Definition und Einleitung
Diplopie oder Doppeltsehen ist ein Symptom, das die visuelle Wahrnehmung von zwei Bildern eines einzelnen Objektes beschreibt, welches sich in irgendeiner Sehentfernung des Betrachters befindet.
Unter physiologischen Sehbedingungen blickt ein Individuum Detailpunkte eines Objektes der Umwelt in irgendeiner gegebenen Blickentfernung simultan mit beiden Augen an. Die vertikalen Meridiane der beiden Augen sind dabei parallel. Die linke/ rechte Fovea centralis liegt genau auf einer Linie mit dem betrachteten Detailpunkt oder dem Objekt, der sogenannten Sehachse. Diese Situation wird Augenstellung bzw. kurz „Stellung“ genannt. Die Stellung kann in Ferne und Nähe und den 9 diagnostischen Blickrichtungen untersucht werden.
Das Bild eines betrachteten Objektes muss durch den dioptrischen Apparat des Auges exakt auf der Fovea centralis abgebildet werden. Für die bestmögliche zentrale Verarbeitung und beidäugige Wahrnehmung des Objektes ist die genaue Korrespondenz der rechten mit der linken Fovea centralis unabdingbar, die Raumwerte der Netzhäute sollten identisch sein. Die visuelle Verarbeitung findet in den primären und sekundären Sehzentren des Cortex cerebri statt.
Die Augäpfel werden durch das Zusammenspiel der jeweils vier geraden und zwei schrägen Augenmuskeln in die für die gleichzeitige Wahrnehmung notwendige exakt ausgerichtete (Augen-) Stellung bewegt. Die Bewegungsimpulse werden durch drei okulomotorische Hirnnerven, den N. oculomotorius (N3), den N. trochlearis (N4) und den N. abducens (N6), zu den Augenmuskeln geleitet. Die Kerne dieser okulomotorischen Nerven liegen im Mittelhirn (N3 und N4) und im Pons (N6), und sind durch den medialen longitudinalen Faszikulus verbunden. Die übergeordneten supranukleären Blickzentren wiederum sind für die horizontalen Augenbewegungen im Pons, und für die vertikalen Augenbewegungen im Mittelhirn lokalisiert. Im Pons steuert die parapontine retikuläre Formation (PPRF) die horizontalen Augenbewegungen, im Mittelhirn sind die Formatio reticularis und die Area praetectalis für die vertikalen Augenbewegungen zuständig. Die Augenbewegungen werden bei Änderungen der Kopf- bzw. Körperlage zusätzlich durch den vestibulookulären Reflex (VOR) moduliert. Bei Kopfbewegungen wird das Bild auf der Fovea durch den optokinetischen Nystagmus (OKN) stabilisiert.
Die gleichzeitige Betrachtung eines Objektes mit beiden Augen ist die Grundvoraussetzung für das Binokularsehen. Diplopie ist ein Zeichen für Störungen des Binokularsehens. Diplopie kann monokular oder binokular wahrgenommen werden. Monokulare Diplopie ist stets pathologisch, demgegenüber kann binokulare Diplopie physiologische oder pathologische Ursachen haben. Physiologische Diplopie entsteht, wenn zwar ein Objekt in der Ferne fixiert wird, jedoch die Aufmerksamkeit einem näher liegenden Objekt zugewandt wird. Das nähere Objekt wird dann zwangsläufig doppelt wahrgenommen. Auch der umgekehrte Fall ist möglich, Fixation in der Nähe und Wahrnehmung eines Doppelbildes in der Ferne. Eine Vorstufe der Doppelbildwahrnehmung kann das weniger fassbare Symptom des unscharfen oder verschwommenen Sehens sein.
Vom Symptom der Diplopie sind das seltene Mehrfachsehen
sowie die Konfusion abzugrenzen. Formen des Mehrfachsehens sind monokulare oder binokulare Triplopie oder Dreifachsehen sowie Polyopsie (Vielfachsehen) und Palinopsie (Mehrfachsehen) (Kömpf et al.
1983). Das Symptom Konfusion
beschreibt die überlagerte Wahrnehmung von zwei sich an unterschiedlichen Orten im Raum befindlichen Objekten.
Pathophysiologie/Ursachen
Für die Aufrechterhaltung der physiologischen Binokularität ist die exakte Funktion aller an der Verarbeitung der visuellen Information beteiligten organischen Bestandteile, beginnend mit den Augenanhangsgebilden und dem Augapfel bis zu den Sehzentren im Kortex, erforderlich. Ursachen können somit die Lider, die knöchernen Orbitae sowie den Orbitainhalt, die brechenden Medien der Augen, die okulomotorischen Augenmuskeln mit ihren Hüllgeweben sowie den intermuskulären Halteapparat betreffen. Weitere Ursachen können die neuromuskuläre Übertragung, die okulomotorischen Hirnnerven (N3, N4, N6) mit ihren peripheren, faszikulären und nukleären Abschnitten, die an der Augenbewegung beteiligten supranukleären Strukturen des Hirnstamms sowie die primären und sekundären Sehzentren tangieren. Überschneidungen und/oder Kombinationen der Pathologien sind möglich.
Die pathophysiologischen Mechanismen können allgemein als angeborene Dysfunktion, erworbene Dysfunktion infolge organischer Veränderung oder im Rahmen der Alterung, entzündlich, ischämisch, traumatisch, infektiös und im Rahmen von Tumorerkrankungen klassifiziert werden. Überschneidungen und/oder Kombinationen der Mechanismen sind möglich. Bei den Schielerkrankungen sind trotz teilweise bekannter, begünstigender Faktoren die konkreten pathophysiologischen Mechanismen unklar. Man kann beim Schielen von einer multifaktoriellen Störung der zentralen Steuerungsmechanismen der Binokularität ausgehen.
Nach anatomischen Gesichtspunkten können die Ursachen für Diplopie in Störungen des dioptrischen Apparats, Störungen der Netzhautsensorik, Erkrankungen der knöchernen Orbita und Erkrankungen der orbitalen Gewebe, Pathologien der Augenmuskeln,
Störungen der neuromuskulären Übertragung, Lähmungen der okulomotorischen Nerven, supranukleäre Störungen, Schielerkrankungen und Änderungen der Fusionsfähigkeit begründet sein:
Störungen des dioptrischen Apparats können monokulare und binokulare Diplopie auslösen, selten auch monokulare und binokulare Triplopie. Durch Veränderungen des dioptrischen Apparats wird die Abbildung des betrachteten Objektes nicht nur auf der Fovea centralis abgebildet, sondern gleichzeitig noch an einem extrafovealen Netzhautort mit unterschiedlichem Richtungswert. Die Intensität der Abbildung ist in der Fovea deutlich, in der extrafovealen Lage je nach Entfernung vom Zentrum geringer ausgeprägt. Monokulare Diplopie
kann bei Pathologien des Tränenfilms, der Hornhaut, der Iris und der Linse auftreten. Die pathophysiologischen Ursachen für die Auslösung monokularer Diplopie sind Druck der Lider (Ford et al.
1997; Kommerell
1993), Irregularitäten der Brechkraft und
Astigmatismus (Archer
2007; Woods et al.
1996), Keratokonus (Takei
2002), Hornhautdystrophien (Girard
1988; Hirst et al.
1983), dezentrierte Ablationszonen nach
LASIK, Iridotomien (Balas und Mathew
2024),
Katarakt (Nagy et al.
2004) und Nachstarformationen (Lam et al.
2021). Auch Aberrationen höherer Ordnung gehen mit monokularer Diplopie einher (Barbero et al.
2022; Melamud et al.
2006). Monokulare Triplopie ist selten und kann durch Linsentrübungen (Campbell
1999) und Aberrationen höherer Ordnung verursacht werden (Bradley et al.
2013). Binokulare Diplopie
infolge von Störungen des dioptrischen Apparats kann durch dezentrierte Ablationszonen (Yap und Kowal
2001) und/oder Beeinträchtigung der Fusion durch Aniseikonie nach LASIK ausgelöst werden (Nuijts et al.
2018). Binokulare Triplopie ist lediglich als Nebenwirkung von Prismen beschrieben (Lang und Huber
1977).
Durch
Störungen der Netzhautsensorik kann
es zur Wahrnehmung von monokularer oder binokularer Diplopie kommen. Unter physiologischen Bedingungen fixieren beide Augen ein Objekt genau mit der Fovea centralis. Die Wahrnehmungen beider Augen werden zentral zu einem Bild verarbeitet. Bei Schielerkrankungen wird die Fixation entweder mit der Fovea centralis oder mit einer extrafovealen Netzhautstelle aufgenommen. Die Fixationsaufnahme mit einer extrafovealen Netzhautstelle kann dauerhaft oder intermittierend sein und es resultiert eine unphysiologische, anomale Korrespondenz. Monokulare Diplopie kann entstehen, wenn die Wahrnehmung der Fovea centralis und der extrafovealen Netzhautstelle gleichzeitig erfolgt. Dies wird meist durch den Mechanismus der Suppression eines der beiden Fixationsorte verhindert. Demgegenüber wird binokulare Diplopie bei normaler Korrespondenz durch erworbene anatomische Lageänderungen der Fovea centralis verursacht. Eine zu geringe Suppression einer der beiden konkurrierenden Netzhautstellen kann spontan auftreten oder infolge von Okklusionstherapie (Sharma et al.
2023; Hoole und Barrow
2017), pleoptischen oder orthoptischen Übungsbehandlungen und auch getriggert durch Aniseikonie entstehen (Benegas et al.
1999). Erworbene Lageänderungen der Fovea centralis können durch epi- oder subretinale Membranen (Shippman et al.
2015; Hatt et al.
2020; Veverka et al.
2017), Makuladystrophien (Steffen et al.
1996) oder nach Netzhautablösungen mit fovealer Beteiligung verursacht werden.
Erkrankungen der knöchernen Orbita und Erkrankungen der orbitalen Gewebe können
binokulare Diplopie verursachen. Durch Lageänderungen des Bulbus oder eine Einschränkung der Beweglichkeit in bestimmten Blickrichtungen wird die exakte Ausrichtung der Sehachse verhindert, es entsteht eine Schielstellung der Augen. Pathophysiologisch zu bedenken sind mechanische Faktoren infolge einer Verletzung, entzündlicher oder infektiöser Veränderungen, einer Ischämie, Tumorkompression und altersassoziierte Veränderungen der Gewebe. Entitäten sind das Silent-sinus-Syndrom (Michelle et al.
2023) oder traumatische Orbitafrakturen, insbesondere bei Einklemmung der muskulären Hüllgewebe. Durch Traumen können des Weiteren intraorbitale Hämatome entstehen oder das (erworbene) Jaensch-Brown-Syndrom (Mühlendyck
2022) resultieren. Die idiopathische intraorbitale Entzündung (Lieb
2021), orbitale Entzündungen anderer Ursache sowie die infektiös-entzündliche
Orbitaphlegmone haben als gemeinsame Endstrecke die verminderte Beweglichkeit gemein. Tumoren der Orbita, als altersassoziierte Veränderungen die Lageveränderungen oder Bewegungseinschränkungen bei hoher (Achsen-)Myopie (Pineles
2022; Hennein und Robbins
2021) sowie das Sagging-eye-Syndrom (Goseki et al.
2020) gehören zu den rein mechanischen Pathomechanismen.
Störungen der Augenbeweglichkeit
infolge von primären oder sekundären
Erkrankungen der äußeren Augenmuskeln können binokulare Diplopie auslösen. Pathologische Veränderungen der äußeren Augenmuskeln verhindern die notwendige muskuläre gerade Ausrichtung beider Augen auf das fixierte Objekt, die Sehachsen kreuzen sich. Diplopie kann bereits im Geradeausblick und/oder in bestimmten Blickrichtungen auftreten. Primäre Pathomechanismen sind Fehlanlagen der äußeren Augenmuskeln, Fibrosierung der Muskulatur, Bewegungsdefizite infolge von angeborenen Innervationsanomalien und
Mitochondriopathien. Sekundäre Pathomechanismen sind Veränderungen der Muskelfunktion infolge von orbitalen und/oder rein muskulären Entzündungen. Der Pathomechanismus nach indirektem Trauma der Muskulatur ist nicht eindeutig, möglicherweise ist eine Ischämie der Muskelzellen sowie Ischämie der motorischen Nerven bei erhöhtem Gewebedruck (Blutung, Schwellung) ursächlich.
Primäre Augenmuskelerkrankungen sind die Agenesie eines oder mehrerer äußerer Augenmuskeln (Hart et al.
2005) und die kongenitale
Fibrose der äußeren Augenmuskeln (CFEOM) (Xia et al.
2022). Die Retraktionssyndrome nach Stilling-Türk-Duane (Prasad et al.
2023) werden zur Gruppe der Congenital Cranial Dysinnervation Disorders (CCDD) (Oystreck
2018) gerechnet. Die chronisch progressive externe Ophthalmopathie (CPEO) (Chatzistefanou et al.
2019) ist eine die Augenmuskeln betreffende primäre
Mitochondriopathie. Sekundäre Augenmuskelerkrankungen werden durch die endokrine Ophthalmopathie (Baeg et al.
2022) und die entzündliche oder infektiöse
okuläre Myositis (Pidro et al.
2022; Montagnese et al.
2016) verursacht.
Für die physiologische Funktion der äußeren Augenmuskeln ist die Weiterleitung der neuronalen Impulse notwendig,
Störungen der neuromuskulären Übertragung können zu binokularer Diplopie führen. Die Weiterleitung des neuronalen Impulses über den synaptischen Spalt wird durch den
Neurotransmitter Acetylcholin (ACh) vermittelt.
Störungen der neuromuskulären Übertragung betreffen die Ausschüttung von Acetylcholin aus dem präsynaptischen Spalt, die Bindung an die postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren oder die Inaktivierung der Acetylcholinesterase.
Nebenwirkungen von medizinischen oder kosmetischen Behandlungen mit Botulinumtoxin im Kopf-Hals-Bereich (Delle Chiaie
2024; Alharbi et al.
2023) sowie der seltene
Botulismus (Cujba et al.
2022; Adams et al.
2017) betreffen dabei den präsynaptischen Spalt bzw. die Ausschüttung von Acetylcholin. Bei den
Vergiftungen mit Organophospaten (Basrai et al.
2019) kommt es zu einer Blockade der Acetylcholinesterase im synaptischen Spalt und zu einer muskulären Dauererregung. Die systemische, rein okuläre oder generalisierte
Myasthenia gravis (Behbehani et al.
2022) und das Lambert-Eaton-Syndrom (AWMF
2022) sind immunologisch vermittelte Erkrankungen. Die
Autoantikörper binden an die Rezeptoren des postsynaptischen Spalts und verhindern dort die neuromuskuläre Übertragung.
Angeborene und erworbene partielle oder vollständige
Lähmungen der okulomotorischen Nerven N. oculomotorius
(N3), N. trochlearis
(N4) und N. abducens
(N6) können zu Diplopie schon im Geradeausblick oder nur in bestimmten Blickrichtungen führen. Die möglichen Ursachen der Lähmungen sind sehr umfangreich, die Betrachtung nach anatomischen Gesichtspunkten ist hilfreich. Die drei paarigen Hirnnervenkerne mit ihren Subkernen liegen im Hirnstamm. Die Kerne des N3 und des N4 liegen im Mittelhirn, der Kern des N6 in der Pons. Die Nervenfasern innerhalb des Hirnstammgewebes bilden den faszikulären Nervenabschnitt. Nach dem Austritt aus dem Hirnstamm in den Subarachnoidalraum (N3 und N6 nach ventral; N4 nach dorsal) spricht man bis zum innervierten Muskel vom peripheren Nerv. Die drei okulomotorischen Nerven ziehen dann durch den Sinus cavernosus und gelangen durch die Fissura orbitalis superior und inferior in die Orbita und innervieren dort die Augenmuskeln. Auslöser von Lähmungen sind Traumata und Entzündungen, Tumoren und ischämische Ereignisse. In gut einem Viertel der Fälle bleibt der ursächliche Pathomechanismus unklar (Hörner et al.
2022; Choi et al.
2019; Richards et al.
1992).
Abduzensparesen
sind häufig, Trochlearisparesen und Okulomotoriusparesen seltener. Lähmungen von mehreren Nerven machen nur einen sehr geringen Anteil aus, gehen aber häufig mit weiteren Symptomen einher (Hörner et al.
2022; Choi et al.
2019; Richards et al.
1992). Die konkreten Anteile variieren je nach Studie und Grundgesamtheit sehr.
Supranukleäre Störungen sind
topodiagnostisch im Hirnstamm verortet und können sich mit dem Symptom blickrichtungsabhängiger Diplopie präsentieren. Andersartige, unspezifische beschriebene Sehbeschwerden und
Schwindel sind ebenso anzutreffen. Betroffen ist bei den supranukleären Störungen die Augenbeweglichkeit, die Erkrankungen können zu erworbenen Schielstellungen schon im Geradeausblick oder nur in bestimmten Blickrichtungen führen. Als Ausgangspunkt und grober Orientierung für weitere Überlegungen sind bei horizontalen Störungen die Läsionen im Bereich der Pons, bei vertikalen Störungen im Bereich des Mittelhirns zu vermuten. Die auslösenden Pathologien sind meist Ischämie, entzündliche oder demyelinisierende Erkrankungen und Neoplasien.
Es können generell alle Augenbewegungsarten (Blickzielbewegungen, Folgebewegungen, vestibulookulärer Reflex) betroffen sein und ein (Blickrichtungs-) Nystagmus kann ebenfalls auftreten. Blicklähmungen in bestimmte Richtungen oder klar abgrenzbare Krankheitsbilder wie die
internukleäre Ophthalmoplegie (INO) (
Nickels et al.
2024), das Eineinhalb-Syndrom (Fratto et al.
2023; Lee et al.
2022), die Skew-Deviation/
Ocular Tilt Reaction (Lee et al.
2022; Walter und Trobe
2021), das Parinaud-Syndrom (Barbato et al.
2024; Cohen und Litofsky
2023) und die doppelte Heberparese (Struck und Larson
2015) sowie Mischformen können abgegrenzt werden.
Schielerkrankungen können
in unterschiedlicher Häufigkeit und zu unterschiedlichen (Lebens-) Zeitpunkten Diplopie verursachen. Schielen ist als Abweichung der beiden Augen relativ zueinander definiert, ein betrachtetes Objekt wird nicht gleichzeitig mit der jeweiligen Fovea centralis fixiert. Es gibt manifeste und latente Schielformen. Unterteilt werden kann in Innenschielen (Esotropie), Außenschielen (Exotropie) und Vertikal- und Verrollungsschielen (Hyper- oder Hypotropie). Mischformen sind möglich. Nach zeitlichen Gesichtspunkten wird meist noch zwischen angeborenen und erworbenen Schielformen unterschieden, die Grenze liegt beim Lebensalter von 6 Monaten. Diplopie ist bei den angeborenen oder früh erworbenen Schielformen selten. Demgegenüber können spät(er) erworbene Schielformen mit höherer Wahrscheinlichkeit Diplopie auslösen. Die Pathomechanismen der erworbenen Schielformen sind schwer einzugrenzen, eine multifaktorielle Genese ist wahrscheinlich. Höhere Hyperopie, Störungen der Akkommodation (Lembo et al.
2019) sowie hohe Myopie können ursächlich sein.
Jede Schielform kann zu irgendeinem Zeitpunkt zur Wahrnehmung von Diplopie führen (Gilbert et al.
2017; Sprunger et al.
2023).
Diplopie kann durch Änderungen der Fusionsfähigkeit entstehen. Dies betrifft Patienten mit einem vorbestehenden Strabismus und kann diagnostische Schwierigkeiten bereiten, da auch konkurrierende Differenzialdiagnosen zum Strabismus in Erwägung gezogen werden müssen. Die Ursachen sind nur nach akribischen Untersuchungen und meist nur im Vergleich mit Voruntersuchungen feststellbar und schwer fassbar.
Änderungen der
Refraktion können ursächlich sein, meist durch altersabhängige Refraktionsänderungen
, Progression einer
Katarakt oder durch iatrogene
Monovision/Anisometropie (Kushner
2001). Auch die Sanierung einer lange bestehenden Katarakt mit deutlicher Visusreduktion birgt das Risiko der postoperativen Diplopie, insbesondere bei Störungen der Binokularität (Pratt-Johnson und Tillson
1989). Bei Schielpatienten kann auch ein Fixationswechsel zwischen den Augen zu Diplopie führen (Pineles
2016). Änderungen der Schielwinkelgröße bzw. der motorischen Fusion können Diplopie verursachen, z. B. eine in einen konstant manifesten Winkel dekompensierende Phorie (Kushner
2001). Zentrale Fusionsunterbrechungen/Suppressionsminderungen z. B. nach Trauma sind ebenfalls in der Literatur beschrieben (Bixenman
2010).
Augenärztliche Operationen können in nahezu jeder Subspezialisierung Doppelbilder verursachen (Sobol und Rosenberg
2017). Als Pathomechanismen kommen die oben genannten Aspekte allein oder in Kombination zum Tragen (Mehta et al.
2020; García-Montero et al.
2019; Akbari et al.
2019; Wang et al.
2019).
Therapie
Diplopie kann durch viele körperliche Zustände und Krankheiten verursacht werden. Übergeordnete therapeutische Ansätze zur Therapie und/oder Rezidivprophylaxe adressieren einerseits die Risikofaktoren, andererseits spezifische Erkrankungen. Die Stoffwechselsituation ist ein häufiger Risikofaktor, Fettstoffwechsel und Diabetessituation sind beispielhafte Ansatzpunkte. Weitere systemische Behandlungsansätze können die Blutdruckregulation, antibiotische und/oder antientzündliche Therapie mit Kortison oder Modulatoren des Immunsystems sein. Einzelne Erkrankungen können spezifisch medikamentös behandelt werden, so z. B. die
Myasthenia gravis. Aneurysmen und/oder Gefäßverschlüsse sind mitunter chirurgischen Verfahren zugänglich, ebenso bestimmte Tumoren des ZNS.
Zur Therapie der monokularen Diplopie
stehen konservative (Bartiss
2018) oder chirurgische Verfahren zur Verfügung. Störungen des dioptrischen Apparats können mit Tränenersatzmitteln zur Glättung der Oberfläche, durch Brillengläser oder Kontaktlinsen zur Korrektur der Refraktionsfehler behandelt werden. Chirurgisch kommen Eingriffe am Lid zur Reduktion druckinduzierter Veränderungen oder besseren Verteilung des Tränenfilms zum Einsatz. Eingriffe an der Hornhaut oder der Linse dienen der Entfernung von
Trübungen und/oder Brechkraftfehlern, insbesondere auch der Minimierung von Aberrationen höherer Ordnung. Einseitige sensorische Diplopie kann mitunter durch erlernbare strenge Fixation mit dem nichtbetroffenen Auge oder durch „Ignorieren“ des weniger deutlichen Doppelbildes vermieden werden. Wenn diese Maßnahmen nicht erfolgreich sind, kann der Seheindruck des betroffenen Auges auch mit einem Augenpflaster, Bangerter-Folien oder lichtundurchlässigen Kontakt- oder Intraokularlinsen (Palma-Carvajal et al.
2021; Hadid et al.
2008) dauerhaft unterdrückt werden.
Die Therapie der binokularen Diplopie
bei Schielerkrankungen oder
Augenbewegungsstörungen folgt ebenfalls konservativen (Bartiss
2018) und chirurgischen Prinzipien (Phillips
2007; Yahalom et al.
2023). Konservativ steht die Korrektur von Brechkraftfehlern durch Brillengläser und der Ausgleich des Schielwinkels
mit Folien- oder Glasprismen im Vordergrund. Mitunter kann bei kleinen Stellungsfehlern oder nur geringen Paresen/Einschränkungen der Beweglichkeit auch eine tolerierbare Kopfhaltung eingenommen werden, sofern in einer Blickrichtung eine hinreichend große, doppelbildfreie Zone existiert. Als Ultima Ratio stehen die einseitige Totalokklusion mit Augenpflaster, Bangerter-Folien oder opake Kontakt- oder Intraokularlinsen zur Verfügung (Palma-Carvajal et al.
2021; Hadid et al.
2008). Chirurgisch kann die Augenstellung und -beweglichkeit mittels Eingriffen an den Augenmuskeln oder der Verwendung von Botulinum-Toxin therapiert werden (Escuder und Hunter
2019), mitunter auch in Kombination der Verfahren. Das Prinzip der Augenmuskelchirurgie ist die Verlagerung des Bulbus zurück in die physiologische Position. Zum Einsatz kommen Muskelrücklagerungen, Muskelresektionen und Muskeltranspositionen oder Kombinationen der Verfahren. Da auch deutliche Linsentrübungen durch die Visusreduktion eine Schielerkrankung auslösen oder begünstigen können, ist mitunter eine Phakoemulsifikation zur Therapie der Diplopie erforderlich. Ebenso kann die chirurgische Entfernung von intraorbitalen Tumoren oder die Versorgung von knöchernen Orbitaverletzungen der Beseitigung von Diplopie dienen.