Skip to main content
Die Anästhesiologie
Info
Publiziert am: 10.05.2017

Anästhesie bei Patienten mit Multipler Sklerose

Verfasst von: Heidrun Lewald und Manfred Blobner
Die multiple Sklerose (MS; syn: Encephalomyelitis disseminata) ist eine chronisch-entzündliche demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Ätiologie der multiplen Sklerose ist noch unbekannt. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist eine – durch infektiöse oder umwelttoxische Faktoren getriggerte – Autoimmunkrankheit bei genetisch disponierten Personen am wahrscheinlichsten. Pathogenetisch kommt es zu herdförmigen Demyelinisierungen. Diese Veränderungen können überall im zentralen Nervensystem vorkommen und damit jede neurologische Veränderung hervorrufen. Sie treten jedoch besonders häufig um den Aquädukt, am Boden des vierten Ventrikels und im Rückenmark auf. Die sehr unterschiedliche Symptomatik entspricht diesen multiplen Lokalisationen im ZNS. Das klinische Bild rangiert von weitestgehend symptomfreien Patienten bis hin zu einer schnell progressiven, zum Tode führenden Krankheit. Die multiple Sklerose verläuft meist in Schüben. Die ersten Krankheitssymptome treten meist bei Erwachsenen zwischen dem 20.–40. Lebensjahr auf [1].

Grundlagen

Die multiple Sklerose (MS; syn: Encephalomyelitis disseminata) ist eine chronisch-entzündliche demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Ätiologie der multiplen Sklerose ist noch unbekannt. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist eine – durch infektiöse oder umwelttoxische Faktoren getriggerte – Autoimmunkrankheit bei genetisch disponierten Personen am wahrscheinlichsten. Pathogenetisch kommt es zu herdförmigen Demyelinisierungen. Diese Veränderungen können überall im zentralen Nervensystem vorkommen und damit jede neurologische Veränderung hervorrufen. Sie treten jedoch besonders häufig um den Aquädukt, am Boden des vierten Ventrikels und im Rückenmark auf. Die sehr unterschiedliche Symptomatik entspricht diesen multiplen Lokalisationen im ZNS. Das klinische Bild rangiert von weitestgehend symptomfreien Patienten bis hin zu einer schnell progressiven, zum Tode führenden Krankheit. Die multiple Sklerose verläuft meist in Schüben. Die ersten Krankheitssymptome treten meist bei Erwachsenen zwischen dem 20.–40. Lebensjahr auf [1].
Häufigste klinische Manifestationsformen der multiplen Sklerose
Die Prävalenz der Multiplen Sklerose weist weltweit ein deutliches Nord-Süd-Gefälle auf und ist mit ca. 150 Fällen auf 100.000 Einwohner in Deutschland relativ hoch. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer.
Die Diagnose basiert hauptsächlich auf klinischen Befunden, dem Nachweis demyelinisierter Areale in der Kernspintomographie und der Liquoranalyik.
Der akute Schub der multiplen Sklerose wird mit Glukokortikoiden (z. B. 1000 mg Methyprednisolon i.v. für 5 Tage) behandelt. Als Immunsuppressiva werden Azathiaprin, Cyclophophamid und Mitoxantron verwendet. Immunmodulierend wirken Interferon β1a und β1b, Glatiramer, Fingolimod und Natalizumab [1]. Einen großen Stellenwert hat die Physiotherapie bei der Behandlung der multiplen Sklerose. Neben der kausalen Therapie steht die Therapie der Begleitsymptome im Vordergrund. Anästhesiologisch von besonderer Bedeutung sind dabei die Schmerztherapie (z. B. Trigeminusneuralgie) sowie die Therapie von Spastiken mit intramuskulärer Injektion von Botulinumtoxin oder der Implanation von subkutanen Pumpen zur intrathekalen Applikation von Baclofen.
Von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) wird eine ausgewogene, fettarme, ballaststoff- und vitaminreiche Ernährung bei ausreichender Kalorienzufuhr unter Vermeidung von Übergewicht empfohlen.

Anästhesiologisches Vorgehen

Trotz fehlender Evidenz wurden alle Anästhesietechniken mit einer Exazerbation der Krankheitssymptome in Verbindung gebracht [2]. Der Patient muss darüber aufgeklärt werden, dass Anästhesie und Operation auch bei einem optimalen Verlauf das Krankheitsbild, wenn auch reversibel, verschlechtern können.
Einigkeit besteht darin, dass jegliche Form von Stress zu vermeiden ist, da dieser allein eine Verschlechterung der Krankheit verursachen kann.
Elektive Eingriffe sollten in einer stabilen Krankheitsphase oder nach Beginn der entsprechenden Therapie geplant werden. Mögliche Nebenwirkungen und Organbeteiligungen, v. a. der immunsuppressiven bzw. -modulierenden Therapie müssen bekannt sein. Präoperativ sollten neurologische Defizite dokumentiert werden, um später einen Vergleich mit postoperativen Befunden zu ermöglichen.
Vorbestehende Spastiken können die Lagerung des Patienten erschweren. Auf eine für den Patienten adaptierte Lagerung mit der Vermeidung von Lagerungsschäden muss sehr sorgfältig geachtet werden.
Generell sind bei allen Patienten mit multipler Sklerose zusätzlich folgende mögliche Veränderungen zu beachten [3]:
1.
Eingeschränkte respiratorische Funktion,
 
2.
Herz-Kreislauf-Dysregulationen,
 
3.
erhöhtes Aspirationsrisiko,
 
4.
Nebenniereninsuffzienz: Bei einer Dauertherapie mit Kortison muss dieses perioperativ substituiert werden.
 

Allgemeinanästhesie

Zur Prämedikation eignen sich Benzodiazepine, wie sie auch zur Behandlung der Spastik bei Patienten mit multipler Sklerose als Therapeutikum eingesetzt werden.
Es besteht keine Evidenz, dass ein bestimmtes Opioid, Injektionsanästhetikum oder inhalatives Anästhetikum einen spezifischen Vorteil hat [3]. Einzige Ausnahme ist Lachgas [4].
Cave
Lachgas hat potenziell eine Demyelinisierung als Nebenwirkung und sollte deshalb vermieden werden.
Die multiple Sklerose sowie einige der therapeutischen Medikamente führen zu einem veränderten Ansprechverhalten auf Muskelrelaxanzien. Die Demyelinisierung mit der daraus resultierenden pathologischen Impulsweiterleitung, ebenso wie eine Muskelspastik, führt zu einer Hochregulation von Azetylcholinrezeptoren mit einer Resistenz gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien sowie einer Hypersensitivität gegenüber Succinylcholin [5, 6]. Intramuskulär injiziertes Botulinumtoxin hat durch die präsysnaptische Blockade der neuromuskulären Übertragung ebenfalls eine Überexpression von Azetylcholinrezeptoren zur Folge [7]. Antikonvulsiva wie Carbamazepin oder Phenytoin bewirken durch verschiedene pharmakokinetische (erhöhte Clearance) und -dynamische (Blockade und Hochregulation von Azetylcholinrezeptoren) Faktoren ebenfalls eine Resistenz gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien [8].
Die titrierte Anwendung von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien unter neuromuskulärem Monitoring ist daher angezeigt.
Bei der Anwendung von Succinylcholin muss insbesondere bei spastischen Paresen die Möglichkeit einer erhöhten Freisetzung von Kalium berücksichtigt werden. Auf Succinylcholin und Cholinesterasehemmer sollte wegen der Gefahr myotoner Reaktionen verzichtet werden.

Regionalanästhesie

Lokalanästhetika haben ein neurotoxisches Potenzial und sind daher bei Patienten mit vorbestehenden neurologischen Erkrankungen relativ kontraindiziert. Dennoch profitieren Patienten mit multipler Sklerose – wie jeder andere Patient auch – in gewissen Fällen von regionalen oder rückenmarksnahen Blockaden.
Einige grundsätzliche Überlegungen sind hierbei bedeutsam: Generell steigt die Neurotoxizität eines Lokalanästhestikums mit höheren Konzentrationen. Demyelinisierte Neurone bei Patienten mit multipler Sklerose sind wahrscheinlich empfindlicher für die lokalanästhetischen, aber auch die neurotoxischen Effekte. Bei einigen Patienten mit multipler Sklerose, die eine Spinalanästhesie erhalten hatten, konnte postoperativ eine Verschlechterung der Symptomatik festgestellt werden [9]. Ebenso haben Spinalanästhesien klinisch bisher inapparente Multiple-Sklerose-Erkrankungen demaskiert [10].
Schwangere Frauen haben v. a. während des 3. Trimenons ein signifikant niedrigeres Risiko, einen akuten Schub zu erleiden. Direkt postpartal steigt das Risiko allerdings wieder stark an. Die Periduralanästhesie hat keinen Einfluss auf diesen Verlauf [11]. Ältere Studien zeigten aber bei Patientinnen mit multipler Sklerose, die eine epidurale Anästhesie zur Geburtshilfe erhalten hatten, häufigere neurologische Verschlechterungen, wenn Bupivacain in Konzentrationen >0,25 % verwendet wurde [12].
Es scheint daher ratsam, Lokalanästhetika in niedrigen Dosierungen anzuwenden. Dies gilt auch für periphere Regionalanästhesien, bei denen zum Teil schwerwiegende Plexusschäden nach perineuraler Injektion von 0,5 % Bupivacain beschrieben wurden [13]. Die Anlage einer regionalen oder rückenmarksnahen Blockade sollte bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen von einem in der Technik erfahrenen Anästhesisten durchgeführt werden [14].

Postoperative Behandlung

Für die perioperative Betreuung von Patienten mit multipler Sklerose ist es besonders wichtig, körperlichen und emotionalen Stress zu vermeiden [15].
Demyelinisierte Nervenfasern reagieren extrem empfindlich auf eine Erhöhung der Körpertemperatur. Eine Temperaturerhöhung von nur 0,5 °C kann die Nervenleitung einer demyelinisierten Faser blockieren und zu einer weiteren Schädigung führen.
Die Körpertemperatur muss deshalb kontinuierlich überwacht werden und selbst ein geringfügiger Anstieg muss sofort konsequent behandelt werden.
Große Blutdruckschwankungen können auch Ausdruck einer autonomen Dysfunktion sein [3]. Patienten mit respiratorischen Einschränkungen sind von postoperativen pulmonalen Komplikationen bedroht. Eine postoperative gute Muskelfunktion ist daher von großer Bedeutung.
Literatur
1.
Barten LJ, Allington DR, Procacci KA, Rivey MP (2010) New approaches in the management of multiple sclerosis. Drug Des Devel Ther 4:343–366PubMedPubMedCentral
2.
D’Hooghe MB, Nagels G, Bissay V, De Keyser J (2010) Modifiable factors influencing relapses and disability in multiple sclerosis. Mult Scler 16(7):773–785CrossRefPubMed
3.
Dorotta IR, Schubert A (2002) Multiple sclerosis and anesthetic implications. Curr Opin Anaesthesiol 15(3):365–370CrossRefPubMed
4.
Watt JW (1998) Anaesthesia for chronic spinal cord lesions and multiple sclerosis. Anaesthesia 53(8):825–826CrossRefPubMed
5.
Brett RS, Schmidt JH, Gage JS, Schartel SA, Poppers PJ (1987) Measurement of acetylcholine receptor concentration in skeletal muscle from a patient with multiple sclerosis and resistance to atracurium. Anesthesiology 66(6):837–839CrossRefPubMed
6.
Martyn JA, Richtsfeld M (2006) Succinylcholine-induced hyperkalemia in acquired pathologic states: etiologic factors and molecular mechanisms. Anesthesiology 104(1):158–169CrossRefPubMed
7.
Frick CG, Richtsfeld M, Sahani ND, Kaneki M, Blobner M, Martyn JA (2007) Long-term effects of botulinum toxin on neuromuscular function. Anesthesiology 106(6):1139–1146CrossRefPubMed
8.
Richard A, Girard F, Girard DC, Boudreault D, Chouinard P, Moumdjian R, Bouthilier A, Ruel M, Couture J, Varin F (2005) Cisatracurium-induced neuromuscular blockade is affected by chronic phenytoin or carbamazepine treatment in neurosurgical patients. Anesth Analg 100(2):538–544CrossRefPubMed
9.
Jones RM, Healy TE (1980) Anaesthesia and demyelinating disease. Anaesthesia 35(9):879–884CrossRefPubMed
10.
Perlas A, Chan VW (2005) Neuraxial anesthesia and multiple sclerosis. Can J Anaesth 52(5):454–458CrossRefPubMed
11.
Confavreux C, Hutchinson M, Hours MM, Cortinovis-Tourniaire P, Moreau T (1998) Rate of pregnancy-related relapse in multiple sclerosis. Pregnancy in multiple sclerosis group. N Engl J Med 339(5):285–291CrossRefPubMed
12.
Bader AM, Hunt CO, Datta S, Naulty JS, Ostheimer GW (1988) Anesthesia for the obstetric patient with multiple sclerosis. J Clin Anesth 1(1):21–24CrossRefPubMed
13.
Koff MD, Cohen JA, McIntyre JJ, Carr CF, Sites BD (2008) Severe brachial plexopathy after an ultrasound-guided single-injection nerve block for total shoulder arthroplasty in a patient with multiple sclerosis. Anesthesiology 108(2):325–328CrossRefPubMed
14.
McSwain JR, Doty JW, Wilson SH (2014) Regional anesthesia in patients with pre-existing neurologic disease. Curr Opin Anaesthesiol 27(5):538–543CrossRefPubMed
15.
Morris E, Soar J (1998) Anaesthesia for a patient with severe multiple sclerosis. Hosp Med 59(9):744PubMed