Präoperative Visite
Zu den Aufgaben der präoperativen
anästhesiologischen Visite (Kap. „Anästhesiologische Visite“) gehört auch die medikamentöse Vorbereitung des Patienten, die sog. Prämedikation.
Aufgaben der medikamentösen Prämedikation
Situationsspezifische weitergehende Aufgaben
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Analgesie
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Antiallergische Wirkung
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Antiemetische Wirkung
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Risikominimierung, evtl. durch zusätzliche Medikation, z. B. H2-Blocker bzw. Protonenpumpenhemmer als
Aspirationsprophylaxe
Durch das
persönliche Gespräch kann der Anästhesist die Angst des Patienten vor Operation und Narkose weiter vermindern, nach Ansicht mancher Autoren sogar effektiver als die Medikamente selbst (Kopp und Shafer
2000). Eine medikamentöse Prämedikation mit sedierenden Substanzen führt häufig nicht zu einer höheren perioperativen Patientenzufriedenheit als die Einnahme eines Placebos. Nachteilig dagegen sind ein verzögertes postoperatives Erwachen und eine verzögerte kognitive Erholung (Jun et al.
2017). Aus diesem Grund sollten heute medikamentöse Prämedikationen mit sedierenden Substanzen nur noch in ausgewählten Patientenfällen routinemäßig durchgeführt werden:
Bei geriatrischen und schwerkranken Patienten sowie bei bestimmten Vorerkrankungen oder gleichzeitiger Dauermedikation mit anderen Sedativa oder Analgetika sollte auf eine medikamentöse Prämedikation ganz verzichtet werden.
Welches der oben aufgeführten Prämedikationsziele beim Patienten im Vordergrund steht, wird im Rahmen der präoperativen
anästhesiologischen Visite festgelegt. Hiernach richtet sich die Auswahl und evtl. die Kombination der Prämedikationssubstanzen.
Ohne vorherige Visite darf keine Prämedikation verordnet werden.
Auswahlkriterien der Substanzen
In der Vergangenheit wurden nahezu alle Medikamente mit sedierenden Eigenschaften auch zur Prämedikation eingesetzt, u. a.
Barbiturate,
Benzodiazepine und
Neuroleptika, aber auch Histamin-1-(H
1-)Rezeptorantagonisten,
Opioide oder α
2-Agonisten.
Im klinischen Alltag sollte man sich aber – v. a. aus Sicherheitsgründen – auf einige wenige Substanzen beschränken, um die Prämedikationsverordnung für alle anderen Beteiligten (Stationsarzt, Krankenpflegepersonal) möglichst plausibel und nachvollziehbar zu gestalten.
Untersuchungen und die klinische Erfahrung lassen vermuten, dass der Nutzen der medikamentösen Prämedikation überschätzt wird. So konnte gezeigt werden, dass Lorazepam 2,5 mg p. o. bei unter 70-jährigen stationären Patienten nicht die Patientenzufriedenheit und kaum das individuelle Angstbefinden verbessert, dafür aber die Extubationszeiten verlängert, die kognitive Erholung verzögert und in einem deutlich höheren Maße zu perioperativer
Amnesie führt (Maurice-Szamburski et al.
2015). Zudem ist von ambulanten Patienten bekannt, dass diese meist sehr gut ohne eine Prämedikation auskommen. Daher ist es heute sicherlich akzeptabel, wenn auch bei stationären Patienten die medikamentöse Prämedikation nur sehr zurückhaltend und niedrig dosiert verordnet oder im Zweifelsfall sogar ganz auf sie verzichtet wird. Die sog. ERAS-Konzepte (Enhanced Recovery after Surgery) empfehlen ebenfalls keine routinemäßige Prämedikation mehr.
Nach ihrer
Eliminationshalbwertszeit werden die
Benzodiazepine in kurz, mittellang oder lang wirkende eingeteilt (Tab.
1; Kap. „Benzodiazepine in der Anästhesiologie“).
Tab. 1
Benzodiazepine zur Prämedikation: Einteilung anhand der Eliminationshalbwertszeiten (HWZ in h) der Muttersubstanz bzw. des Hauptmetaboliten. Angegeben ist die klinisch übliche orale Einzeldosis beim sonst gesunden Erwachsenen. (Nach Broscheit und Kranke
2008)
Kurz |
Midazolam (z. B. Dormicum) | 1–3 | 3,75–7,5 |
Triazolam (z. B. Halcion) | 2–3 | 0,125–0,25 |
Mittellang |
Oxazepam (z. B. Adumbran)a | 5–15 | 5–10 |
Lorazepam (z. B. Tavor)a | 14–20 | 0,5–2 (−4) |
Lormetazepam (z. B. Noctamid)a | 10 | 0,5–2 |
Temazepam (z. B. Remestan) | 8–10 | 10–20 |
Bromazepam (z. B. Normoc) | 12–24 | 3–6 |
Lang |
Diazepam (z. B. Valium) | 20–40 | 5–10 |
Dikaliumclorazepat (z. B. Tranxilium) | 60–70b | 10–40 |
Nitrazepam (z. B. Mogadan) | 28–31 | 5–10 |
Flunitrazepam (z. B. Rohypnol)c | 15–25 | 0,5–1 |
Für welches Benzodiazepin man sich letztlich entscheidet, hängt auch von den Begleitumständen ab: Bei ambulanten Eingriffen wird in der Regel keine Prämedikation verabreicht, im Einzelfall, wie oben beschrieben, werden möglichst geringe Mengen einer kurzwirksamen Substanz wie
Midazolam verwendet. Ist hingegen der Operationszeitpunkt am nächsten Tag schwer vorhersehbar, kann bei stationären Patienten die morgendliche Gabe eines mittellang wirkenden Benzodiazepins, z. B.
Oxazepam, sinnvoll sein.
Eine generelle Prämedikation mit
Opioiden ist nicht mehr zeitgemäß. Bei präoperativen Schmerzen erfolgt stattdessen eine adäquate
Schmerztherapie.
α2-Adrenozeptoragonisten wirken sedierend und analgetisch, können den Narkosemittelverbrauch senken sowie die hämodynamische und endokrine Stressantwort dämpfen (Kap. „α2-Agonisten in der Anästhesiologie“).
Nach oraler Clonidinprämedikation kann nach
60–90 min mit maximalen Plasmaspiegeln gerechnet werden, die
Eliminationshalbwertszeit beträgt
6–23 h. Eine Untersuchung an nicht kardiochirurgischen Patienten konnte allerdings zeigen, dass die perioperative Clonidingabe weder die postoperative Schmerzintensität noch den Opioidverbrauch reduzieren kann (Turan et al.
2016).
Einige Anästhesisten verordnen 150–300 μg Clonidin p.o. bei bestimmten Patientengruppen, z. B. herz- oder gefäßchirurgischen Patienten, um so die hämodynamische und endokrine Stressantwort zu dämpfen und damit (hoffentlich auch) das perioperative Myokardinfarktrisiko zu vermindern. Eine Untersuchung mit 200 μg Clonidin p.o. bei nicht kardiochirurgischen Patienten mit Atherosklerose(risiko) konnte allerdings zeigen, dass durch Clonidin zwar nicht die Rate perioperativer
Myokardinfarkte vermindert wird, dafür aber relevante Blutdruckabfälle und (nichttödliche) Herzstillstände häufiger auftreten (Devereaux et al.
2014).
Dexmedetomidin ist bislang nur intravenös und intranasal verfügbar, als Prämedikation jedoch nur im Off-Label-Einsatz anwendbar. Bei Kindern führt die Prämedikation mit intranasalem Dexmedetomidin – im Vergleich zu anderen Sedativa – möglicherweise zu einer besseren Sedierung bei Trennung von den Eltern, besserer Analgesie und weniger PONV (Jun et al.
2017). Zur Prämedikation von Erwachsenen mit Dexmedetomidin gibt es bislang keine Daten.
Der routinemäßige Einsatz von α2-Agonisten zur Routineprämedikation kann bis heute nicht empfohlen werden. Hauptnachteil der α2-Agonisten sind ihre Nebenwirkungen Hypotension und (schwerwiegende) Bradykardie.
Neuroleptika besitzen jedoch eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen, u. a. wurde von Dysphorie und Angstzuständen berichtet. Frühdyskinesien können auftreten, und die Krampfschwelle wird gesenkt. Darüber hinaus können insbesondere Droperidol und Haloperidol (z. B. Haldol) die QT-Zeit verlängern und das Auftreten von „Torsades de pointes“ begünstigen. Daher sollten Neuroleptika heute im Routinefall nicht mehr zur Prämedikation verwendet werden.
Indikationen für Atropin und Glycopyrronium
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Prophylaxe oder Therapie einer gesteigerten Salivation, z. B. vor
fiberoptischer Intubation oder bei Anwendung von
Ketamin: Glycopyrronium hemmt die Sekretion stärker als Atropin.
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Kombination mit Cholinesteraseinhibitoren (z. B. Neostigmin) bei der Antagonisierung von
Muskelrelaxanzien
Glycopyrronium (z. B. Robinul) besitzt gegenüber Atropin den Vorteil, dass es die Blut-Hirn-Schranke nicht passiert und daher zentralnervöse Nebenwirkungen nicht zu erwarten sind. Es ist allerdings teurer als Atropin und konnte sich bis heute nie richtig durchsetzen. Scopolamin wirkt stärker sedierend als Atropin und spielt als Anticholinergikum keine Rolle.
Risikofaktoren für postoperative Übelkeit und Erbrechen
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Weibliches Geschlecht
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Positive Anamnese von Übelkeit und Erbrechen (Reisekrankheit oder nach früheren Operationen)
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Nichtraucherstatus
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Junges Alter (< 50 Jahre)
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Dauer der Anästhesie
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Spezielle Eingriffe wie Cholezystektomie, Laparoskopie, gynäkologische Operationen
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Während der Wert einer antiemetischen Prophylaxe vor Jahren noch umstritten war, setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass Patienten mit moderatem und hohem PONV-Risiko auf jeden Fall eine Prophylaxe mit Antiemetika erhalten sollten. Zur Prophylaxe und Therapie von Übelkeit und Erbrechen stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, u. a. Dexamethason, 5-HT3-Rezeptorantagonisten (sog. Setrone oder Dimenhydrinat). Droperidol (0,625–1,25 mg i.v.) ist ähnlich gut antiemetisch wirksam wie die 5-HT3-Antagonisten, kann aber die QT-Zeit verlängern und spielt eine untergeordnete Rolle.
Antiemetika können gemeinsam mit der medikamentösen Prämedikation p.o. oder im Verlauf der Anästhesie i.v. gegeben werden (Tab.
2). Heute üblich ist die i.v.-Gabe:
Tab. 2
Antiemetika zur oralen Prämedikation oder intraoperativen i.v.-Gabe
Ondansetron (z. B. Zofran) | 4-mg-Schmelztablette | 4 mg i.v. |
Granisetron (z. B. Kevatril) | 2-mg-Tablette | 1 mg i.v. |
Dimenhydrinat (z. B. Vomex A) | 150-mg-Retardkapsel | 62 mg i.v. |
Metoclopramid (z. B. Paspertin)a | 1 Filmtablette à 10 mg | 10 mg i.v. |
Dexamethason (z. B. Fortecortin) | 4-mg-Tablette | 4 mg i.v. |
Droperidol (z. B. Xomolix) | – | 0,625–1,25 mg i.v. |
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Dexamethason sollte nach der Anästhesieeinleitung frühzeitig gegeben werden. Die frühzeitige Injektion ist sinnvoll, um zum OP-Ende eine ausreichende Wirkung zu erreichen. Die i.v.-Gabe sollte aber erst nach der Anästhesieeinleitung erfolgen, weil anderenfalls Patienten über Brennschmerzen im Geschlechtsbereich berichteten.
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Ondansetron sollte am besten erst kurz vor OP-Ende injiziert werden.
Applikation und Dosierung, Überwachung des prämedizierten Patienten
Die Prämedikation erfolgt heute in der Regel oral, d. h. die Patienten können die verordneten Medikamente mit etwas klarer Flüssigkeit einnehmen. Danach sollte Bettruhe eingehalten werden.
Um eine Prämedikationswirkung sicherzustellen, müssen die Medikamente am Operationstag rechtzeitig eingenommen werden: Midazolam ca. 20–30 min, andere Substanzen ca. 60 min vor Beginn der Narkoseeinleitung.
Es gibt nur wenige
Kontraindikationen für eine orale Prämedikation, u. a. Notfallsituationen,
Ileus bzw. Stenosen des Magen-Darm-Trakts. Dagegen ist die früher übliche intramuskuläre Prämedikation heute nicht mehr zeitgemäß und sollte dem Ausnahmefall vorbehalten bleiben. Ist eine orale Prämedikation nicht möglich (Notfall, Ileus) oder nicht sinnvoll (kurze, ambulante Operation), so kann man entweder darauf verzichten oder z. B. im Anästhesieeinleitungsraum 1–2 mg Midazolam i.v. geben.
Nach i.v.-Prämedikation müssen die Patienten kontinuierlich überwacht werden. Besondere Vorsicht gilt bei Kombination mit
Opioiden.
Die für Erwachsene üblichen Benzodiazepindosierungen sind in Tab.
1 angegeben. Ältere oder geschwächte Patienten reagieren sensibler, entsprechend muss die Dosierung reduziert werden, evtl. wird ganz auf die Prämedikation verzichtet. Sehr vereinfachend gilt: Die
Halbwertszeit von Diazepam beträgt beim 20-Jährigen 20 h und beim 80-Jährigen 80 h.