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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 11.06.2022

Haftpflichtversicherung

Verfasst von: Wolfgang Reuter
Die Beurteilungskriterien zur Kausalität, zum Schadensausmaß und zum Verschulden unterscheiden sich bei einem Haftpflichtschaden wesentlich von anderen Versicherungsarten, wie z. B. der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein medizinischer Gutachter muss diese Unterschiede kennen, um Fehler bei der Begutachtung zu vermeiden. Die Schadenbemessung erfolgt nach den Grundsätzen des BGB. Vorschäden sowie schicksalhafte Krankheitsverläufe müssen berücksichtigt werden, genauso wie ein mögliches Mitverschulden des Geschädigten, welches zu einer Verschlimmerung des eingetretenen Schadens beigetragen hat.

Einleitung

Unter Haftpflicht versteht man die gesetzliche Verpflichtung, einer anderen Person den widerrechtlich zugefügten Schaden zu ersetzen (§ 823 Bürgerliches Gesetzbuch BGB). Haftpflichtansprüche können sich z. B. auf unerlaubte Handlungen (§ 823 ff BGB), auf eine Gefährdungshaftung oder eine Vertragsverletzung stützen. Gegen diese Risiken kann man sich i. d. R. mit einer Haftpflichtversicherung schützen. Der Haftpflichtversicherer, zu der der Schädiger ein eigenes Vertragsverhältnis hat, stellt den Schädiger bei berechtigten Ansprüchen Dritte von der Haftung frei (i. d. R. durch direkte Leistung an den Geschädigten) bzw. wehrt unbegründete Ansprüche für diesen ab, notfalls auch zu eigenen Lasten in einem gerichtlichen Verfahren. Ärztliche Behandlungsfehler stellen eine besondere Form eines Haftpflichtschadens dar und sind nicht Gegenstand dieses Beitrages. Bei der Prüfung von Schadensersatzansprüchen aufgrund von Personenschäden sind die Versicherungsgesellschaften und die Gerichte auf die sachverständige Beratung durch ärztliche Gutachter angewiesen.

Kausalzusammenhang

Bei der Klärung von Haftpflichtansprüchen steht für den medizinischen Gutachter die Beantwortung der Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang (Kausalzusammenhang) und bei Arzthaftpflichtfällen auch nach dem Verschulden im Vordergrund.
Der ursächliche Zusammenhang wird im Haftpflichtrecht nicht nach den Kriterien der gesetzlichen Unfallversicherung (Theorie der „wesentlichen Bedingung“), sondern nach der zivilrechtlichen Adäquanztheorie beurteilt. Adäquat kausal ist eine Bedingung dann, wenn sie im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen Umständen geeignet ist, den eingetretenen Schaden herbeizuführen.
Besteht ein natürlicher oder logischer Kausalzusammenhang zwischen Schadensereignis und Verletzungsfolgen, ist in der Regel auch ein adäquater ursächlicher Zusammenhang anzunehmen.
Für Haftpflichtschäden kann bei einem adäquaten Kausalzusammenhang nicht geltend gemacht werden, dass ein Schadensereignis nur auslösend als sog. Gelegenheitsursache mitgewirkt hat, da es diesen Rechtsbegriff nur im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gibt.

Grundsätze der Schadensbemessung

Für die Beurteilung der Schadenshöhe gelten die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) . Nach der Grundsatznorm des § 249 Abs. 1 BGB hat der zum Schadensersatz Verpflichtete den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand (schädigendes Ereignis) nicht eingetreten wäre. Bei Personenschäden kann statt der „Herstellung“ Geldersatz verlangt werden.
  • Im Haftpflichtrecht steht der Grundsatz der Naturalrestitution im Vordergrund. Der Geschädigte hat in erster Linie Anspruch auf Ersatz der Kosten für die notwendige Heilbehandlung einschließlich medizinischer und ggf. beruflicher Rehabilitation. Ziel ist es, die körperliche Unversehrtheit bestmöglich wiederherzustellen.
  • In zweiter Linie hat der Geschädigte Anspruch wegen Vermögensnachteilen, die z. B. durch eine konkrete Minderung des Erwerbseinkommens (§ 842 BGB) oder durch eine schadensbedingte Vermehrung der Bedürfnisse (§ 843 BGB) entstanden sind (materieller Schaden).
  • Darüber hinaus kann der Geschädigte Schmerzensgeld verlangen, wenn eine Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens (immaterieller Schaden) vorliegt (§ 253 BGB)
Zur Feststellung des materiellen Schadens (z. B. Minderung des Erwerbseinkommens, Unterhaltsschaden, Haushaltsführungsschaden u. a.), aber auch zur Beurteilung des Ausmaßes des immateriellen Schadens für die Festsetzung des Schmerzensgeldes wird der medizinische Gutachter nach den Auswirkungen eines Körperschadens gefragt.
Cave
Der Gutachter muss die entscheidenden Unterschiede der begrifflichen Definition zwischen Sozialversicherungsrecht und Haftpflichtrecht kennen und beachten.
Die sozialversicherungsrechtlichen Begriffe der Erwerbsunfähigkeit, aber auch der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder Grad der Schädigungsfolge (GdS) haben im zivilrechtlichen Haftpflichtrecht keine direkte Relevanz Schadensersatz wird im Haftpflichtrecht nur für einen konkreten, individuell zu ermittelnden Schaden geleistet und nicht für eine abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie in der gesetzlichen Unfallversicherung.
Übt ein Geschädigter vorwiegend eine sitzende berufliche Tätigkeit aus, so kann auch bei einem schweren Körperschaden, z. B. nach einer Unterschenkelamputation, zwar eine hohe Minderung der Erwerbsfähigkeit (abstrakte Bewertung in der gesetzlichen Unfallversicherung) bestehen, es muss sich hieraus allein aber kein konkreter Erwerbsschaden ergeben, wenn der Geschädigte nach erfolgreicher Behandlung und Rehabilitation seinen bisherigen Beruf (ohne Einkommensverlust) weiter ausüben kann. Dagegen kann der Verlust eines Fingers mit einer relativ geringen abstrakten MdE für einen Konzertpianisten tatsächlich einen erheblichen konkreten Erwerbsschaden bedeuten.
Cave
Entscheidend für einen Haftpflichtschaden ist nicht die abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit, sondern die konkret bestehende Erwerbsminderung, d. h. der tatsächlich nachgewiesene Erwerbsschaden.

Tatsachenfeststellung und Beweisfragen

  • Terminologie
Der medizinische Gutachter sollte in einem Haftpflichtschadensfall Begriffe wie Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder MdE vermeiden, da sie im Haftpflichtrecht nicht relevant sind. Einerseits besteht die Gefahr der Ableitung falscher Beurteilungen bzw. Einschätzungen, anderseits könnte beim Auftraggeber der (falschen) Eindruck erweckt werden, der Sachverständige habe die falschen Rechtsgrundlagen angewandt. Wird der Gutachter jedoch ausdrücklich danach gefragt (z. B. nach der Höhe der MdE), so sollte er diese Frage natürlich beantworten. Gerichte und Versicherungsgesellschaften verwenden u. a. die abstrakte MdE-Einschätzung gelegentlich, um einen Anhaltswert für die Schwere einer Körperverletzung zu erhalten.
  • Positives und negatives Leistungsbild
Der ärztliche Gutachter muss bei einem Haftpflichtschaden die Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten darstellen, soweit diese für die Beurteilung relevant sind. Er sollte angeben, wie sich die verletzungsbedingten krankhaften Veränderungen bei dem Geschädigten auswirken. Sehr wichtig ist es, dass der Gutachter ein negatives und ein positives Leistungsbild aufzeigt. Er sollte dabei ausführen, welche Verrichtungen und Tätigkeiten infolge der Verletzungsfolgen zur Zeit der Begutachtung bzw. auf Dauer nicht mehr möglich sind, aber auch welche Leistungsfähigkeiten dem Geschädigten noch verblieben sind. Es ist sinnvoll, dass dem Gutachter schriftlich das Berufsbild und die häusliche Situation vorgelegt werden, damit er sich in seinem Untersuchungsbefund konkret darauf beziehen kann. Anhand dieser Darstellung wird die Versicherungsgesellschaft oder das Gericht den konkreten Schaden und damit den Schadensersatz zu beurteilen haben. Bei der Begutachtung in einem Haftpflichtfall steht der medizinische Gutachter vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur die schadensbedingte Leistungsbeeinträchtigung und die sich daraus ergebenden konkreten Auswirkungen aufzuzeigen. Er muss regelmäßig auch andere Faktoren, die das Schadensausmaß beeinflusst haben, wie z. B. schadensunabhängige Vorerkrankungen, eine vorbestehende Leistungsminderung oder auch ein Mitverschulden des Geschädigten, darstellen und bewerten. Im Ergebnis muss der Gutachter dem Auftraggeber aufzeigen, inwieweit sich diese ursächlich mitwirkenden Faktoren auf das aktuell vorhandene Schadensausmaß auswirken.
  • Bedeutung von Vorerkrankungen
War durch eine schwere Vorerkrankung die Erwerbsfähigkeit bereits vorher aufgehoben, so führt das schädigende Ereignis des Haftpflichtschadens zu keinem konkreten weiteren Erwerbsschaden (sog. „Sowieso-Schaden“). Lag zum Schadenszeitpunkt bereits eine schadensunabhängige, fortschreitende Erkrankung vor, die auch ohne das Schadensereignis zu einer vergleichbaren Leistungsbeeinträchtigung oder gar zu einer konkreten Minderung des Erwerbseinkommens (z. B. zu einer Berentung) geführt hätte, dann besteht nur für den haftpflichtschadensbedingten Anteil, evtl. auch nur zeitlich begrenzt, ein Entschädigungsanspruch, nicht aber für den schicksalsbedingten Anteil am Gesamtschaden (sog. überholende Kausalität). Schreitet dagegen ein vorbestehendes Krankheitsleiden aufgrund eines Haftpflichtschadens weiter fort, dann ist das maßgebliche Ereignis ursächlich adäquat, und der sich daraus ergebende Schadensanteil ist schadensersatzpflichtig.
  • Verschulden und Beweislast
Da in einem Haftpflichtschaden im Gegensatz zum Sozialversicherungsrecht Schadensersatzanspruch in der Regel nur bei einem Verschulden (mindestens Fahrlässigkeit) des Schädigers besteht, kann ein Mitverschulden des Geschädigten diese Ansprüche mindern, z. B. wenn der Schadensumfang durch sein nachträgliches Handeln oder Unterlassen vergrößert wurde. Als Beispiel sei der geschädigte Patient genannt, der sich durch das Haftpflichtereignis eine Wundinfektion zugezogen hat. Stellt sich dieser Geschädigte wider besseres Wissen erst verspätet bei seinem Arzt zur Behandlung vor, so muss er sich einen dadurch mitverursachten Verschlimmerungsanteil ggf. als Mitverschulden anrechnen lassen
Cave
Alle Tatsachen (Indizien), auf die sich Schadensersatzansprüche gründen, müssen nach den Regeln des Zivilrechts im Vollbeweis, d. h. mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ bewiesen werden.
Die Beweislast für alle Tatsachen bzw. Indizien, die einen Schadensersatzanspruch begründen (u. a. Körperschaden, Kausalität, Verschulden), trägt im Zivilrecht in der Regel der Geschädigte (Anspruchsteller) die Beweislast (sog. „haftungsbegründende Tatsachen“). Für alle Tatsachen bzw. Indizien die den Anspruch reduzieren oder gar entfallen lassen (z. B. Vorschaden, überholende Kausalität, Mitverschuldensanteil liegt die Beweislast beim der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung (sog. haftungsausschließende Tatsachen). In bestimmten Rechtgebieten gibt es vom Versicherungsträger bzw. vom Gericht zu beurteilen sind und nicht zum Gegenstand des medizinischen Gutachtens gehören. Besonderheiten gelten vor allem auch im Rahmen der Arzthaftpflicht. Im Falle eines nachgewiesenen groben Behandlungsfehlers (ein Fehlverhalten, dass „schlechterdings nicht unterlaufen darf“) bzw. bei Verletzung der Aufklärungspflichten kommt es zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes als potenziellen Schädigers.
  • Vermeidung juristischer Wertungen
In einem Haftpflichtfall ist es Aufgabe des medizinischen Gutachters, den Auftraggeber neutral und sachverständig zu beraten bzw. ein gerichtlich angefordertes Gutachten entsprechend zu erstellen. Die juristischen Wertungen des Haftpflichtschadens gehören nicht zu seinen Aufgaben; vielmehr muss er sie vermeiden, auch um sich nicht unnötig Vorwürfen nach Überschreitung seiner Kompetenzen bzw. ggf. sogar der Befangenheit auszusetzen.