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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 04.10.2022

Zivilrechtliche Fragestellungen bei der Begutachtung psychischer Störungen

Verfasst von: Jan Bulla und Dirk Scholtysik
Zunächst erfolgt eine kurze Einführung in die grundlegenden Rechtsgebiete und die Logik, unter der psychiatrische Expertise in verschiedene rechtliche Fragestellungen und Entscheidungen einbezogen wird (zweistufiger Aufbau der betreffenden Normen). Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der Darstellung der rechtlichen Grundlagen von Geschäfts- und Testierfähigkeit und dem Vorgehen des psychiatrischen Sachverständigen bei entsprechenden zivilrechtlichen Gutachtensaufträgen. Vertieft werden hierbei der Unterschied zwischen dauerhafter Geschäftsfähigkeit gem. § 104 Abs. 2 BGB und vorübergehender Störung der Geistestätigkeit gem. § 105 Abs. 2 BGB, die partielle Geschäftsunfähigkeit und das sog. „luziden Intervall“.

Einleitung

Die Begutachtung psychischer Störungen spielt nicht nur im Bereich der forensisch-psychiatrischen Fragestellungen eine wichtige Rolle, sondern auch bei zahlreichen Tatbeständen die dem Zivil- bzw. dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind. Der Beitrag widmet sich insbesondere speziellen Fragen, die im Zivilrecht eine bedeutende Rolle spielen. Die grundlegende Struktur juristischer Fragestellungen und Entscheidungsprozesse, bei denen die Sachkunde von forensisch-psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen gefragt wird, ist in Abb. 1 dargestellt.
Definition
Die Normen haben gewöhnlich einen zweistufigen Aufbau. Seitens der juristischen Entscheidungsträger wird geprüft, ob
  • eine juristisch definierte Störung vorliegt und
  • infolgedessen normativ volljährigen und gesunden Menschen zugeschriebene Fähigkeiten beeinträchtigt sind.
  • Der Sachverständige stellt auf Grundlage seiner Sachkunde fest, ob psychische Störungen vorliegen, die dem jeweiligen juristischen Störungsbegriff subsummiert werden können und damit
  • psychopathologische und neurokognitive Auffälligkeiten oder Defizite verbunden sind, die eine Minderung oder Aufhebung normativ festgelegter Fähigkeiten begründen.
Sachverständige äußern sich nicht direkt zu den rechtlich definierten Störungsbegriffen und Einschränkungen, sondern empfehlen deren Anwendung aus fachwissenschaftlicher Sicht. Begründet wird stets eine mögliche Einschränkung, nicht jedoch das Bestehen einer normativ definierten Fähigkeit wie Geschäfts- oder Schuldfähigkeit. Diese Entscheidung haben, zumeist auf Basis des medizinischen Gutachtens, die Rechtsanwender bzw. in letzter Instanz die Gerichte zu entscheiden.
Ein Kunstfehler mit möglicherweise gravierenden Folgen ist, von einer Diagnose direkt auf eine juristische Folge zuschließen, z. B. vom Vorliegen einer Demenz auf Geschäftsunfähigkeit.
In der deutschen Rechtssystematik wird grob zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht unterschieden, das die rechtliche Beziehungen zwischen den hoheitlich handelnden staatlichen Institutionen zu den Bürgern regelt. Wichtiger Teil des öffentlichen Rechts ist das Strafrecht, welches vor allem festlegt, wann menschlichen Handlungen als strafbar anzusehen sind und wie diese zu bestrafen sind. Das Zivilrecht, auch bürgerliches Recht oder Privatrecht genannt, betrifft alle rechtlichen Angelegenheiten und Normen von natürlichen oder juristischen Personen (z. B. Firmen) untereinander, die rechtlich nicht aber auch zwingend wirtschaftlich gleichberechtigt sind. Im Rahmen der medizinischen Begutachtung geht es im Zivilrecht regelmäßig um die Einschätzung der rechtlichen Handlungsfähigkeit, d. h. der sog. Geschäftsfähigkeit der für sich selbst oder als Vertreter ihrer Firma handelnden Personen.

Geschäftsfähigkeit und Testierfähigkeit

Voraussetzung für zivilrechtliche Rechtsgeschäfte ist die Geschäftsfähigkeit der handelnden Personen, d. h. die Fähigkeit, nach freiem Willen rechtlich bindende Willenserklärungen abzugeben, zum Beispiel Verträge zu schließen. Grundsätzlich unterscheidet das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 104 ff. BGB) zwischen der vollen und der beschränkten Geschäftsfähigkeit sowie der Geschäftsunfähigkeit. Volle Geschäftsfähigkeit wird allen Erwachsenen ab Vollendung des 18. Lebensjahres in vollem Umfang zugestanden. Einschränkungen der Privatautonomie und Vertragsfreiheit werden ausschließlich bei Schutzbedürftigen vorgenommen (Köhler 2020):
Übersicht
  • Minderjährige bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres sind geschäftsunfähig. Sie können keine Rechtsgeschäfte eingehen.
  • Minderjährige über 7 Jahre sind in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt. Sie können rechtliche Verpflichtungen mit Zustimmung oder nachträglicher Einwilligung des gesetzlichen Vertreters eingehen („Taschengeldparagraph“).
  • Da psychische Störungen und seelische wie geistige Behinderungen die autonome Willensbildung aufheben können, sind im Zivilrecht Gesetze vorgesehen, welche Betroffene mit beeinträchtigter Willensfähigkeit im privatrechtlichen Rechtsverkehr schützen sollen.
Psychische Krankheiten können die Geschäftsfähigkeit aufheben, wenn durch die Krankheit eine freie Willensbildung nicht mehr möglich ist (§ 104Abs. 2 BGB), d. h. der Patient aufgrund einer Krankheit die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung nicht erkennen oder nicht nach dieser Erkenntnis handeln kann oder – wie in der juristischen Literatur häufig formuliert – „wenn er sich nicht mehr von vernünftigen Motiven leiten lassen kann“ oder „seine Entscheidung nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen kann“ (BGH, NJW 1970, Seite 1981; BGH XII ZB 145/91 vom 26.02.1992 in Juris)

Partielle Geschäftsunfähigkeit

Die Geschäftsfähigkeit kann für alle oder nur für bestimmte Arten von Geschäften, d. h. für einen gegenständlich beschränkten Kreis von Angelegenheiten ausgeschlossen werden. Die Rechtsprechung bezeichnet dies als sogenannte partielle Geschäftsunfähigkeit (BGH, Urteil vom 18.05.2001, V ZR 126/00 in Juris). Das ist z. B. der Fall, wenn es der betreffenden Person infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit nicht möglich ist, in diesem Lebensbereich ihren Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Störung zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, während das für andere Lebensbereiche nicht zutrifft (BGH, Urt. v. 19. Juni 1970, IV ZR 83/69, NJW 1970, 1680, 1681 m. w. N.).; sie kann z. B. bestehen, wenn der Patient im Eifersuchtswahn eine Scheidung begehrt. Geschäftsfähigkeit ist jedoch grds. nicht abhängig vom Schwierigkeitsgrad eines Rechtsgeschäftes, da nach Ansicht der Rechtsprechung eine solche „relative Geschäftsunfähigkeit“ die Rechtssicherheit gefährden würde (Foerster et al. 2020).

Feststellen der Geschäftsunfähigkeit

Zweifel an der Geschäftsfähigkeit reichen nicht aus, um jemanden als geschäftsunfähig zu betrachten. Vielmehr muss die Geschäftsunfähigkeit zur Überzeugung des Gerichts bewiesen werden – und zwar von jenem, der sie behauptet. Sie kann aus psychiatrischer Sicht nur angenommen werden, wenn aufgrund einer sicher diagnostizierten Erkrankung das Ausmaß der Symptomatik nachweisbar so ausgeprägt war, dass die Rechtsgeschäfte wegen der Erkrankung und nicht aufgrund des persönlichen Willens zustande gekommen sind.
Willenserklärungen von Geschäftsunfähigen sind nichtig. Willenserklärungen, welche im Zustand von Bewusstseinstrübungen oder von vorübergehenden Störungen der Geistestätigkeit abgegeben wurden, sind nach § 105 Abs. 2 BGB ebenfalls nichtig. Von hoher Relevanz für den Begutachtenden ist, den zeitlichen Verlauf und das Ausmaß der Symptomatik möglichst genau herauszuarbeiten:
Die Geschäftsunfähigkeit ist definitionsgemäß „nicht nur vorübergehender Natur“ und impliziert in der Theorie, dass der Betroffene dauerhaft selbst in den Kauf einer Ware von geringem Wert nicht mehr rechtsgültig einwilligen kann. Aufgrund der erheblichen rechtlichen Auswirkungen sollte eine dauerhafte von einer vorübergehenden Aufhebung der freien Willensbildung sorgfältig unterschieden werden.
Die Frage der Geschäftsunfähigkeit oder der Nichtigkeit einer Willenserklärung muss häufig im Nachhinein geklärt werden. Sieht man von den seltenen Fällen ab, in denen ein fachkundiger Beobachter bei Abschluss des Rechtsgeschäfts anwesend war und die von ihm erhobenen Befunde dem Gericht mitteilen kann, bleibt die Annahme psychischer Beeinträchtigung zum relevanten Zeitpunkt wissenschaftlich gesehen eine Hypothese. Diese Hypothese erhält umso mehr Berechtigung, je klarer das Krankheitsbild erfassbar ist, je gesetzmäßiger der Krankheitsverlauf ist, je häufiger bei einem solchen Krankheitsbild psychopathologische Änderungen auftreten, welche zur Geschäftsunfähigkeit führen, und je näher am relevanten Zeitpunkt fachliche Beobachtungen das Vorliegen der entsprechenden psychopathologischen Symptomatik bestätigen können.

Testierunfähigkeit

Die Testierfähigkeit ist eine Sonderform der Geschäftsfähigkeit und setzt ebenso wie diese die freie, autonome Willensbestimmung des Erblassers voraus. Allerdings kann bei beschränkter Geschäftsfähigkeit von 16-Jährigen ein Testament errichtet werden, wenn diese von einem Notar beraten werden.
Testierfähigkeit erfordert, dass der Erblasser
1.
weiß, dass er ein Testament errichtet,
 
2.
den Inhalt der letztwilligen Verfügung kennt,
 
3.
bei der Erstellung nicht dem Einfluss Dritter erliegt,
 
4.
seinen letzten Willen formulieren kann,
 
5.
die Tragweite seiner Bestimmungen für die Betroffenen in wirtschaftlicher und persönlicher Hinsicht erfassen kann,
 
6.
die sittliche Berechtigung seiner Verfügung beurteilen kann.
 
Die gleichen Störungen, die nach § 105 BGB zur Nichtigkeit einer Willenserklärung führen, bedingen im Regelfall auch Testierunfähigkeit. Testierunfähigkeit kann weder partiell (nur einen Bereich betreffend) noch relativ (von der Schwierigkeit des Testaments abhängig) sein. Sie bezieht sich immer auf den Zeitpunkt der Testamentserstellung.

Feststellen der Testierunfähigkeit

An den Beweis der Testierunfähigkeit werden ebenso strenge Maßstäbe gelegt wie an den Beweis der Geschäftsunfähigkeit. Er ist jedoch häufig schwieriger festzustellen, weil Testierunfähigkeit oft erst nach dem Tod des Erblassers behauptet wird. Die Frage nach Testierunfähigkeit wird oftmals bei Testamentserrichtungen im hohen Alter gestellt. Bei diesen Patienten fehlen meist gute psychopathologische Befunderhebungen, sodass der Beleg von Testierunfähigkeit schwerfällt. Häufig werden angeführte Beweise von den Parteien, die den Rechtsstreit führen, einseitig bzw. subjektiv motiviert dargestellt. Die Äußerungen der Parteien zum psychischen Zustand des Erblassers sind deshalb immer mit großer Vorsicht zu betrachten. Auch Notare sind nicht in der Lage, psychopathologische Befunde zu erheben und ihre Bedeutung für die Testierfähigkeit zu erfassen. In komplizierteren und Fällen ist es ratsam, vor der Abfassung eines Testaments eine psychiatrische Untersuchung anzuregen.
Wie bei der retrospektiven Beurteilung der Geschäftsfähigkeit gilt: Je klarer definiert das Krankheitsbild, je gesetzmäßiger sein Verlauf und je prägnanter die psychopathologischen Beschreibungen sind, desto leichter fällt der Nachweis der Testierunfähigkeit. Insbesondere bei demenziellen Erkrankungen sollte eine genaue zeitliche Rekonstruktion des Rückgangs alltagsrelevanter und kognitiver Fähigkeiten bis zum Zeitpunkt der strittigen Willensäußerung erfolgen (Foerster, Passow und Habermeyer, S. 548 ff.)
Hilfreich können objektivere Quellen wie medizinische Dokumente und die Einvernahme von Zeugen aus medizinischen Berufen sein, die für die Behandlung und Betreuung der Betroffenen zuständig waren.

„Luzide Intervalle“

Probleme bereiten immer wieder sogenannte luzide Intervalle, d. h. die Behauptung, der Erblasser habe genau im Zeitpunkt der Testamentserrichtung einen lichten Moment gehabt, in dem er voll testierfähig war. Luzide Intervalle werden bei demenziellen Syndromen, die so ausgeprägt sind, dass sie dauerhafte Geschäftsunfähigkeit bedingen, in der klinischen Praxis nicht gesehen, wenngleich sie früher in der juristischen Literatur häufig als Grundlage für freie Willensbestimmung trotz Geschäftsunfähigkeit behauptet wurden (Foerster et al. 2020, S. 549 f.). Die neuere Rechtsprechung scheint sich dieser medizinisch-wissenschaftlichen Auffassung zunehmend anzuschließen und dies nicht nur für Demenzerkrankungen, sondern auch für andere chronisch-progredient verlaufende Störungen. Wenn eine monatelang bestehende Erkrankung aufgrund von chronisch-psychopathologischen Symptomen belegt sei, die eine Testierunfähigkeit zur Folge hätte, seien kurzfristige luzide Intervalle mit echter Symptomfreiheit und Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit nach den Erkenntnissen der modernen Medizin so gut wie ausgeschlossen. Im Falle einer Demenz sei zusätzlich zu beachten, dass während der Zeit ihres Bestehens viele Informationen gar nicht oder nicht realitätsgerecht aufgenommen, verarbeitet und abgespeichert werden. Selbst im Falle einer unterstellten Besserung bestünden somit erhebliche Lücken und Verzerrungen in der geistigen und psychischen Repräsentanz der relevanten Umweltinformationen und eigenen Biografie, welche erst geschlossen werden müssten. Dies ermögliche aber die Einflussnahme Dritter in unkontrollierbarer Weise (OLG Hamburg 2 W 63/17, Beschluss vom 20. Februar 2018, juris,; OLG Celle, Urteil vom 07. Januar 2021 – 6 U 22/20 –, juris). Die Behauptung eines luziden Intervalls, darf für den Sachverständigen aber kein einfacher Ausstieg aus seiner Verantwortlichkeit bedeuten. Vielmehr hat er sich damit auseinanderzusetzen und zu prüfen, ob sich im Einzelfall ggf. doch Anhaltspunkte für einen entsprechenden Nachweis ergeben, und welche Folgen dies für die Testierfähigkeit hat.
Literatur
Foerster K, Passow D, Habermeyer E (2020) Begutachtung in zivilrechtlichen Fragen. In: Venzlaff U, Foerster K, Dreßing H, Habermeyer E (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 7. Aufl. Elsevier, München/Jena, S 534–557
Köhler H (2020) BGB Allgemeiner Teil. Ein Studienbuch, 44. Aufl. C.H. Beck, MünchenCrossRef