Neuroendokrine Stressachse unmittelbar postoperativ
Die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und der sympathoadrenalen Achse sowie die direkte Stimulierung der Nebennierenrinde durch den operativen Eingriff führen zu einer Freisetzung von
Glukokortikoiden und
Katecholaminen [
23,
24]. Die durch diese Mediatoren ausgelösten vielfältigen Reaktionen werden auch unter dem Begriff der neuroendokrinen Stressantwort zusammengefasst [
18,
23]. Operativer Stress ist einer der potentesten Aktivatoren der adrenokortikotrophes Hormon (ACTH
)- und Kortisolausschüttung
. Bereits wenige Minuten nach Operationsbeginn kann ein Anstieg beider Hormone nachgewiesen werden [
23]. ACTH selbst stimuliert die Glukokortikoidsekretion aus der Nebennierenrinde und induziert folglich die Kortisolanstiege im
Plasma. Eine hohe Kortisolplasmakonzentration hemmt üblicherweise über einen Feedbackmechanismus die weitere ACTH-Sekretion [
23].
Dieser Mechanismus scheint in der frühen
postoperativen Phase (24–48 h) ineffektiv zu sein: Unmittelbar postoperativ sind beide Hormone erhöht; am ersten postoperativen Tag fällt die ACTH-Konzentration auf präoperative Werte ab, während erhöhte Kortisolspiegel bis zum zweiten bzw. dritten postoperativen Tag nachgewiesen werden können [
23,
24].
Kortisol hat überwiegend immunsuppressive Effekte. Es konnten
bidirektionale Interaktionen sowie ein negativer Feedbackmechanismus zwischen dem neuroendokrinen System und dem Immunsystem nachgewiesen werden [
25]. Kortisol induziert sowohl den Anstieg des vorwiegend antiinflammatorischen Zytokins IL-10 als auch gleichzeitig die Inhibition der proinflammatorischen
Zytokine. Es kommt zu einer Abnahme der Lymphozytenzahlen bei Veränderung der einzelnen Lymphozytenpopulationen [
26]. Unter hohen Kortisolkonzentrationen zeigt sich ferner auch eine Verschiebung der lymphozytären Zytokinproduktion in Richtung eines T-Helferzellen(
H)-Typ-2-Profils [
5].
Ein postoperativ erhöhter Kortisolspiegel ist mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung postoperativer Infektionen assoziiert [
27]. Spies et al. [
28] fanden in einer kontrollierten Interventionsstudie bei chronisch-alkoholkranken Patienten nach Tumorresektion des oberen Aerodigestivtrakts, dass die perioperative Gabe von Ketokonazol (4 × 200 mg/Tag p.o.), Morphin (15 μg/kgKG/h) oder Alkohol (0,5 kgKG/Tag) die Kortisolspiegel im
Plasma als auch die postoperative Pneumonierate (von 39 % auf 5,7 %) signifikant reduziert. Eine signifikant erhöhte Kortisolkonzentration im Plasma am dritten postoperativen Tag war prädiktiv (
AUC: 0,74 [0,50–0,98]) für die Entwicklung einer postoperativen
Pneumonie.
Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems führt gleichzeitig zur Ausschüttung der
Katecholamine Noradrenalin und Adrenalin aus der Nebennierenrinde und Ausschüttung von Noradrenalin aus den präsynaptischen Nervenenden in die Zirkulation, die sich auf die Immunreaktivität unmittelbar postoperativ auswirken können [
26]. Es konnte sowohl die Existenz sympathischer Nervenfasern in Lymphknoten als auch adrenerger Rezeptoren auf murinen T-Zellen nachgewiesen werden [
26]. Bislang ist aber unklar, ob die Parameter Noradrenalin und Adrenalin eine prädiktive Aussagekraft hinsichtlich postoperativer Infektionen haben.
Perioperative Veränderungen der zytokinvermittelten Immunreaktivität
Bei der Initiierung der Immunreaktivität im Rahmen eines operativen Eingriffs spielen die
Makrophagen und
Monozyten eine Schlüsselrolle. Diese setzen auf lokaler Ebene nicht nur das Zytokin
Tumornekrosefaktor-α (TNF-α), den frühesten Mediator der proinflammatorischen Kaskade, sondern auch weitere pro- und antiinflammatorischen Mediatoren, die
Zytokine IL-1β, IL-8, IL-6 (pro- und antiinflammatorische Wirkung) und IL-10, frei [
33,
34]. Infolge der systemischen Aktivierung des Makrophagen-Monozyten-Systems führt dies zu einer systemischen Freisetzung der Zytokine mit klinischer Manifestation eines
SIRS [
19]. So konnten Miyaoka et al. [
19] nachweisen, dass die Entwicklung eines SIRS mit signifikant erhöhten IL-6-Plasmakonzentrationen am ersten postoperativen Tag nach einem elektiven chirurgischen Eingriff assoziiert ist. Am dritten postoperativen Tag waren die SIRS-Kriterien bei keinem Patienten mehr nachweisbar und es zeigte sich auch gleichzeitig eine signifikante Reduktion der IL-6 Konzentrationen im
Plasma. Eine unmittelbar postoperativ erhöhte IL-6-Konzentration im Plasma korrelierte mit der Entwicklung von Komplikationen (Infektionen,
Sepsis, Multiorganversagen; [
35]).
Ferner waren signifikant erhöhte IL-6 Konzentrationen im
Plasma bei Patienten am ersten postoperativen Tag nachweisbar, die sich einem operativen Eingriff der Pankreatikoduodenektomie unterzogen und im weiteren postoperativen Verlauf eine Wundinfektion entwickelten [
13]. Auch nach herzchirurgischen Eingriffen unter Verwendung der Herz-Lungen-Maschine korrelierten erhöhte IL-6- und IL-10-Konzentrationen im Plasma am ersten postoperativen Tag mit einem signifikant erhöhten postoperativen Infektionsrisiko [
27,
36,
37]. Ein Anstieg des Interleukins
IL-8 im Plasma 36 h nach einem abdominalchirurgischen Eingriff korrelierte mit der Entwicklung eines Multiorgandysfunktionssyndroms [
13,
38]. Auch 24 h postoperativ nach Leberresektionen waren signifikant erhöhte IL-6- und IL-10-Konzentrationen prädiktiv für die Entwicklung einer Infektion
[
12].
In der überwiegenden Mehrzahl der Studien konnte dagegen für die
Zytokine TNF-α und IL-1β keine Korrelation mit dem postoperativen klinischen Verlauf nachgewiesen werden. Dies ist im Wesentlichen durch die kurzen
Halbwertszeiten des TNF-α (12–16 min) und IL-1β (6 min) zu erklären. Der Nachweis dieser beiden Plasmazytokine wird dadurch deutlich unwahrscheinlicher als der Nachweis des Zytokins IL-6, das 4–48 h nach operativen Eingriffen die höchste Plasmakonzentration erreicht.
Die Bestimmung des IL-6/IL-10-Verhältnisses bildet möglicherweise die Veränderung der Immunreaktivität unmittelbar postoperativ eindeutiger ab als die Einzelbestimmung der pro- und antiinflammatorischen Parameter [
22,
36,
39,
40]. So ließ sich unmittelbar nach einem Thorax- und Abdominaltrauma ein erhöhtes IL-6/IL-10-Verhältnis nachweisen, das mit dem „Severity-of-Injury“-Score korrelierte (p = 0,0067; [
41]). Auch zum Zeitpunkt einer schweren
Sepsis zeigte sich ein erhöhtes IL-6/IL-10-Verhältnis [
38,
42]. Im Gegensatz dazu fanden Sander et al. [
36] eine signifikante erhöhte Infektionsrate, wenn bei den Patienten das IL-6/IL-10-Verhältnis am ersten postoperativen Tag supprimiert war.
In Abhängigkeit vom operativen Trauma, Begleiterkrankungen des Patienten (z. B. Tumorerkrankungen, chronische
Herzinsuffizienz, Immunsuppression etc.) erfolgt eine überschießende oder abgeschwächte pro- und antiinflammatorische Zytokinantwort mit konsekutiver Folge einer Imbalance der Immunreaktivität und erhöhtem Risiko für die Entwicklung postoperativer Infektion.
Einfluss des Operationsverfahrens
Während minimal-invasive operative Eingriffe die Immunreaktivität kaum oder nur wenig beeinflussen [
43], können große operative Eingriffe ein anhaltendes Ungleichgewicht der Immunreaktivität unmittelbar postoperativ zur Folge haben.
Die Invasivität des Operationsverfahrens, z. B. konventionell vs. minimal-invasiv, hat erheblichen Einfluss auf die perioperative Beeinträchtigung des Immunsystems.