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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 13.06.2017

Anästhesie bei Patienten mit arterieller Hypertonie

Verfasst von: Bernhard Zwißler und Kim Alexander Boost
Die arterielle Hypertonie ist die häufigste chronische Erkrankung in westlichen Industrienationen. Ob eine bestehende antihypertensive Medikation perioperativ abgesetzt oder am Tag der Operation weitergegeben werden sollte, wird derzeit kontrovers diskutiert. Prinzipiell eignen sich alle verfügbaren Anästhetika und Anästhesieverfahren auch für Patienten mit arterieller Hypertonie. Einzige Ausnahme ist hier das Ketamin wegen seiner sympathikotonen Wirkung.

Grundlagen

Die arterielle Hypertonie ist die häufigste chronische Erkrankung in westlichen Industrienationen. Die Prävalenz beträgt etwa 20–25 % der erwachsenen Bevölkerung und steigt mit dem Alter rasch an. Mehr als 50 % der Patienten über 65 Jahre weisen eine Hypertonie auf.
Diagnostisches Kriterium einer Hypertonie ist – unabhängig vom Alter – die mehrfache Messung eines systolischen Blutdruckwerts von über 140 mmHg und/oder eines diastolischen Werts von über 90 mmHg.
Die Ätiologie ist bei 95 % der Patienten unbekannt (primäre Hypertonie) und eine kausale Therapie daher im Gegensatz zur sekundären Hypertonie nicht möglich. Die Hypertonie führt unbehandelt zu Schäden an einer Vielzahl von Organen.
Anästhesierelevante Organschäden bei Hypertonie

Evaluation

Meist trifft der Anästhesist bei der Prämedikationsvisite auf Patienten mit bereits bekannter und medikamentös behandelter Hypertonie. Hier muss anamnestisch und klinisch nach deren Folgeschäden sowie nach Nebenwirkungen einer antihypertensiven Therapie gesucht und die Effektivität der Therapie evaluiert werden.
Unter Therapie sollte der Blutdruck zuverlässig unter 140 mmHg systolisch und 90 mmHg diastolisch liegen.
Ob eine bestehende antihypertensive Medikation (insbesondere von ACE-Hemmer und Angiotensin-II-Antagonisten) perioperativ abgesetzt oder aber am Tag der Operation weitergegeben werden sollte, wird derzeit kontrovers diskutiert (Kap. Anästhesie bei Patienten mit Erkrankungen von Herz und Kreislauf: Allgemeine Prinzipien; Kap. Patienteneigene Medikation). Die Therapie sollte in jedem Fall bei Vorliegen von Normovolämie postoperativ fortgeführt werden.
Die Indikation zur Anfertigung eines präoperativen EKG und Labors ergibt sich auch bei Patienten mit arterieller Hypertonie primär aus dem kardialen Risiko des Eingriffs und dem Vorliegen weiterer Organerkrankungen bzw. kardialer Risikofaktoren gemäß den Empfehlungen der DGAI 2017 [1] (Kap. Anästhesiologische Beurteilung des Patienten: Kardiovaskuläres System). Die Anfertigung eines präoperativen Thoraxröntgenbilds lediglich aufgrund einer stabilen arteriellen Hypertonie ist nicht indiziert.
Eine Hypokaliämie <3,5 mval/l findet sich trotz oraler Substitutionstherapie bei 20–40 % aller mit Thiaziden behandelten Patienten. Das Basislabor sollte wegen der hohen Inzidenz begleitender Nierenerkrankungen neben den Elektrolyten (zum Ausschluss unerwünschter Nebenwirkungen von Diuretika; Tab. 1) auch das Serumkreatinin enthalten.
Tab. 1
Anästhesierelevante Nebenwirkungen gebräuchlicher Antihypertensiva
Antihypertensiva
Nebenwirkung
Diuretika
 
• Thiazide
• Kaliumsparende Diuretika
• Schleifendiuretika
Kalium ↓, Magnesium ↓, Kalzium ↑, Glukose ↑, Alkalose
Kalium ↑, Natrium ↓, megaloblastäre Anämie
Kalium ↓, Magnesium ↓, Kalzium ↓, Dehydratation, metabolische Alkalose
Kalium ↑, Proteinurie
Angiotensin-II-Antagonisten
Kalium ↑, therapierefraktäre Hypotension
β-Blocker
Bradykardie, Herzinsuffizienz, Bronchospasmus, Maskierung einer Hypoglykämie
Ca2+-Antagonisten
Bradykardie, Tachykardie, AV-Block, Herzinsuffizienz, Synkope
Clonidin
Sedierung, Bradykardie, AV-Block, Orthostase, Beeinträchtigung der Glukosetoleranz
Prazosin
Sedierung, Tachykardie, Orthostase
Dihydralazin
Tachykardie, Fieber

Vorgehen bei unbehandelter Hypertonie

Einige Patienten mit arterieller Hypertonie werden erst im Rahmen der präoperativen Evaluation auffällig. Bei unbehandelter arterieller Hypertonie steigt die kardiale Morbidität und Letalität linear mit dem Anstieg des systolischen oder diastolischen Blutdrucks. Männer mit arterieller Hypertonie haben in jedem Lebensalter eine höhere Inzidenz von Myokardinfarkten als ein gesundes Kontrollkollektiv.
Cave
Ein neu diagnostizierte, schwere arterielle Hypertonie Grad 3 (d. h. systolischer Blutdruck ≥180 mmHg und/oder diastolischer Blutdruck ≥110 mmHg) sollte daher vor elektiven Eingriffen abgeklärt und therapiert werden [7].
Dies gilt insbesondere, wenn ein großer Eingriff bevorsteht und bereits Organschäden vorliegen.
Der Nutzen eines solchen konservativen Vorgehens gegenüber der raschen Einstellung des Blutdrucks vor Narkoseeinleitung und intraoperativ durch den Anästhesisten ist allerdings bislang nicht belegt [8].
In jedem Fall muss die Senkung eines chronisch erhöhten Blutdrucks den veränderten Autoregulationsgrenzen Rechnung tragen und darf daher nicht zu rasch erfolgen.
Bei asymptomatischen Patienten sollte der Blutdruck langsam gesenkt werden. Hier ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Operateur und Anästhesist erforderlich, um das Verschieben von Operationen auf ein Minimum zu begrenzen [2, 3].
Bei dringlichen Eingriffen kann eine arterielle Hypertonie präoperativ auch durch kurzwirksame, intravenöse Pharmaka kontrolliert werden (Tab. 2). Eine Senkung des Blutdrucks auf Werte um 140/90 mmHg gilt als sicher und scheint nicht vermehrt mit zerebralen Ischämien oder einer renalen Dysfunktion einherzugehen [3].
Tab. 2
Medikamentöse Optionen zur Therapie der perioperativen Hypertonie
 
Dosierung
Intravenöse Bolusgabea
Kontinuierliche Infusiona
Esmolol
10–100 mg
0,025–0,5 mg/kgKG/min
Metoprolol
1–5 mg
Urapidil
10–50 mg
ca. 9 mg/h
Diltiazem
0,25 mg/kgKG über 2 min
5–15 mg/h
Nitroglycerin
0,005–0,05 mg/min
Clonidinb
0,075–0,150 mg i.v.
Enalapril
0,625–1,25 mg über 5 min alle 6 h
aDosierungsangaben sind Anhaltszahlen, eine individuelle Titration der Dosis je nach gewünschtem klinischem Effekt ist unverzichtbar und kann eine Über- und Unterschreitung der angegebenen Dosierungen erforderlich machen
bCave: initialer Blutdruckanstieg möglich

Anästhesiologisches Management

Prinzipiell eignen sich alle verfügbaren Anästhetika und Anästhesieverfahren auch für Patienten mit arterieller Hypertonie. Einzige Ausnahme ist hier das Ketamin wegen seiner sympathikotonen Wirkung. Volatile Anästhetika haben einen vasodilatierenden Effekt und können einer intraoperativen Hypertonie entgegenwirken. Besteht trotz ausreichender Narkosetiefe und Analgesie eine Hypertonie fort, sind gut steuerbare Vasodilatanzien oder β-Blocker indiziert.
Die Blutdruckwerte vor Narkosebeginn dienen als grobe Richtwerte für die perioperative hämodynamische Steuerung. Abweichungen von mehr als 20 % nach oben oder unten sollten vermieden werden. Prolongierte, perioperative Blutdruckabfälle unter 80 mmHg (systolisch) oder unter 55 mmHg (Mitteldruck) sind mit einer erhöhten Rate an postoperativen myokardialen Schädigungen und Nierenfunktionsstörungen und einer Erhöhung der 30-Tage- und 1-Jahres-Letalität verbunden [46].
Dies ist in der Praxis häufig schwierig, da Patienten mit arterieller Hypertonie hämodynamisch labil sind. Einerseits besteht eine Hyperreagibilität der Gefäße mit der Gefahr hypertensiver Krisen bei sympathoadrenerger Stimulation. Andererseits wird die vielfach durch Antihypertensiva induzierte relative Hypovolämie in Narkose durch den Wegfall des Sympathikotonus demaskiert. Zudem sind Kompensationsmechanismen (z. B. Renin-Angiotensin-System) nur langsam wirksam und vielfach durch Antihypertensiva (z. B. ACE-Hemmer) blockiert (Kap. Anästhesie bei Patienten mit Erkrankungen von Herz und Kreislauf: Allgemeine Prinzipien). Folge ist ein z. T. erheblicher Abfall des Blutdrucks bei der Narkoseeinleitung.
Wegen des bei Hochdruckpatienten nach oben verschobenen Bereichs der Autoregulation kann die Organperfusion bereits beeinträchtigt werden, wenn der arterielle Blutdruck auf Werte abfällt, die bei normotensiven Patienten folgenlos bleiben.
Cave
Die erhöhte hämodynamische Labilität des Patienten mit arterieller Hypertonie erfordert eine engmaschige Überwachung des Blutdrucks und – bei Abweichungen nach oben oder unten – eine rasche Therapie.
Starke Blutdruckschwankungen treten typischerweise bei Narkoseeinleitung (Hypotension), Intubation (Hypertension) und Narkoseausleitung (Hypertension) auf. Bei Patienten mit schlecht eingestellter Hypertonie, manifesten Folgeschäden, größeren Eingriffen mit Volumenverschiebungen sowie u. U. bei Patienten unter Einnahme von ACE-Hemmern bzw. Angiotensin-II Antagonisten ist daher eine invasive Druckmessung sowie ein kontinuierliches ST-Monitoring von mindestens 2 Ableitungen zur Detektion von Myokardischämien indiziert.
Treten intraoperativ trotz ausreichender Narkosetiefe und Analgesie hohe Blutdruckwerte auf, ist eine antihypertensive Therapie erforderlich (Tab. 2).
Ein hypertensiver Notfall liegt vor, wenn der Blutdruck deutlich erhöht ist (meist systolisch >200 mmHg oder diastolisch >120 mmHg) und gleichzeitig akute Beschwerden auf der Basis eines Organschadens bestehen (z. B. Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem, hypertensive Enzephalopathie, zerebrale Blutung, instabile Angina pectoris, Myokardinfarkt, rupturiertes Aortenaneurysma, Eklampsie).
Ursache ist meist eine Exazerbation einer chronischen Hypertonie. Eine Therapie muss rasch eingeleitet werden. Der Blutdruck sollte langsam und unter kontinuierlicher Überwachung des arteriellen Drucks gesenkt werden. Die Drucksenkung soll dabei in den ersten Minuten nicht mehr als 25 % des Ausgangswerts betragen. Postoperativ ist auf eine engmaschige Blutdruckkontrolle ebenso zu achten wie auf eine konsequente Schmerztherapie.
Literatur
1.
DGAI, DGC, DGIM (2017) Preoperative evaluation of adult patients prior to elective, non-cardiac surgery: joint recommendations of German Society of Anesthesiology and Intensive Care Medicine, German Society of Surgery and German Society of Internal Medicine. Anaesthesist
2.
Vongpatanasin W (2014) Resistant hypertension: a review of diagnosis and management. JAMA 311(21):2216–2224CrossRefPubMed
3.
James PA, Oparil S, Carter BL, Cushman WC, Dennison-Himmelfarb C, Handler J, Lackland DT, LeFevre ML, MacKenzie TD, Ogedegbe O, Smith SC Jr, Svetkey LP, Taler SJ, Townsend RR, Wright JT Jr, Narva AS, Ortiz E (2014) 2014 evidence-based guideline for the management of high blood pressure in adults: report from the panel members appointed to the Eighth Joint National Committee (JNC 8). JAMA 311(5):507–520CrossRefPubMed
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6.
Walsh M, Devereaux PJ, Garg AX, Kurz A, Turan A, Rodseth RN, Cywinski J, Thabane L, Sessler DI (2013) Relationship between intraoperative mean arterial pressure and clinical outcomes after noncardiac surgery: toward an empirical definition of hypotension. Anesthesiology 119(3):507–515CrossRefPubMed
7.
Eagle KA, Berger PB, Calkins H et al. (2002) ACC/AHA guideline update for perioperative cardiovascular evaluation for noncardiac surgery. Circulation 105:1257–1267CrossRefPubMed
8.
Fleisher LA, Fleischmann KE, Auerbach AD, Barnason SA, Beckman JA, Bozkurt B, Davila-Roman VG, Gerhard-Herman MD, Holly TA, Kane GC, Marine JE, Nelson MT, Spencer CC, Thompson A, Ting HH, Uretsky BF, Wijeysundera DN. 2014 ACC/AHA guideline on perioperative cardiovascular evaluation and management of patients undergoing noncardiac surgery: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines. Circulation. 2014 Dec 9;130(24):e278–333