue Analyse des Unfallherganges, des zeitlichen Verlaufes bis zur ärztlichen Erstvorstellung und der klinischen, operativen und ggf. histologischen Befunde erfolgen.
Scheidet eine Gelegenheitsursache aus und konkurrieren traumatische und degenerative Ursachen gleichwertig, wird man vor allem beim jungen Menschen die versicherte Tätigkeit als wesentlich ansehen können und den Unfallzusammenhang anerkennen.
Eine wichtige Bedeutung nimmt bei den Sehnenschäden auch der Gesundheitserstschaden ein, der zeitnah zum Unfallgeschehen erhoben wird. Bei einer akuten traumatischen Sehnenzerreißung ist eine sofortige Funktionseinschränkung (Kraftverlust, hochgradige Bewegungseinschränkung, u. a.) und eine akute massive Schmerzhaftigkeit zu erwarten.
Wenn sich ein Versicherter nach einem äußeren Ereignis wegen des Verdachts auf eine Rotatorenmanschettenverletzung erst nach mehreren Wochen, wegen sich allmählich verschlimmernder Beschwerden erstmals ärztlich vorstellt, dann spricht schon vieles gegen einen Ursachenzusammenhang im Rechtsgebiet der gesetzlichen Unfallversicherung.
Pulleyläsion der RMS: Die lange Bizepssehne tritt durch das Rotatorenintervall aus dem Gelenk heraus. Dieses wird durch Anteile der Supraspinatus- und Subscapularissehne sowie durch die Ligg coracohumerale und glenohumerale superior gebildet. Verletzungen oder degenerative Veränderungen des Pulleyabschnittes können zur Medialisierung oder sogar Luxation der LBS aus dem Sulcus herausführen. Längerfristige Instabilitäten des Pulley führen zu Entzündungen der LBS (Tendinitis) und auch zu Schäden zunächst am Oberrand der Subscapularissehne. Um eine Pulley-Läsion zu diagnostizieren, wird der O’Brien-Test durchgeführt – eine Schmerzangabe des Patienten nach Anheben seines nach vorn ausgestreckten, nach innen rotierenden Arms gegen einen Widerstand. Neben einem positiven Ergebnis des O’Brien-Tests finden sich bei der Pulley-Läsion häufig zusätzlich positive Subscapularis-Zeichen sowie lokaler Druckschmerz über der Bizepsrinne.

Sonstige Sehnenverletzungen

Zu den gedeckten traumatischen Sehnenverletzungen gehören die Ausrisse der Strecksehnen am Fingerendglied und an der Basis der Mittelglieder. Bei erhaltenen seitlichen Zügeln der Streckaponeurose kann es zu einem sogenannten Knopflochmechanismus kommen.
Peronealsehnenluxation: Sie können traumatisch oder habituell entstehen.
Anlagebedingt unterscheidet sich die Anatomie der Fibula stark: bei schwacher Ausprägung der dorsalseitigen Konkavität besteht eine Prädisposition zur Subluxation oder Luxation der Sehnen.
Traumatisch kann eine Sprunggelenksdistorsion zur Verletzung des superioren Peronealsehnenretinakulums (SPR) und des assoziierten fibrokartilaginären Randwalls führen, die als maßgebliche Stabilisatoren der Peronealsehnen im Verlauf entlang der distalen Fibula fungieren.
In Fehlstellung oder nicht verheilte distale Fibulafrakturen können ebenfalls einen ungünstigen Einfluss auf den Verlauf der Peronealsehnen haben. Des Weiteren findet man bei in Verkürzung verheilten Kalkaneusfrakturen gelegentlich Lockerungen und Subluxationen der Sehnen.

Verletzungen der Faszien

Faszien bestehen aus kollagenem faserigem Bindegewebe, das sich in einen oberflächlichen und tiefen Faszienapparat unterscheiden lässt.
Oberflächliche Faszien befinden sich im Bereich der Subcutis, umgeben die Fettzellen und verbinden sich mit der retikulären Schicht der Dermis. Sie umhüllen zudem neurovaskuläre Leitbahnen.
Tiefe Faszien umschließen und durchdringen Muskeln, Knochen und tiefe neurovaskuläre Strukturen. Je nach Ausmaß der Belastung können sie sich zu Aponeurosen verstärken. Flächenhaft oder ligamentär (Retinakulum, Fascia lata) oder als Muskelsepten erhöhen sie die Festigkeit der Organe. Faszien werden mittlerweile als verbindendes Spannungsnetzwerk des gesamten Körpers verstanden, da sie innerviert und mit Thermo-, Mechano-, Nozi-, Chemo- und Propriozetoren ausgestattet sind (Lahm et al. 2004; Stecco et al. 2023).
Faszienverletzungen entstehen im Rahmen von offenen Frakturen, bei denen Knochenanteile die Faszien von innen nach außen durchspießen oder durch Stich- und Schnittverletzungen, bei denen scharfe Gegenstände die Faszien von außen nach innen durchschneiden. Größere Läsionen können, sofern sie nicht vernäht werden, als sog. Faszienlücken imponieren, durch die das darunterliegende Muskel- oder Organgewebe durchtreten kann (Hernie). Solche Läsionen lassen sich im dynamischen Ultraschall gut nachweisen. Sie können neben ästhetischen auch funktionelle Beschwerden und Einschränkungen verursachen.
Nekrotisierende Fasziitis (NF): Die NF ist eine durch Bakterien hervorgerufene Infektion der tiefen Faszien und des Subkutangewebes. Man unterscheidet aus mikrobiologischer Sicht 2 Typen:
1.
Mischinfektion mit aeroben und anaeroben Erregern (Pseudomonas, Klebsiella, Clostridium, Vibrio vulnificus u. a.).
 
2.
Infektion durch Grampositive Kokken (Streptokokken oder Staphylokokken). Die klinischen Symptome entstehen hier im Wesentlichen durch Endo- und Exotoxine.
 
Prädisponierende Faktoren für Typ 1 Infektionen sind: Alter und Komorbiditäten (Diabetes, Adipositas, Immundefizienz u. a.).
Bei der Begutachtung sekundärer Infektionen nach Bagatelltrauma im Sinne einer NF (aber auch anderer Knochen- und Weichteilinfektionen) müssen prädisponierende Faktoren berücksichtigt werden. Nichtsdestotrotz gilt, dass der Versicherte in dem Zustand versichert ist, in dem er sich zum Zeitpunkt der Verletzung befindet. Somit kann im Einzelfall auch eine oberflächliche kleine Schürfung zur Ursache einer Infektion und den daraus resultierenden Folgen (Sepsis, Amputation, Tod) werden. Das Ereignis muss dazu zumindest eine wesentliche Teilursache der Infektion darstellen und nicht als Gelegenheitsursache bewertet werden.

Verletzungen und Erkrankungen der Schleimbeutel

Der Schleimbeutel (Bursa) dient zur Druckentlastung besonders exponierter Knochenteile und zur Verbesserung der Verschieblichkeit der darüberliegenden Weichteilstrukturen (Kniescheibe, Ellenbogen, Trochanterregion u. a.) und reduziert darüber hinaus die Reibung zwischen Sehne, Muskel und Knochen (Schulter u. a.).
Chronische (abakterielle) Bursitis: Betrifft in einem höheren Maß beruflich exponierte Personen: z. B. Fliesenleger, Bergleute, Steinsetzer u. a. (siehe BK 2105).
Klinischer Befund: Die Region ist geschwollen, die Bursa flüssigkeitsgefüllt, in der Regel findet sich eine lokale Hyperkeratose der Dermis als Zeichen einer chronischen Druckbelastung, wenig Schmerzen, keine Allgemeinsymptome. Zunächst sollten konservative Maßnahmen einer Druckentlastung über Hilfsmittel (Knieschoner mit Weichbettung oder Aussparung der Bursaregion) zur Anwendung kommen oder ein Wechsel des Arbeitsplatzes. Lässt sich durch Hilfsmittel keine Verbesserung erreichen, kann bei nicht zu vermeidender, anhaltender Belastung eine operative Bursektomie in Erwägung gezogen werden.
Bakterielle Bursitis: Infektionen entstehen durch Hautverletzungen im Bereich der Bursa z. B. durch Knieprellungen oder -schürfungen, Platzwunden, Punktionen oder Sturz auf den Ellenbogen mit Hautverletzung. Die Infektion der Bursa wird in der Regel innerhalb von 5–7 Tagen nach der Verletzung manifest. Sie weist typischerweise die 5 klassischen Zeichen einer Infektion auf: Tumor (Schwellung), Rubor (Rötung), Calor (Überwärmung), Dolor (Schmerz) und Functio laesa (Funktionseinschränkung des benachbarten Gelenkes) auf.
Neben einer antibiotischen Therapie und vorübergehender Ruhigstellung sollte eine Bursektomie in Erwägung gezogen werden.

Verletzungen und Erkrankungen der Knochen

Frakturen

Frakturen entstehen in der Regel durch äußere Krafteinwirkung wie Stoß, Quetschung, Torsion, Überlastung (z. B. sog. Marschfrakturen) oder selten ohne äußeren Einfluss bei Lysezonen innerhalb des Knochens durch primäre gutartige oder bösartige Tumoren bzw knöcherne Metastasenabsiedlungen.
Geriatrische Frakturen (sog. Fragility Fractures) und Frakturen bei Osteogenesis imperfecta entstehen meist durch ein geringfügiges (low energy) Trauma oder auch spontan. Während erstere durch Osteoporose bedingt sind, besteht bei der Osteogenesis imperfecta (sog. Glasknochenkrankheit) ein genetischer Defekt, der die Kollagensynthese betrifft und mit einer erhöhten Fragilität des Knochens einhergeht. Weitere Erkrankungen, die mit einer erhöhten Knochenbruchrate in Verbindung stehen sind: idiopathische juvenile Osteoporose, Cole-Carpenter- und Bruck-Syndrom, Hyper- oder Hypophosphatasie, polyostotische fibröse Dysplasie, Nährstoffmangel, Stoffwechselkrankheiten und Leukämie.
Gutachtlich können diese Krankheiten eine Rolle spielen, wenn es an den vorgeschädigten Knochen durch geringe äußere Einwirkung zu Frakturen oder verzögerter und unvollkommener Knochenbruchheilung kommt. Es muss dann im Rahmen des SGB VII abgegrenzt werden, ob dem Unfallereignis oder der anlagebedingten Erkrankung die allein wesentliche Ursache beizumessen ist oder ob die äußere Einwirkung als wesentliche Teilursache zu werten ist.
Frakturen können sich mit oder ohne Weichteilverletzung manifestieren. Frakturen werden im medizinischen Kontext nach der sog. AO-Klassifikation eingeteilt. Auch der Weichteilschaden kann in seiner Schwere klassifiziert werden (z. B. Gustilo/Anderson oder Tscherne/Oestern, s. Tab. 1).
Tab. 1
Klassifikation offener Frakturen. (Nach Gustilo und Anderson, modifiziert 1987)
Grad
Definition
Historische Infektionsrate
1
Oberflächliche, saubere Wunde, weniger als 1 cm Durchmesser, einfache Schräg- bzw. Querfraktur, keine Trümmerfraktur
0–2 %
2
Tiefe kontaminierte Wunde > 1 cm, Weichteilquetschung, aber adäquate Weichteildeckung des Knochens, drohendes Kompartmentsyndrom, Trümmerfraktur
2–5 %
3A
Ausgedehntes Weichteiltrauma (Kontusion, Decollement), aber adäquate Weichteildeckung des Knochens, drohendes Kompartmentsyndrom, Trümmerfraktur
10–50 %
3B
Ausgedehntes Weichteiltrauma (Kontusion, Decollement), Periostverlust (Deperiostierung), manifestes Kompartmentsyndrom, Trümmerfraktur
3C oder 4
ausgedehntes Weichteiltrauma (Kontusion, Decollement), Periostverlust (Deperiostierung), manifestes Kompartmentsyndrom, Trümmerfraktur Zusätzlich rekonstruktionspflichtige arterielle Gefäßverletzung, subtotale Amputation
25–50 %
Diese Klassifikationen sollen zum einen die Verständigung zwischen den Medizinern vereinheitlichen, zum anderen geben diese auch Hinweise zur Therapie und Prognose.
Ziel der Frakturbehandlung ist die Wiederherstellung der anatomischen Achse, der Gelenkflächen und damit der Funktions- und Belastungsfähigkeit.
Die Behandlung kann konservativ oder operativ erfolgen.
Eine frühzeitige Mobilisation und Belastbarkeit wird angestrebt, um Sekundärschäden (Muskelatrophie, Gelenkversteifung, Knorpelschäden, Osteopenie, u. a.) durch eine lange Immobilisierung zu vermeiden. Unter Abwägung von Nutzen und Risiken wird heutzutage immer öfter ein operatives Vorgehen angestrebt, da die längere Immobilität, Arbeitsunfähigkeit und Schmerzen bei konservativen Behandlungen unerwünscht sind (z. B. Claviculafrakturen).
Wachsendes Skelett
Bei kindlichen Frakturen ist unbedingt das hohe Remodeling- und Korrektur-Potenzial der Wachstumsfugen zu berücksichtigen. Zum Beispiel können selbst hochgradig verschobene Frakturen des proximalen Humerus bei Kindern unter 10 Jahren sehr gut konservativ behandelt werden. Je näher Frakturen an Epiphysenfugen mit hoher Korrekturpotenz liegen, desto mehr Dislokation kann durch den Remodeling-Prozess ausgeglichen und daamit durch den Behandler toleriert werden.
Die Wachstums- und Korrekturpotenz der Epiphysenfugen und Epiphysen ist in der folgenden Abb. 1 dargestellt.
Eine Besonderheit stellen sog. Übergangsfrakturen dar. Sie entstehen im Adoleszentenalter, in dem die Epiphysenfugen bereits partiell geschlossen sind.
Die Frakturen können in verschiedenen Ebenen verlaufen (biplanar, triplanar) und sollten mehrdimensional (bevorzugt durch MRT, ggfls. CT) dargestellt werden (Schröter 2002).

Pseudarthrose (Falschgelenk; „non-union“)

Die fehlende Durchbauung von Frakturen innerhalb der für diesen Knochen zu erwartenden Konsolidierungszeit (i. d. R. 4–9 Monate) wird als Pseudarthrose beschrieben. In der aktuellen Literatur wird die Pseudarthrose definiert, als eine Fraktur ohne Heilung nach 9 Monaten, wobei in den letzten 3 Monaten keine Fortschritte im Heilungsverlauf mehr dokumentiert werden konnten.
Individuelle Risikofaktoren beeinflussen die knöcherne Konsolidierung: Alter, Komorbiditäten, Durchblutungsstörungen, Nikotin, Medikamente, Instabilität im Frakturbereich, u. a.
Patientenunabhängige Risikofaktoren sind: Weichteilschaden, Kontamination, Frakturlokalisation, -typ, Knochendefekte, Osteosyntheseverfahren, u. a.
Am häufigsten finden sich Pseudarthrosen bei offenen Frakturen bzw. Frakturen mit Weichteilschaden im Bereich der unteren Extremität (Tibia und Femur), aber auch ohne Weichteilverletzung an der Handwurzel (z. B. Kahnbeinfrakturen).
Es existieren verschiedene Klassifikationen, wobei die rein morphologisch-deskriptive Klassifikation in hypertrophe (Elefantenfuß-)Pseudarthrose (Instabilität), atrophe Pseudarthrose (Durchblutungsstörung, Infekt), Defektpseudarthrose (knöcherner Defekt) und Infektpseudarthrose (Infektion) die gängigste darstellt.
Sie impliziert zugleich auch therapeutische Konsequenzen (Braun et al. 2019). Eine straffe Pseudarthrose (die sich nur radiologisch nachweisen lässt) mit voller Belastungsfähigkeit der Extremität und frei beweglichen angrenzenden Gelenken kann mit einer MdE von < 10 v.H. eingeschätzt werden.

Osteitis, Osteomyelitis

Hierunter wird die bakterielle Infektion des Knochens und/oder Knochenmarks verstanden. Sie kann ihren Ursprung endogen oder exogen nehmen.
Je nach zeitlichem Verlauf kann eine akute von einer chronischen Osteitis unterschieden werden.
Der sog. Frühinfekt nach einer vorangegangenen Operation mit Osteosynthese oder eine offenen Verletzung des Knochens hat einen in der Regel akuten Verlauf mit Schwellung, Rötung, Schmerzen und Überwärmung. Eine sofortige operative Intervention kann zur Infektsanierung führen, ohne dass das Material (Osteosynthese oder Endoprothese) komplett ausgetauscht werden muss. Dies gilt für den Beginn der Infektionszeichen innerhalb von 3–4 Wochen nach der Verletzung oder OP. Postoperative Wundhämatome sind klassischerweise Ausgangspunkte für eine postoperative Wundinfektion, die sich ggfls. auch zur Osteitis auswachsen kann.
Die chronische Verlaufsform der Knocheninfektion manifestiert sich eher schleichend, mit einem späteren Beginn und weniger dramatischen klinischen Zeichen. Die Sanierung ist in diesem Fall sehr viel aufwendiger und meist mehrzeitig.
Eine Sonderform der Osteitis ist die Spondylitis/Spondylodiszitis, welche häufig hämatogen, seltener exogen (z. B. bandscheibennahe Injektionen) entstehen kann.
Die gutachtliche Anerkennung einer endogenen Spondylitis/-diszitis als mittelbare Unfallfolge ist dann gegeben, wenn die Bakteriämie in einem Zusammenhang mit einem bg-lich versicherten Unfallschaden steht. Zum Beispiel kann eine nosokomial erworbene Pneumonie nach Polytraumaverletzung zur Bakteriämie und Absiedlung an anderem Ort (z. B. der Wirbelsäule) führen.
Der Zusammenhang exogener Infektionen ist dagegen sehr viel einfacher zu bewerten: durch Infiltrationen oder Operationen an der Wirbelsäule kann eine Infektion verursacht werden. Stehen diese in einem Zusammenhang mit einer Unfallfolge ist auch die Infektion als mittelbare Unfallfolge anzuerkennen.
Die endogene Infektion entsteht durch Bakteriämie (im Blut zirkulierende Bakterien) bedingte Absiedlung von hämatogen gestreuten Bakterien. Häufig siedeln sich Bakterien auf Fremdkörpern, also Osteosynthesen, künstlichen Herzklappen, Kathetern oder Endoprothesen ab. Einige der Bakterien (Staphylokokken, Enterobacteriaceae, Pseudomonaden u. a.) können sog. Biofilme produzieren, die einen Schutz vor Antibiotikaeinfluss gewähren. Da der Biofilm erst nach einiger Zeit (Wochen) ausgereift ist, besteht bei den Frühinfektionen eine gute Chance durch operatives Debridement und biofilmgängige Antibiose, eine Sanierung zu erzielen.
Da eine Osteosynthese (Endoprothese), die über Jahre im Körper belassen wird, als avitaler Fremdkörper stets ein locus minoris resistentiae darstellt, kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten eine Infektion endogen oder exogen (Prellung, Schürfung, anderweitige Hautverletzung über oder in der Nähe der Osteosynthese) in einem kausalen Zusammenhang (haftungsausfüllend) mit der Primärverletzung angesehen werden. Auch sind Reaktivierungen ehemaliger Infektionen oder Refrakturen möglich und dann im Einzelfall ebenfalls als mittelbare Unfallfolge anzuerkennen. Für die Kausalitätsdiskussion ist bei endogenen Infektionen die Schwere des Erstschadens, die Größe des Implantates, der zeitliche Zusammenhang zum Primärereignis und mögliche bereits vorausgegangene Infektionen sowie Komorbiditäten zu berücksichtigen.
Nur, wenn dem Primärschaden und der daraus entstandenen Gesundheitsschädigung (Verlust des natürlichen Gelenkes und Ersatz durch künstliches Gelenk) keine wesentliche Teilursache im späteren Infektionsgeschehen zugerechnet werden kann, ist ein Zusammenhang abzulehnen.
Exogene Infektionen entstehen entweder bei chirurgischen Manipulationen, Frakturen mit Weichteilschaden oder offenen Frakturen. Die direkte Kontamination der durchblutungsgestörten Weichteile führt sehr häufig zur Infektion. Daher bedarf es bei diesen Formen der Frakturen additiv nicht nur einer Antibiotikaprophylaxe, sondern einer systemischen Antibiotikatherapie. Die Infektionsrate verhält sich proportional zur Schwere der Weichteilverletzung (Tab. 1) (Grote et al. 2012).
Die MdE richtet sich nach dem Beschwerdebild und Funktionsverlust (Pseudarthrose, Fistel, fehlende Belastbarkeit etc.).
Eine asymptomatische, d. h. ruhende Osteitis mit belastbarer Extremität, geschlossenem Weichteilmantel, stabilen Narben und keinen bis geringen Beschwerden kann bei einer MdE < 10 % liegen.

Empyem/Gelenkinfektion

Infektionen eines Gelenkes entstehen durch bakterielle Besiedlung. Einige Erreger (z. B. S. aureus, Streptokokken, N. gonorrhoea) verfügen über diverse besondere Oberflächenmoleküle (sog. „Microbial surface components recognizing adhesive matrix molecules“, MSCRAMMs), die eine hohe Bindungsaffinität zur synovialen Membran von Gelenken aufweisen (Pieper et al. 1997).
Bakterien gelangen entweder direkt durch Verletzungen oder invasive Eingriffe (Punktion, OP) oder durch hämatogene Streuung in Gelenke (z. B. i.R. einer Endocarditis, Sepsis, Bakteriämie).
Abhängig von der Erregerzahl und der Virulenz kommt es zu einem akuten Verlauf (akute Infektion) mit Rötung, Schwellung, Überwärmung und Schmerzen ggfls. Fieber oder zu einem eher schleichenden Verlauf (chronische Infektion) mit intermittierenden und weniger starken Beschwerden.
Die Infektion von Gelenken führt zur Zell- und Knorpelschädigung bis hin zur Destruktion und Arthrose.
Die Diagnostik erfolgt durch entsprechende Klinik (s.o.), Paraklinik (Laborbefunde: Leucos, CRP, ggfls PCT), Röntgen, MRT und Mikrobiologie (Punktion, Abradate).
Ein Gelenkempyem ist ein Notfall, der umgehend operativ durch Spülung und ggfls Synovektomie operativ und additiv antibiotisch behandelt werden sollte (Thomann et al. 2009).
Für die Begutachtung ist es von Relevanz, ob eine Infektion tatsächlich ausgeheilt ist oder aber chronisch persistiert und ob durch Knorpelschäden oder Gelenkdestruktion Funktionseinbußen bestehen.
Die einzuschätzende MdE richtet sich ebenso wie der GdB nach den entsprechenden Funktionsverlustwerten.

Extremitätenverlust

Die Amputation einer Extremität ist ein schwerwiegender Eingriff in die physische und psychische Verfassung eines Menschen und bedarf daher einer umfangreichen Betreuung auf medizinischem, sozialem, psychologischem und orthopädietechnischem Gebiet sowie einer speziellen Rehabilitation.
Es hat sich dazu in den letzten Jahren etabliert, dass frühzeitig die Möglichkeit von Peer-Gesprächen in Erwägung gezogen wird.
Die Ursachen von Amputationen sind vielfältig und werden hier nicht im Einzelnen berücksichtigt.
Generell gilt, je jünger der Patient, desto besser gelingt eine gute exoprothetische Versorgung, Wiedereingliederung in die Arbeitswelt und soziale Teilhabe.
Je „länger“ die amputierte Extremität, desto einfacher die exoprothetische Versorgung, d. h. eine Unterschenkelamputation mit langem Unterschenkelanteil ist günstiger als eine solche mit sehr kurzem Stumpf.
Der Verlust einer oberen Extremität ist deutlich schwerwiegender als der einer unteren Extremität, da es zum Verlust von Greif-, Halte- und Tastfunktionen kommt, sodass das „Tätigkeitsfeld“ erheblich eingeengt wird. Es besteht nach einer Amputation an den oberen Extremitäten oft Hilfsbedürftigkeit bei Verrichtungen des täglichen Lebens (Körperhygiene, An- und Auskleiden usw.).
Bei einer Schulterexartikulation oder sehr schultergelenknahen Oberarmamputation kommt es häufig zu einer Oberkörper Fehlhaltung, der durch den ausgleichenden seitlichen Gewichtsverlust bedingt ist. Daher kann es sinnvoll sein, wenigstens eine „Schmuckprothese“ als Gewichtsausgleich anzulegen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass eine Amputation an den oberen Extremitäten im sozialen Umfeld deutlich auffälliger ist (beim Gestikulieren, beim Händeschütteln, etc.), als die unter der Beinkleidung verschwindende Exoprothese der unteren Extremitäten. Das körperliche Versehrtsein (Behinderung) ist offensichtlicher (Stigmatisierung).
Die moderne Exoprothetik bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, kann aber nicht von allen Patienten gleichermaßen funktional genutzt werden. Myoelektrische Prothesen bedürfen eines langwierigen Trainingsprozesses, sind teuer und störanfällig. Die jeweils geeignete exoprothetische Versorgung ist individuell mit dem Versicherten und dem Kostenträger zu planen.
Dem Gutachter sollte bekannt sein, dass der Amputationsstumpf einem Veränderungsprozess unterliegt, in Bezug auf Umfang, Hautzustand und Belastbarkeit. Muskelplastisch gedeckte Stümpfe mit erhaltener Vollhaut sind dabei als funktionsgünstig zu bewerten.
Regelmäßiges Tragen von Prothesen kann zu Hautreizungen, Entzündungen und chronischen Geschwüren führen. Dabei spielt auch die Blutversorgung des Stumpfes eine Rolle. Ein durchblutungsgestörter Unterschenkelstumpf ist nutzlos, sodass ggfls. eine Nachamputation auf höherem Niveau indiziert sein kann.
Für die MdE Werte sind von Bedeutung:
  • Länge des Stumpfes bzw. Höhe der Amputation
  • Stumpfbeschaffenheit (z. B.: Vorhandensein einer instabilen Narbe, unzureichende Weichteildeckung, Follikulitis, Abszesse, Randgeschwüre o. ä.)
  • Phantomschmerz (außergewöhnliche Schmerzen)
Nach intensiven Beratungen, öffentlichen Hearings und Diskussionen mit Sozialpartnern und Sozialgerichten, hat eine MdE-Expertengruppe unter der Schirmherrschaft der DGUV Ende 2019 eine neue MdE-Eckwertetabelle nach Gliedmaßenverlusten publiziert, die die UV-Träger für sich als verbindlich anerkennen. Sie bezieht sich auf die besonders wichtigen Eckwerte bei, die auch zur MdE-Einschätzung leichterer Verletzungen wegweisend sind und als Orientierungshilfe verstanden werden sollen.
Im Jahr 2023 hat eine weitere Expertengruppe ihre Arbeit aufgenommen, die auf der Basis der Eckwerte für Gliedmaßenverluste weitere konsentierte Empfehlungen zur MdE erarbeiten soll.
Sekundärschäden als Folge einer Amputation betreffen vorwiegend die Wirbelsäule, da diese eine vermehrte statische Ausgleichsarbeit leisten muss, sofern keine gewichtsausgeichende Exoprothese getragen werden kann.
Die Ausgleichsbewegung bei Oberarm- und Oberschenkelamputation kann zur Seitverbiegung bzw Skoliose, Spondylose und -arthrose führen.
Das Risiko von sekundären Arthrosen am verletzten und unverletzten Bein wird durch eine Amputation i. d. R. nicht erhöht. Ausnahmen sind eine langjährige schlechte prothetische Versorgung mit deutlicher Fehlbelastung und ein Degenerationsmuster, das zu dieser Fehlbelastung passt.
Bei hohen Amputationen der oberen Extremitäent kommt es durch den Gewichtsverlust auf der amputierten Seite zu einer Verbiegung der HWS und zervikalen Bewegungssegmente, sodass es zu entsprechenden Bandscheibenschäden kommen kann. Eine Höherbewertung der MDE um 10 % ist analog zur LWS bei Oberschenkelamputationen bei entsprechenden statischen und funktionellen Veränderungen in Betracht zu ziehen.

Erkrankungen der Knochen

Aseptische Nekrosen

Bei aseptischen Knochennekrosen handelt es sich um eine zusammengehörige Gruppe von Krankheitsbildern, die meist nach ihren Autoren Erstbeschreibern benannt wurden. Die Erkrankungen sind von entzündlichen oder infektiösen Knochennekrosen abzugrenzen.
  • Nekrosen des Os naviculare am Fuß sowie die Nekrose der Mittelfußköpfchen (Köhler I und II) treten im Wesentlichen im jugendlichen Alter auf. Eine Entstehung durch Fraktur oder Kontusion des Fußes ist bisher nicht beobachtet worden.
  • Gleiches gilt für die Erkrankung nach Osgood-Schlatter der Tibiaapophyse und die Nekrose der Calcaneusapophyse (Morbus Seter).
  • Eine weitere aseptische Knochennekrose ist die idiopathische Hüftkopfnekrose, auch Morbus Perthes genannt, die im Alter von 3–10 Jahren auftritt.
  • Im Unterschied hierzu ist die Epiphyseolysis capitis femoris eine Erkrankung des Jugendalters (ab 9 Jahre), bei der es zu einem Abrutschen der Hüftkappe in der Epiphysenfuge kommt. Man bekommt diese Kranken im Allgemeinen erst dann zu sehen, wenn die Hüftkappe bereits abgerutscht ist und dadurch Beschwerden verursacht werden. Gelegentlich wird dann ein Bagatelltrauma als Ursache für die anlagebedingte Erkrankung angegeben. Im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten kann es zu einer Deformierung des Hüftkopfes unter Ausbildung einer schweren Coxarthrose kommen.
    Das Krankheitsbild darf nicht mit der medialen Schenkelhalsfraktur verwechselt werden. Das ist besonders dann von Bedeutung, wenn die Kranken erst mit dem Vollbild einer schweren Coxarthrose zur Begutachtung kommen und angeben, dass sie vor 20 oder 30 Jahren eine Hüftgelenkprellung oder einen Sturz auf die Hüfte erlitten haben. In diesen Fällen wird man nach alten Röntgenaufnahmen und Unterlagen über die Art der Behandlung, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit usw. forschen müssen, da im Spätstadium eine traumatische aseptische Hüftkopfnekrose und Coxarthrose nicht mehr ohne Weiteres von der anlagebedingten Hüftkopfnekrose abzugrenzen ist.
    Die traumatische aseptische Hüftkopfnekrose kann nach Hüftgelenksluxationen und Schenkelhalsfrakturen noch Jahre später auftreten. Sie endet ebenfalls in einer schweren sekundären Coxarthrose. Der Grund für die traumatische Hüftkopfnekrose liegt in der ungenügenden Blutversorgung des Hüftkopfes, wenn es bei Luxationen und medialen Schenkelhalsfrakturen zur Zerreißung der Blutgefäße kommt. Ähnliche Nekrosen werden nach Verrenkungen und Frakturen des Sprungbeins beobachtet.
  • Eine besondere Bedeutung kommt der aseptischen Nekrose des Mondbeins (Morbus Kienböck) am Handgelenk zu, die einmal ohne äußere Ursache (idiopathisch), zum anderen aber auch nach einem einmaligen, nachgewiesenen und erheblichen Trauma des Handgelenkes auftreten kann.
    Gutachtliche Beurteilung: Für die Beurteilung ist eine Röntgenverlaufsserie von wesentlicher Bedeutung. Wenn bereits zum Zeitpunkt des angeschuldigten Unfallereignisses Veränderungen – insbesondere Verdichtungen der Knochenstruktur und Deformierungen – vorliegen, so ist der Unfallzusammenhang abzulehnen. Anders ist es, wenn diese Veränderungen erst im Laufe von Monaten nach dem Trauma auftreten. Besonders schwierig zu beurteilen sind Risse oder Sprünge in einem nekrotischen Mondbein. Ohne eine Röntgenverlaufsserie wird man kaum entscheiden können, ob es sich um Veränderungen im Verlauf der unabhängig bestehenden Knochenerkrankung oder um frische traumatische Brüche in einem nekrotischen Mondbein handelt. Auch hier kann die MRT-Untersuchung wichtige Anhaltspunkte (Nachweis von Begleitverletzungen, Hämatom, Bandzerreissungen, u. a.) für oder gegen ein traumatisches Geschehen als Ursache liefern.
  • Durch mindestens zweijährige regelmäßig durchgeführte Arbeiten mit Pressluftwerkzeugen kann es ebenfalls zu einem sogenannten Mondbeintod kommen. Ätiologisch werden Schädigungen des Mondbeines durch direkte Stoßwirkung, Nervenschäden und Gefäßabdrosselung während der Pressluftarbeit diskutiert.
    Gutachtliche Beurteilung: Da der Mondbeintod auch ohne Pressluftarbeit vorkommt, und zwar in kaum geringerem Umfang, muss die Verursachung durch die berufliche Tätigkeit in jedem einzelnen Fall kritisch betrachtet und beurteilt werden. Beim Mondbeintod durch Pressluftarbeit handelt es sich um eine Sonderform der BK 2103, ebenso wie bei der Ermüdungsfraktur und Ermüdungszyste des Kahnbeins mit Pseudarthrosenbildung. Wesentlich für diese Sonderform der BK 2103 ist, dass die Ermüdungsfraktur nicht an eine Mindestarbeitsdauer mit Pressluftwerkzeugen gebunden ist.

Komplex Regionales Schmerzsyndrom (Complex Regional Pain Syndrome –CRPS)

Unter einem CRPS versteht man ein Schmerzsyndrom nach Trauma einer Extremität, bei dem die Schmerzen im Vergleich zum erwarteten Heilungsverlauf unangemessen stark sind und bei dem sich Störungen der Sensorik, Motorik, des vegetativen Nervensystems und der Gewebetrophik finden.
Wichtig ist festzuhalten, dass diese Symptome nicht mehr auf direkte Traumafolgen zurückzuführen sind. Die Symptome müssen deshalb außerhalb (in der Regel distal) der Traumastelle auftreten und dürfen sich nicht auf das Innervationsgebiet eines peripheren Nervens oder einer Nervenwurzel (cave Plexusläsion) beschränken. Einzelne Akren können ausgespart sein. Bei isoliertem Befall großer Gelenke ohne akrale Beteiligung sollte die Diagnose CRPS nur mit größter Zurückhaltung in Betracht gezogen werden. (S1-Leitlinie Stand 2018: Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS). AWMF 030/116)
Es werden 2 Typen unterschieden:
  • CRPS Typ 1: ohne Nervenschädigung
  • CRPS Typ II: mit Nervenschädigung (nachweisbare Verletzung größerer peripherer Nerven)
Zur Diagnostik bedarf es bestimmter Symptom-Konstellationen, die innerhalb von Kategorien festgelegt sind (Budapest-Kriterien):
1)
Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird
 
2)
Die Patienten müssen über jeweils mindestens 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien in der Anamnese berichten:
a.
Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); „Hyperästhesie“ (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)
 
b.
Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
 
c.
Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
 
d.
Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum
 
 
3)
Bei den Patienten müssen jeweils mindestens 1 Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegen:
a.
Hyperalgesie auf spitze Reize (z. B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf Gelenke/Knochen/Muskeln
 
b.
Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
 
c.
Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
 
d.
Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum
 
 
4)
Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend.
 
Es müssen alle Punkte 1 bis 4 erfüllt sein.
Die Therapie erfolgt stadiengerecht und multimodal: pharmako-, physio- und ergotherapeutisch. Auch psychotherapeutische Ansätze müssen als Baustein in Betracht gezogen werden.
Interventionell können Sympathikusblockaden und rückenmarksnahe Elektrostimulation oder intrathekale Injektionen bei fehlendem Erfolg o. g. Therapieansätze in Erwägung gezogen werden.
Das Primärziel ist die Schmerzreduktion, daher sind stationäre Rehabilitationsverfahren, insbesondere im bg-lichen Zusammenhang, sinnvoll und anzustreben.
Für die Begutachtung können neben den o. g. Kriterien aus der Budapest-Konsensus-Konferenz auch radiologische Veränderungen hinweisgebend sein:
In der konventionellen Röntgenaufnahme zeigen circa 50 % der Betroffenen nach 4–8 Wochen generalisierte, kleinfleckige, osteoporotische, gelenknahe Veränderungen. Die Aufnahmen sollten im Seitenvergleich durchgeführt werden, um die Sensitivität zu erhöhen (Gradl et al. 2003). Zur Verlaufskontrolle des CRPS sind Röntgenaufnahmen oder CTs aber nicht indiziert. Eine große Verwechslungsgefahr besteht mit der Inaktivitätsosteoporose.
Die Kernspintomografie wird oft aus differenzialdiagnostischen Gründen durchgeführt, ist wegen ihrer sehr geringen Spezifität für die Diagnosestellung eines CRPS aber nicht geeignet. Vor allem sind im MRT nachgewiesene Knochenödeme nicht geeignet, die Diagnose CRPS zu sichern.
Für einen Kausalitätsnachweis müssen Erstschaden und CRPS im Vollbeweis vorliegen und in einem zeitlichen Zusammenhang stehen.
Gutachtlich problematisch ist, dass das CRPS auch „spontan“ und im Rahmen von Bagatelltraumata auftreten kann.
Für die Einschätzung der MdE sind die Faktoren Schmerz und Funktionseinbuße wesentlich.
Die MdE reicht von < 10 % bis 80 % bei funktionsloser Extremität mit trophischen Störungen.

Osteoarthrose

Die Osteoarthrose ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand eine multifaktoriell bedingte, degenerative Erkrankung von Gelenken, die zu einem fortschreitenden Umbau der Gelenkstrukturen führt und mit schmerzhaften Funktionseinschränkungen bis hin zum weitgehenden Funktionsverlust betroffener Gelenke verbunden ist.
Arthrose ist die weltweit häufigste Gelenkerkrankung, die insbesondere in fortgeschrittenem Stadium zu Schmerzen und Funktionseinbußen der Gelenke führt.
In der Studie GEDA 2014/2015-EHIS des Robert Koch-Instituts berichten 17,9 % der Erwachsenen ab 18 Jahren das Vorliegen einer Arthrose in den letzten 12 Monaten, wobei die Prävalenz bei Frauen mit 21,8 % höher liegt als bei Männern mit 13,9 %. Der Anteil von Personen mit Arthrose steigt mit zunehmendem Lebensalter deutlich an; bei den Personen ab 65 Jahren sind knapp die Hälfte der Frauen (48,1 %) und knapp ein Drittel der Männer (31,2 %) betroffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass in Anbetracht der Alterung der Bevölkerung die Arthroseprävalenz in Deutschland weiter steigen wird (Fuchs et al. 2017).
Die Arthrose des Schultergelenks tritt im Vergleich zu der von Hüft- und Kniegelenk wesentlich seltener auf.
Die Ursachen sind heterogen:
  • Genetische Komponenten (familiäre Häufung)
  • Alter
  • Geschlecht
  • Achsabweichung von der Norm (Valgus-Varus)
  • Metabolische Erkrankungen (z. B. Gicht, Adipositas)
  • Rheuma
  • Verletzung (auch repetitive kleinere Traumen können langfristig zum Gelenkverschleiß führen)
  • Infektion
Nicht selten führt ein Zusammenspiel mehrerer der genannten Faktoren zur Arthrose.
Das Ausmaß einer Gelenkschädigung wird nach radiologischen Kriterien klassifiziert, z. B. nach Kellgren/Lawrence oder nach der International Cartilage Research Society (ICRS). Konventionelle Röntgenaufnahmen können durch MRT und Gelenkspiegelung ergänzt werden, um die Schwere bzw. den Grad der Erkrankung sicher zu diagnostizieren.
Der Kellgren/Lawrence Score wurde in der Originalpublikation an Aufnahmen des Handskeletts, der Kniegelenkes, der HWS, LWS und Hüftgelenke evaluiert (Kandziora et al. 2017) und berücksichtigt folgende 4 Zeichen:
  • Nachweis von Osteophyten
  • Abnahme der Gelenkspaltweite (Knorpelhöhe)
  • Subchondrale Sklerose (Verdichtung und erhöhter Faseranteil direkt unterhalb des Knorpels)
  • Deformität der knöchernen Gelenkanteile
Damit ist eine stadiengerechte Einteilung möglich (Tab. 2):
Tab. 2
Stadiengerechte Einteilung der Arthrose
Arthrosegrad
Radiologischer Befund
0: keine Arthrose
Normalbefund
1: fragliche Arthrose
zweifelhafte Abnahme der Gelenkspaltweite, diskrete/fragliche Osteophyten („osteophytic lipping“)
2: minimale Arthrose
definitiver Osteophytennachweis, mögliche Verminderung der Gelenkspaltweite
3: moderate Arthrose
multiple Osteophyten, verminderte Gelenkspaltweite, geringe bis mäßige subchondrale Sklerose, mögliche Deformität der gelenkbildenden Knochenanteile
4: schwere Arthrose
große Osteophytenbildungen, fortgeschrittene Verminderung der Gelenkspaltweite, schwere subchondrale Sklerose, Deformität der gelenkbildenden Knochenanteil
In der Kausalitätsbetrachtung müssen Nebendiagnosen oder andere Risikofaktoren berücksichtigt werden und es muss eine Gewichtung der einzelnen Anknüpfungstatsachen stattfinden.
Bei Verdacht auf das Vorliegen einer berufsassoziierten Erkrankung ist ein F6000 als Meldung einer Verdachtsanzeige zu einer BK zu erstellen (BK 2112 Gonarthrose; BK 2116 Coxarthrose). Diese Verdachtsanzeige ist grundsätzlich von jedem Arzt (unabhängig von dessen Fachrichtung) der den Verdacht äußert oder hiervon Kenntnis erhält zu stellen.
Zu berücksichtigen ist auch die „Wie-BK“: Läsion der Rotatorenmanschette der Schulter durch eine langjährige und intensive Belastung nach § 9 Abs 2 SGB VII.
Da das Endstadium einer Rotorenmanschettenläsion eine Cuff-Arthropathie mit Arthrose der Schulter sein kann, sollte bei ihrem Vorliegen mindestens anamnestisch eine entsprechende berufliche Belastung ausgeschlossen werden (LINK: https://www.dguv.de/medien/formtexte/aerzte/f_6000-e/f6000-e.pdf).
Die Funktionseinbußen eines arthrotischen Gelenkes sind die Grundlage von MdE und GdB.
Ein Gelenkersatz wurde bisher in der Privaten Unfallversicherung (PUV) mit einem additiven Prothesenzuschlag bemessen. Als Basiswert fungierte der reale Funktionsverlust, additiv wurde der Gelenkersatz, aufgrund der Möglichkeit einer Minderbelastbarkeit, Lockerung und zu erwartender Prothesenwechsel in Abhängigkeit des Lebensalters sowie möglicher verminderter Belastbarkeit der Prothese mit wenigstens 1/20 berücksichtigt (Kellgren und Lawrence 1957; Langevin 2006) (Tab. 3).
Tab. 3
Prothesenzuschlag nach den Empfehlungen der Sektion Begutachtung der DGOU
Alter bei Implantation
Hüfte/Knie
Schulter/Ellenbogen
15–20 Jahre
11/20
12/20
31–35 Jahre
8/20
9/20
41–45 Jahre
6/20
7/20
46–50 Jahre
5/20
6/20
61–65 Jahre
2/20
3/20
ab 66 Jahre
1/20
2/20
Diese seit langem geltenden Zuschläge sind in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten, da bei den heutigen Prothesenstandzeiten, wo etwa 85 % der implantierten Hüftendoprothesen nach 20 Jahren noch einliegen diese Pauschalwerte nicht mehr zu rechtfertigen sind (White und Panjabi 1990). Es gilt als Konsens, dass mehr auf den Einzelfall abzustellen ist und nur das in Verbindung mit der Endoprothese in die Invaliditätsbemessung einfließen darf, was sich als Entwicklung aus der letzten maßgeblichen gutachtlichen Untersuchung für die Zukunft mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit vorherbestimmen lässt (Klemm und Wich 2021; Klemm et al. 2022).

Meniskus: Verletzungen und Verschleiß, BK 2102 und 2112

Generell gilt, dass es im Zusammenhang mit der Deskription von Veränderungen des Meniskus angeraten ist, auf die Nomenklatur und den Sprachgebrauch zu achten.
In der Befunderhebung sollten unzweideutige Begriffe verwendet werden.
Meniskusläsionen oder -schädigungen können traumatisch oder degenerativ sein.
Von Meniskusrissen oder -rupturen(-zerreissungen) sollte man nur sprechen, wenn die traumatische Genese wahrscheinlich oder gessichert ist.
Für das Vorliegen von Meniskusschäden die wesentlich durch traumatische äußere Einwirkungen verursacht wurden gilt grundsätzlich, dass diese mit Begleitverletzungen einhergehen müssen. Diese begleitenden strukturellen Verletzungen sind im MRT nachweisbar: Hämarthros, Bone bruises, ligamentäre (kapsuläre) Zerreissungen oder Teilrisse, knorpelige Abscherfragmente oder Frakturen.
Die Rissform gibt einen Hinweis auf seine Genese: vertikale Risse (Querriss) entstehen typischerweise durch Traumen, horizontale oder intrameniskale horizontale Läsionen sind chronisch degenerativer Art, zu denen man auch die sogenannten Korbhenkelrisse zählt.
Fehlen Begleitverletzungen ist davon auszugehen, dass der Meniskus bereits eine höhergradige Texturschädigung aufwies. Dann wäre für die GUV (Relevanztherorie) zu klären, ob das Unfallereignis mindestens die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache für den Schaden einnimmt.
Für die PUV gelten andere Kausalitätsgrundsätze (AUB, Adäquanztheorie).
Selbstverständlich kann eine frische akute Verletzung auf einen chronisch degenerativ geschädigten Meniskus treffen. Dann sind die Begleitverletzungen oft nicht sehr ausgeprägt oder fehlen bisweilen. Die Kausalitätsdiskussion ist in der PUV insofern meist unproblematisch als es hier ausreicht, dass ein zum Schaden führendes Ereignis im Allgemeinen als Ursache angesehen werden kann. Wenn bei der gutachtlichen Beurteilung im Rechtsgebiet der PUV dann keine typischen Begleitverletzungen nachweisbar sind, wird sich dieses eben nicht in einer Ablehnung des Ursachenzusammenhanges, sondern in einem entsprechend hohen Mitwirkungsfaktor niederschlagen.
Zudem spielen für die Entscheidungsfindung dann Akuizität, Art des Ereignisses, zeitlicher Zusammenhang mit erstmaliger ärztlicher Vorstellung, Vorerkrankungsverzeichnis und andere Risikofaktoren (Achsabweichungen, Übergewicht etc.) eine große Rolle.

Anatomie der Menisken

Menisken bestehen aus Faserknorpel. Man unterscheidet einen inneren (medialen) und äußeren (lateralen) Meniskus. Der Innenmeniskus ist durch spezielle Faserzüge mit dem inneren Knieseitenband verbunden, wodurch dieser zum einen weniger Beweglichkeit aufweist zum anderen auch deutlich verletzungsanfälliger ist, als der Außenmeniskus.
Die beiden Menisken sind in der Aufsicht sichelförmig, im Querschnitt keilförmig konfiguriert, an der Basis sind sie mit der Gelenkkapsel verwachsen und werden auch von dort aus über feine Blutgefäße ernährt und sind zentral im Bereich der Eminentia interkondylaris fixiert. Entsprechend besteht eine gut durchblutete äußere Zone (rot-rote Zone) und eine schlecht oder nicht durchblutete weiß-weiße Zone (innerer Rand). Dazwischen findet sich als Übergang die rot-weiße Zone.
Die Menisken sind am Gelenkschluss und damit auch an der Kraftübertragung beteiligt. Sie üben bei der axialen Kraftübertragung eine Schutzfunktion aus, in dem die Druckkräfte in Zugkräfte innerhalb der Meniskusstruktur durch Deformierung transformiert werden zudem werden durch diese die Auflage- und Kraftübertragungsflächen deutlich vergrößert. Die Menisken fungieren in Verbindung mit dem Bandapparat als Führungselemente für die Gelenkflächen und tragen zur Stabilisierung des Gelenks bei.

klinische Untersuchung

Für die klinische Untersuchung der Menisken existieren mehrere validierte Testverfahren:
Druckschmerz über Gelenkspalt
Ein unmittelbarer Schmerz bei Druck auf den inneren oder äußeren Gelenkspalt spricht für eine Schädigung des Innen- bzw. Außenmeniskus, meist kapselnah.
Steinmann I und II
Als Steinmann-I-Zeichen werden Schmerzen bezeichnet, die bei Drehung des Knies bei gebeugtem Unterschenkel entstehen. Während Schmerzen bei der Innenrotation auf einen äußeren Meniskusschaden hindeuten, weisen Schmerzen bei Außenrotation auf den genau umgekehrten Bereich hin, den Innenmeniskus. Für den Test liegt der Patient auf dem Rücken und winkelt das Knie an.
Beim Steinmann-II-Test wird das Knie gebeugt, dabei entsteht bei einer Meniskusverletzung ein Druckschmerz, der sich, gleich der Bewegung des Meniskus im Gelenk, mit zunehmender Beugung von vorne nach hinten bewegt.
Payr
Schnelle Auskunft über den Zustand des Meniskus liefert der Payr-Test, bei dem der Mediziner die Kniegelenke des Patienten im Schneidersitz nach unten drückt. Treten bei Druck Schmerzen im Innenbereich des Kniegelenks auf, erhärtet das den Verdacht auf eine Schädigung des Innenmeniskus.
Apley
Den Apley-Test hat Alan Graham Apley erstmals 1947 beschrieben (Hegelmaier et al. 1992). Er hilft bei der Differenzierung zwischen Kapsel-Band-Läsionen und Meniskusschäden.
Der Patient liegt in Bauchlage.
Durchführung und Testinterpretation: Der Untersucher flektiert das Kniegelenk des Patienten auf 90° und fixiert mit seinem Bein dessen Oberschenkel auf der Unterlage. Zuerst rotiert er den Unterschenkel des Patienten unter axialer Druckeinwirkung. Schmerzen bei axialem Druck und Außenrotation geben Hinweise auf eine Innenmeniskusläsion, Schmerzen bei Innenrotation auf eine Außenmeniskusläsion. Anschließend rotiert der Therapeut den Unterschenkel unter axialem Zug. Klagt der Patient dabei über Schmerzen, müssen die Kapsel-Band-Strukturen genauer überprüft werden.
McMurray
Das Kniegelenk wird zunächst in volle Beugung gebracht. Den lateralen Meniskus testet der Untersucher, indem er aus der vollständigen Kniegelenkflexion eine Außenrotation des Unterschenkels kombiniert mit einem Valgusstress im Kniegelenk durchführt und dann das Kniegelenk passiv streckt. Um den medialen Meniskus zu testen, kombiniert er während der Streckung eine Innenrotation im Kniegelenk mit einem Varusstress. Bei der Palpation des Gelenkspalts achtet er darauf, ob ein Klicken auftritt oder ob man im Gelenkspalt spürt, dass der Meniskus nach außen gedrängt wird und somit subluxiert.

Meniskopathie

Da die Menisken als wasserreicher Faserknorpel mit zunehmendem Alter ähnlich wie Bandscheiben und andere Bindegewebsarten an Elastizität verlieren, entstehen Risse, die typischerweise horizontal liegen und basisnah beginnen. Bereits kleinere Belastungen (z. B. Kniebeugen, Aussteigen aus dem Auto, Aufstehen aus dem Stuhl oder der Hocke) können dann das spröde gewordene Gewebe zum Reißen bringen.
Bei Personen im Alter zwischen 50 und 90 Jahren zeigen sich verschiedene Prävalenzen einer Meniskusläsion (LINK: https://www.ortho-zentrum.de/fileadmin/Krankheitsbilder/Koerperregionen/Kniegelenk/Meniskus/033-006l_S2k_Meniskuserkrankungen_2015-07.pdf):
  • Bei einer gleichzeitig vorliegenden Arthrose ist die Prävalenz 63 % (Kellgren-Lawrence Grad 2–4)
  • Bei Schmerzen aber fehlender Arthrose tritt eine Meniskusläsion mit einer Prävalenz von 32 % auf.
  • Bei fehlender Arthrose und fehlenden Schmerzen zeigt sich nur noch eine Prävalenz von 23 %
Die Koinzidenz von Meniskopathie und Arthrose ist zu beachten. Des Weiteren können Meniskusläsionen zur Arthrose führen und vice versa.
In diesem Zusammenhang sei auch auf die Überlegung des Vorliegens einer BK 2102 (primäre Meniskopathie) oder BK 2112 (Gonarthrose) hingewiesen.
Die Graduierung der Meniskusläsionen anhand des MRT nach Stoller et al. (1987) (Tab. 4):
Tab. 4
Graduierung der Meniskusläsionen anhand des MRT nach Stoller et al. (1987)
Grad
MRT
Histologie
0
Signalfreie dreieckige Struktur
Normaler Meniskus
I
Punktförmige Signalerhöhung ohne Verbindung zur Oberfläche
Muzinöse Degeneration
II
Lineare Signalerhöhung ohne Verbindung zur Oberfläche
Ausgedehnte muzinöse Degeneration
III
Lineare Signalerhöhung mit Verbindung zur Oberfläche
Riss
IV
Mehrere Signalanhebungen, Deformierung und Fragmentierung
Komplexe Verletzung
V
Diffuse Signalanhebung
Mazeration

Meniskuriss

Klassischerweise ist der frische Meniskusriss eine Sportverletzung. Der Meniskus wird durch Drehung des Oberschenkelknochens gegen den belasteten fixierten Unterschenkel eingeklemmt. Solche belasteten Drehmomente treten besonders häufig beim Fußballspielen oder Skifahren auf und betreffen das Standbein (Tal-Ski).
Es finden sich akut einsetzende starke Schmerzen. Risse im Bereich der durchbluteten Zone führen zu intraartikulären Blutergüssen (Hämarthrose). Die Fortsetzung des Spiels oder der Arbeit ist dabei meist nicht mehr möglich.
Blockierungen in Beugestellung können auftreten, wenn der Meniskus in das Kniegelenk einschlägt (z. B. bei Lappen- oder Korbhenkelrissen) und dadurch die vollständige Streckung verhindert.
Da der Innenmeniskus mit dem Innenband verwachsen ist, ist er sehr viel weniger beweglich und somit anfälliger für Verletzungen. Führt die Drehbewegung bei fixiertem belasteten Unterschenkel zur Subluxation der Femurkondylen und kommt ein Dehnungsmoment des inneren Kniegelenks zum Tragen (Valgusstress) kann dies dann zur Kombinationsverletzung, der sog. unhappy-triad führen: Innenbandruptur, Innenmeniskus- und vordere Kreuzbandruptur.
Frische Risse im Bereich der rot-roten und rot-weißen Zone lassen sich bei jüngeren Menschen in der Regel gut über einen minimalinvasiven Zugang und mit den modernen arthroskopischen Nahttechniken refixieren, sofern sie eine gewisse Größe und günstige Lokalisierung aufweisen. Im Rahmen von Komplexverletzungen sollte der Meniskus, sofern er erhaltend operiert werden kann, gleichzeitig mit der Stabilisierung (VKB-Ersatzplastik), refixiert werden. Eine alleinige Meniskusrefixation bei instabilem Kniegelenk ist nicht sinnvoll und eine deutlich verzögerte Refixierung hat schlechtere Einheilungsergebnisse.
Die früher (noch bis Ende der 1980er-Jahre) übliche offene totale oder subtotale Meniskusresektion führt zur mittelbaren Arthrose des betroffenen Kniegelenkkompartiments. Daher ist es geboten, sofern sinnvoll möglichst meniskuserhaltend zu operieren.
Die zur Klärung eines Kniebinnenschadens notwendigen Untersuchungen inklusive MRT und ggfls. Arthroskopie fallen nach einer Unfalleinwirkung in die Zuständigkeit (Kostenübernahme) der Unfallversicherungsträger.
Der therapeutische Anteil mit Resektion eines unfallfremd geschädigten Meniskusanteils hingegen nicht.
Allerdings: kommt es intraoperativ zu einer Komplikation, verbleibt die Zuständigkeit bei der GUV, sofern die Behandlungstendenz des Operateurs auf die Klärung von Unfallfolgen ausgerichtet war (SGB VII § 11) und bis dahin keine Ablehnung durch den Kostenträger erfolgte.

Wirbelsäule: Verletzungen, Bandscheibe BK 2108–2109

Die Wirbelsäule ist das sog. Achsorgan, mit ihrem wechselhaften Aufbau von elastischen (Diskus, Bandstrukturen) und starren (Wirbelkörper) Elementen sowie ihrer in der seitlichen (sagittalen) Ebene s-förmigen Krümmung hat sie auch eine federnde Wirkung.
Die Anatomie der Wirbelsäule ist extrem variabel. Selten ist ihr Aufbau optimal.
Formabweichungen wie Skoliose, Flach- oder Hohlrücken, Deck- oder Bodenplatten-Anomalien (M. Scheuermann), Block- und Übergangswirbel, etc. beeinflussen die Statik und langfristig auch das Ausmaß der Degeneration. Psyche und Physis beeinflussen die Körperhaltung.
Anatomisch-funktionell wird die Wirbelsäule in 3 Säulen eingeteilt:
  • Vordere (ventrale) Säule: Vorderes Längsband LB, vorderer Anteil des Wirbelkörpers und der Bandscheinbe BS
  • Mittlere (zentrale) Säule: Hinterer Anteil des Wirbelkörpers und hinteres LB
  • Hintere (dorsale) Säule: Wirbelbogen, Quer-Dornfortsätze, Facettengelenke und deren Bänder
Die Stabilität ist abhängig von dem Ausmaß der Schädigung der betroffenen Säulen. Sind alle 3 Säulen betroffen besteht eine hochgradige Instabilität für Flexion, Extension und Rotation sowie ein höhergradiges Risiko einer neurologischen Beeinträchtigung.
Die Frakturen der Wirbelkörper werden nach AO (Kandziora et al. 2017) oder Magerl und Harms klassifiziert.
Die obere HWS unterliegt der Klassifikation nach AO oder nach Anderson/Montesano (C0 Occipitalkondylen), nach Gehweiler (C1 Atlas), Anderson/D’Alonzo (C2 Dens axis) und Effendi/Levine (C2 Axis).
Neurologische Ausfälle können ihrer Schwere, ihrem Ausmaß und Lokalisation nach klassifiziert werden.
Frakturen und Verletzungen, die mit einer Fehlstellung (Sinterung, Seitknick, Inkongruenz oder Verhakung von Facettengelenken o. ä.) oder segmentalen Instabilität bzw. Versteifung ausheilen, können über die Statikveränderung der Wirbelsäule ihre Belastbarkeit sowie Beweglichkeit erheblich beeinträchtigen.
Für die MdE kann man über die sog. segmentbezogene Beurteilung einen ersten Anhaltspunkt erhalten (Weber und Wimmer 1991) (Tab. 5).
Tab. 5
Die klinische und radiologische Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen nach dem Segmentprinzip. (Weber und Wimmer 1991)
Segment
Grad
Prozent
C0/C1
50
7,8
C1/2
46
7,2
C2/3
37
5,8
C3/4
39
6,1
C4/5
46
7,2
C5/6
42
6,6
C6/7
39
6,1
C7/T1
32
5,0
T1/2
14
2,2
T2/T3
14
2,2
T4/T5
14
2,2
T5/T6
14
2,2
T6/T7
16
2,5
T7/T8
12
1,8
T8/T9
12
1,8
T9/T10
12
1,8
T10/T11
14
2,2
T11/T12
12
1,8
T12/L1
23
3,6
L1/L2
21
3,3
L2/L3
23
3,6
L3/L4
30
4,5
L4/L5
36
5,6
L5/S1
30
4,7
Gesamtbeweglichkeit
 
100
Bei stabil ausgeheilten Frakturen ohne Deformierung kommen die einfachen Prozentwerte zur Anwendung.
Sind zwei Bewegungssegmente betroffen, sind die entsprechenden Segmentwerte zu addieren. Bei klinischer Instabilität im Sinne von White und Panjabi (1990) mit radiologischer Instabilität Grad I nach Meyerding ist der Segmentwert mit 4, bei Instabilitäten Grad II mit 6 zu multiplizieren.
Diese Segmentwerte bieten allerdings nur eine Orientierung und sind nicht per Formel in MdE-Werte zu übersetzen. Die Funktion der Wirbelsäule als gesamtes Achsorgan bzw. unfallbedingte Ausfälle und Einschränkungen in ihrer Funktion sind zu bewerten.
Da die Wirbelsäule mit ihren vielen kleinen Gelenken auch degenerativen Einflüssen ausgesetzt ist, müssen solche Vorgänge (Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose) im Rahmen der Begutachtung von traumabedingten Verletzungen abgegrenzt werden.
Hierzu eignet sich insbesondere die zeitnahe CT- und MRT-Diagnostik.
Die horizontale traumatische Zerreißung der Bandscheibe ist eine Rarität. Die Zerreißung führt in jedem Fall zu Einblutungen und Ligament- und Begleitverletzungen (vorderes und hinteres Längsband), sodass die MRT-Diagnostik wegweisend ist.
Bandscheibenverletzungen können nur durch das Verhandensein von Begleitverletzungen (Bandzerreißungen, Wirbelkörperödemen, Frakturen u. a.) gesichert werden.
Der einfache Bandscheibenvorfall beruht klassischerweise auf einer schon lange vorbestehenden Degeneration des Anulus fibrosus und einem dann akuten Hindurchtreten des Nucleus pulposus durch diesen. Das hintere Längsband ist dabei unverletzt. Das sog. „Verheben“ kann, ebenso wie starkes Husten, Niesen, Pressen zu Bandscheibenvorfällen führen, sofern diese bereits schwer degenerativ verändert sind. Beim „Verhebetrauma“ ist zu klären, ob ein willkürliches und planmäßiges Heben oder eine plötzlich und unerwartet zusätzliche äußere Krafteinwirkung (unerwartetes Auffangen einer schweren Last u. a.) stattfand.
Letztere können kausal relevant sein, da muskuläre und reflektorische Schutzmechanismen nicht aktiv werden können.

HWS Distorsion

Im Gegensatz zur Stauchung der HWS (z. B. Kopfsprung in flaches Gewässer), die nicht selten mit höhergradigen Verletzungen einhergeht, führt die Distorsion aufgrund der anatomisch bedingten Segmentbeweglichkeiten eher selten zu schwerwiegenden Verletzungen.
Die HWS-Distorsion meint eine bi-phasiche Bewegung mit Flexion und Extension oder Extension und Flexion. Sie entsteht durch abrupte Abbremsung des in Bewegung befindlichen Körpers (Frontalkollision), wobei der Kopf zunächst trägheitsbedingt nach vorne oder umgekehrt bei abrupter Beschleunigung (Heckkollision) trägheitsbedingt erst nach hinten ausgelenkt wird.
Wird die Kollision antizipiert, kommt es zur reflektorischen Anspannung der Hals-Nackenmuskulatur, sodass die Distorsionsbewegungen erheblich abgemindert sein können. Das Vorhandensein von modernen, korrekt eingestellten Kopfstützen und ein ausgelöster Airbag sind weitere Parameter, die zur Sicherheit beitragen und die unkontrollierten Vor-/Rückneigungen des Kopfes bei Auffahrunfällen drastisch minimieren.
Kollisionen bei niedrigen Geschwindigkeiten führen in der Regel nicht zu strukturellen und morphologisch nachweisbaren Veränderungen. Eine Zerrung der Hals-/Nackenmuskulatur heilt in der Regel nach 2–4 Wochen aus und hinterlässt keine dauerhaften Einschränkungen oder Schäden.
Anders verhält es sich bei möglicherweise bestehenden Vorschäden oder einer Schadensanlage. Personen mit z. B. Spinalkanalstenose können bereits nach leichten Distorsionsereignissen neurologische Ausfälle bis hin zur Querschnittssymptomatik auf Höhe der Spinalkanalstenose aufweisen.
In diesen Fällen ist für die GUV zu klären, ob der Unfall als wesentliche Teilursache gewirkt hat.
Für die PUV kann eine Schadensanlage oder ein bestehender Vorschaden (= klinisch manifeste Funktionseinbuße), sofern sie den vom Unfall betroffenen Körperanteil betrifft, leistungsrelevant werden, wenn der geschätzte Mitwirkungsgrad (kausale Anteil) 25 % (zumindest in der Muster-AUB) überschreitet.

Berufskrankheiten der Wirbelsäule

Mit Wirkung vom 01.01.1993 hat der Verordnungsgeber bandscheibenbedingte Erkrankungen im Bereich der Hals- (BK 2109) und Lendenwirbelsäule (BK 2108 und 2110) als Berufskrankheiten in die Liste der BKV aufgenommen, verknüpft mit der Bedingung, dass mehrjährig – laut Auffassung des Verordnungsgebers mindestens über 10 Jahre hinweg – besondere wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten ausgeübt wurden, deren Eignung zur Verursachung einer „Diskose“ (Synonym: Chondrose) nach epidemiologischen Erkenntnissen zu unterstellen ist (Schröter 2002).
Literatur
Bidell MR, Lodise TP (2016) Fluoroquinolone-associated tendinopathy: does levofloxacin pose the greatest risk? Pharmacotherapy 36(6):679–693CrossRefPubMed
Braun KF, Hanschen M, Biberthaler P (2019) Definition, Risikofaktoren und Klassifikationsmodelle von Pseudarthrosen. OP-JOURNAL 35:217–224CrossRef
Fuchs J, Kuhnert R, Scheidt-Nave C (2017) 12 Monats-Prävalenz von Arthrose in Deutschland. J Health Monit 2(3):55–60
Gradl G, Steinborn M, Wizgall I, Mittlmeier T, Schürmann M (2003) Das akute CRPS I (Morbus Sudeck) nach distaler Radiusfraktur – Methoden der Frühdiagnostik. Zentralblatt für Chirurgie 128(12):1020–1026. https://​doi.​org/​10.​1055/​s-2003-44851
Grosser V (2010) Ruptur großer Sehnen. Trauma Berufskrankh 12:457–462CrossRef
Grote S et al (2012) Prävention von Infektionen bei offenen Frakturen heute. Orthopade 41:32–42CrossRefPubMed
Hegelmaier C, Schramm W, Lange P (1992) Distale Bicepssehnenruptur. Therapie und gutachterliche Bewertung. Unfallchirurg 95(1):9–16PubMed
Kandziora F, Scholz M, Schleicher P, Pingel A (2017) Die neue AO Spine Klassifikation: Alles einfacher? Trauma Berufskrankh 19:56–68CrossRef
Kellgren JH, Lawrence JS (1957) Radiological assessment of osteoarthrosis. Ann Rheum Dis 16:494–501CrossRefPubMedPubMedCentral
Klemm HT, Wich M (2021) Pauschalzuschläge zur Invalidität in der Privaten Unfallversicherung nicht zu rechtfertigen. MedSach 117(1):28–31
Klemm H-T, Ludolph E, Willauschus W, Wich M (2022) Neue Bemessungsempfehlungen zur Invalidität in der PUV Teil 1. English edition: New assessment recommendations for disability in private accident insurance part 1. Unfallchirurg 125(5):417–421. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00113-022-01161-4
Kölbl O, Barthel T, Krödel A, Seegenschmiedt M (2003) Prävention von heterotopen Ossifikationen nach Totalendoprothese des Hüftgelenks. Dtsch Arztebl 100(45):A-2944/B-2441/C-2291
Lahm A, Uhl M, Weber M (2004) Die Bedeutung der Kernspintomographie für die gutachterliche Beurteilung von Verletzungen des Stütz- und Bewegungsapparates. DGU Mitteilungen 26(Suppl):5–10
Langevin H (2006) Connective tissue: a body-wide signaling network? Med Hypotheses 66(6):1074–1077CrossRefPubMed
Ludolph E (2005) Achillessehnenschaden. In: Ludolph E, Lehmann R, Schürmann J (Hrsg). Ecomed, Landsberg, Kap. VI-1.22:1–15
Ludolph E, Roesgen M, Winter H (1985) Die Begutachtung der Rotatorenmanschettenruptur. Akt Traumatol 15:175–179
Ludolph E, Schürmann J, Gaidzik P (o.J.) Bemessungsempfehlungen für die Private Unfallversicherung. Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, ECOMED, Kap. IV
Müller KH, Rehn J (1984) Begutachtung nach Sehnenrupturen. Chirurg 55:118
Oestern H-J, von Blankenburg P (1989) Biomechanische Belastungsuntersuchungen der menschlichen Supraspinatus und Bizeps brachii-Sehne. Langenbecks Arch Chir Band 89 (Suppl):245–248
Pieper H-G, Radas C, Blank M (1997) Häufigkeit der Rotatorenmanschettenruptur im höheren Lebensalter. Arthroskopie 100:175–179
Schröter E (2002) Die Berufskrankheiten 2108–2110, Münsteraner Sachverständigengespräche. Steinkopf, Darmstadt, S 152–169
Stecco A, Giordani F, Fede C, Pirri C, De Caro R, Stecco C (2023) Muscle to the myofascial unit: current evidence and future perspectives. Int J Mol Sci 24(5):4527CrossRefPubMedPubMedCentral
Stoller DW et al (1987) Meniscal tears: pathologic correlation with MR imaging. Radiology 163:731–735CrossRefPubMed
Thomann KD, Schröter F, Grosser V (2009) Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung. Urban & Fischer, München
Vanden Bossche L, Vanderstraete G (2005) Heterotopic ossification: a review. J Rehabil Med 37:129–136CrossRef
Wang J, Wang L (2021) Novel therapeutic interventions towards improved management of septic arthritis. BMC Musculoskelet Disord 22:530CrossRefPubMedPubMedCentral
Weber M, Wimmer B (1991) Die klinische und radiologische Begutachtung von Wirbelsäulenverletzungen nach dem Segmentprinzip. Unfallchirurgie 17:200–207CrossRefPubMed
White AA, Panjabi MM (Hrsg) (1990) Clinical biomechanics of the spine. Lippincott/Williams & Wilkens, Philadelphia/Baltimore/New York, S 342–361