Kongenitale Aniridie (PAX6-Syndrom) und andere Vorderabschnittsdysgenesien
Verfasst von: Barbara Käsmann-Kellner, Fabian N. Fries, Isabel Weinstein und Berthold Seitz
Man unterscheidet bei den Vorderabschnittsdysgenesien (ASD – „anterior segment dysgenesis“) die iridotrabekuläre Dysgenesie, z. B. Axenfeld-Riegers-Spektrum, und die Maximalform kongenitale Aniridie. Zur keratoiridolentikulären Dysgenesie (KILD) zählen die Peters-Anomalie und das Peters-Plus-Syndrom. Weitere Formen der ASD sind das primäre kongenitale Glaukom (PCG) sowie Mikrophthalmie- und Sklerokorneafehlbildungen. Es gibt vielfältige Überschneidungen zwischen den Typen.
Die kongenitale Aniridie ist die ausgeprägteste iridotrabekuläre Dysgenesie, die aufgrund der Progressivität der Erkrankung und zusätzlicher systemischer Befunde auch PAX6-Syndrom heißt. Die okulären Hauptkomplikationen sind die aniridieassoziierte Keratopathie (AAK), die zur kornealen Erblindung führen kann, das oft schwer einstellbare Sekundärglaukom mit möglicher absoluter Erblindung sowie Katarakte, die oft bereits im Kindesalter auftreten. Bei allen ASD besteht ein sehr hohes Glaukomrisiko bereits im Kindesalter.
Vorderabschnittsdysgenesien sind eine Gruppe genetisch heterogener angeborener Augenerkrankungen, die durch abnormale Entwicklung und Struktur des vorderen Augenabschnitts gekennzeichnet sind (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Käsmann-Kellner et al. 2019).
Es gibt verschiedene Arten von Vorderabschnittsdysgenesien, die wesentlichen davon werden hier behandelt:
Kongenitale Aniridie und PAX6-Syndrom inklusive WAGR(O)-Syndrom
Vorderabschnittsdysgenesien können entweder isoliert auftreten oder Teil eines Syndroms sein, das mit anderen körperlichen Anomalien oder genetischen Störungen verbunden ist. Eines der Hauptprobleme ist die Entwicklung eines Sekundärglaukoms, welches zur Erblindung führen kann.
Die meisten Vorderabschnittsdysgenesien führen zu einer angeborenen Sehbehinderung.
Je früher Störungen der visuellen Wahrnehmung auftreten, desto stärker und schwerwiegender wirken sie sich auf die binokulare visuelle Wahrnehmung aus und desto eher kommt es zu einer Amblyopie (Sehschwäche) sowie zu einer fehlenden Entwicklung binokularer räumlicher Wahrnehmung (Käsmann-Kellner et al. 2022).
Auch bilaterale kongenitale Visusminderungen sind bei Kindern mit Vorderabschnittsdysgenesien häufig, insbesondere bei der am häufigsten bilateral auftretenden kongenitalen Aniridie (Krause et al. 2023). Generell gilt, dass eine Sehbehinderung oder auch visuelle Wahrnehmungsstörungen das Risiko für weitere Entwicklungsdefizite sowie für Gesundheitsstörungen erhöht (Käsmann-Kellner und Seitz 2014b; Rudolph 2022; Käsmann-Kellner 2016).
In der frühkindlichen Entwicklung werden 80 % aller sensorischen Informationen durch das visuelle System bereitgestellt. Eine beidseitige Sehbehinderung führt auch bei sonst gesunden Kindern zu charakteristischen Entwicklungsdefiziten der motorischen, sozialen und kognitiven Entwicklung. Bei Kindern mit syndromatischen, nicht isolierten Vorderabschnittsdysgenesien und ohnehin abweichenden Entwicklungsschritten kommt es durch eine Sehbehinderung zu einer Potenzierung dieses Problems (Käsmann-Kellner et al. 2022).
Die frühe Diagnostik und Therapie (Frühförderung) visueller Störungen ist daher auch für die allgemeine motorische, soziale und kognitive Entwicklung von Kindern mit Vorderabschnittsdysgenesien essenziell und damit auch für die spätere soziale Teilhabe, alle Lernprozesse, die familiäre Lebensqualität und die Selbstständigkeit. Die hauptsächliche Komplikation (Glaukom), die in jedem Lebensabschnitt auftreten kann, muss frühzeitig erkannt und therapiert werden.
Genetik und Pathophysiologie
Zur Steuerung der Entwicklung des okulären Phänotyps sind mehrere aufeinander abgestimmte Schritte von zeitlich und räumlich organisierten vernetzten Auslösern (Induktionen) notwendig. Dies wird auf dem Niveau der Transkription reguliert (Fitzpatrick und van Heyningen 2005; Grainger et al. 2023; Latta et al. 2019).
Entscheidend sind hier die sog. Mastergene oder DNA-bindende Transkriptionsfaktoren PAX6, FOXC1, SOX2, FOXE3, OTX2, PITX2 und PAX2 (Fitzpatrick und van Heyningen 2005; Käsmann-Kellner et al. 2019; Schlötzer-Schrehardt et al. 2021). Abhängig vom Phänotyp kann auf die Gestationszeit geschlossen werden, in der die okuläre Entwicklung tiefgreifend gestört wurde. Die Neuralleistenzellen tragen wesentlich zur Entwicklung der Augenstrukturen, insbesondere der vorderen Augenabschnitte, bei. Bei der klinischen und genetischen Diagnostik ist der entscheidende Faktor die genaue phänotypische Charakterisierung, die jeder genetischen Diagnostik vorangestellt werden muss und nach der sich die Auswahl der diagnostischen Optionen richtet. Eine „Schrotschussdiagnostik“ auf alle beschriebenen Gene, die bei der embryonalen Augenbildung beteiligt sind, ist kostenintensiv und weniger effektiv als eine phänotypisch orientierte Selektion der für das beschriebene Erkrankungsbild häufigen Gene, gefolgt von den selteneren Genen in einem 2. oder 3. molekulargenetischen Schritt (Käsmann-Kellner et al. 2019).
Klassifikation angeborener Hornhauttrübungen nach Nischal (2015)
Hilfreich zur Differenzialdiagnose der kongenital getrübten Hornhaut ist die Klassifikation nach Nischal (Nischal 2015; Käsmann-Kellner et al. 2019). Sie berücksichtigt zwar nicht die Vorderabschnittspathologien mit späterem Auftreten, hat sich jedoch sehr bei der Differenzialdiagnose angeborener Hornhauttrübungen bewährt (s. Tab. 1, modifiziert nach Nischal (2015); Käsmann-Kellner et al. (2019)). Die primären angeborenen Entwicklungsanomalien werden in diesem Kapitel nicht besprochen, hier aber zur Ergänzung der Differenzialdiagnose angeborener Hornhauttrübungen erwähnt.
Tab. 1
Klassifikation angeborener Hornhauttrübungen nach Nischal (2015)
Primäre angeborene Hornhauttrübungen (Entwicklungsanomalien nur der Hornhaut)
Die in diesem Kapitel besprochenen Krankheitsentitäten sind kursiv hervorgehoben.
Einzelne Erkrankungen der Vorderabschnittsdysgenesien
Dem Kapitel ist eine Abbildung vorangestellt, in der detailliert die genetischen Loci und die wesentlichen klinischen Merkmale der Vorderabschnittsdysgenesien aufgelistet sind (Abb. 1).
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Kongenitale Aniridie als ausgeprägteste Vorderabschnittsdysgenesie und PAX6-Syndrom
Die PAX6-Gen-assoziierte kongenitale Aniridie (Chromosom 11) tritt in mehreren Formen auf: dominante Vererbung, sporadisch auftretend (dann meist dominant weitervererbt), als Teil des WAGR- bzw. des WAGRO-Syndroms sowie assoziiert mit weiteren Syndromen. Des Weiteren wird zunehmend deutlich, dass bei der PAX6-Gen-assoziierten Aniridie weitere systemische Auffälligkeiten auftreten (neurologisch, hormonell, gastrointestinal, metabolisch), weswegen zunehmend der Begriff Aniridie-Syndrom bzw. PAX6-Syndrom verwendet wird.
Das PAX6-Gen (früher: Oculorhombin) ist ein evolutionär altes, hoch konserviertes Gen und kodiert das Paired-Box-6-Protein, einen Transkriptionsfaktor, der bei der Entwicklung des Nervensystems und des Auges eine entscheidende Rolle spielt (Fitzpatrick und van Heyningen 2005). Die Kontrolle der okulären Entwicklung und einiger neuraler Gewebe wird durch das Mastergen PAX6 beeinflusst. Aufgrund der Mutationen kommt es zur Bildung eines Genprodukts mit eingeschränkter Funktion bzw. zu einem reduzierten PAX6-Protein-Spiegel (Haploinsuffizienz). Ein homozygoter PAX6-Gen-Defekt ist in der Regel nicht mit dem Leben vereinbar, vereinzelt wurden anophthalmische Kinder mit schweren Hirnfehlbildungen beschrieben. Haploinsuffizienz des PAX6-Gens führt zur klinisch oft sehr differierenden Symptomatik der sog. Aniridie. Missense-Mutationen von PAX6 gehen oft mit untypischen Phänotypen (geringe Irisanomalien bis zur Peters-Anomalie) und Mikrophthalmie einher. Bei einigen Missense-PAX6-Mutationen wurden weit überdurchschnittliche Visuswerte erreicht, bei einer niedrigeren Rate an Komplikationen (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a). Etwa 70 % der Mutationen des PAX6-Gens sind solche, die zu einem prämaturen Terminationskodon führen (davon ca. 40 % Nonsense-, 20 % Frameshift-, 10 % Spleißstellenmutationen; Lagali et al. 2020; Neuhann und Neuhann 2023).
Aniridie ist eigentlich eine Fehlbenennung, da das (meist inkomplette) Fehlen der Iris zwar das augenfälligste ist, aber nur eines von vielen okulären Problemen und bei manchen Formen kaum oder gar nicht vorliegt. Bei der kongenitalen Aniridie handelt es sich um eine schwere panokuläre profibrotische angeborene Erkrankung mit Makulahypoplasie und häufig Papillenhypoplasie. Im Verlauf des Lebens erweist sie sich als eine durch das oft schwer therapierbare Sekundärglaukom und die Limbusstammzellinsuffizienz mit nachfolgenden vaskularisierten Hornhauttrübungen als eigentlich visusbestimmende Erkrankungen, die bei chirurgischen Eingriffen zudem eine deutliche profibrotische Aktivität zeigt (Fries et al. 2022; Seitz et al. 2014). Im Langzeitverlauf ist die PAX6-Aniridie eine häufig zur Erblindung führende Erkrankung (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a).
Systemische Befunde
In den letzten Jahren wurde immer mehr über die beim PAX6-Syndrom vorhandenen systemischen Befunde herausgefunden, was der PAX6-bezogenen Aniridie auch den Namen PAX6-Syndrom verlieh. Es spiegelt die vielfältigen embryonalen Einflüsse des Mastergens PAX6 auf die Entwicklung diverser Körpersymptome wider. Es handelt sich (vgl. auch Tab. 2) um metabolische (Adipositas, gestörte Glukosetoleranz), endokrinologische (Hypothyreose, Hypophysenfunktionsstörungen, epiphysär bedingt gestörte Melatoninausschüttung mit Tag-Nacht-Rhythmus-Störungen) sowie um neurologische Befunde wie Gyrierungsstörungen, Balkenhypoplasie, Fehlbildungen des Bulbus olfactorius mit Geruchempfindungsstörungen und auditorische Wahrnehmungsstörungen sowie Lernbehinderung (Bobilev et al. (2019); Grant et al. (2017), (2021); Käsmann-Kellner und Seitz (2014a); Netland et al. (2011)).
Tab. 2
Formen und Zeichen der PAX6-assoziierten Aniridie. (Mod. nach Daruich et al. (2022); Fitzpatrick und van Heyningen (2005); Käsmann-Kellner und Seitz (2014a); Lagali et al. (2020))
OMIM
Details der PAX6-assoziierten Aniridie (PAX6-Syndrom)
106210
Sog. „Isolierte“ Aniridie (Haploinsuffizienz bei intragener Mutation), PAX6-Syndrom (Abb. 2)
Mögliche okuläre Manifestationen (Daruich et al. 2022; Fitzpatrick und van Heyningen 2005; Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Käsmann-Kellner et al. 2019; Lagali et al. 2020)
• Totale/partielle Aniridie (Abb. 2 und 4, Daruich et al. 2022; Fitzpatrick und van Heyningen 2005)
• Atypische Kolobome (Abb. 5), Korektopie (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Daruich et al. 2022)
• *Limbusstammzellinsuffizienz (auch bei vorhandener Iris möglich) mit nachfolgenden zentripetalen vaskularisierten Hornhauttrübungen
- Zunächst avaskulärer Limbuspannus
- Zunehmende zentripetale Vaskularisation und Hornhauttrübungen (Käsmann-Kellner et al. 2018; Lagali et al. 2020; Latta et al. 2021)
- ➔ AAK (4 Grade): aniridieassoziierte Keratopathie (Daas et al. 2022; Lagali et al. 2020; Schlötzer-Schrehardt et al. 2021; van Velthoven et al. 2023)
- Operative Visusrehabilitation durch hornhautchirurgische Maßnahmen mit hoher Rezidivrate (Käsmann-Kellner et al. 2022; Vidal-Villegas et al. 2023; Dolezal et al. 2019; Seitz et al. 2014; Zwingelberg 2022)
• *Katarakt (kongenital, juvenil, adult möglich, Käsmann-Kellner und Seitz 2014b; Krause et al. 2023; Shajari et al. 2022; Medsinge und Nischal 2015)
- Oft vorderer oder hinterer Polstar, pseudohyperplastische Metaplasie der Linsenkapsel)
- Subluxation der Linse, Linsenkolobome
• *Sekundärglaukom (bereits ab jungem Kindesalter möglich, persistent visuslimitierend, häufigste Erblindungsursache bei Aniridie (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Viestenz et al. 2018)
• Foveahypoplasie (Pedersen et al. 2020; Pedersen et al. 2023)
• Papillenhypoplasie
• Erhöhte Amotiorate
• *Gefahr des Aniridie-Fibrose-Syndroms (AFS) nach intraokularen Eingriffen (Daruich et al. 2022; Käsmann-Kellner und Seitz 2014b)
*Fett: Hauptkomplikationen der PAX6-Aniridie
Mögliche metabolische Zusatzbefunde (Grainger et al. 2023; Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Netland et al. 2011):
• Glukoseintoleranz, Diabetes mellitus Typ 2 bereits in jungem Alter
Tab. 2 bietet einen Überblick über die okulären und systemischen Assoziationen bei PAX6-Gen-assoziierten Aniridien, im Anschluss an die Tabelle finden sich die entsprechenden Fotodokumentationen.
PAX6-Aniridie: Morphologie allgemein
Die Aniridie (Abb. 2) kann komplett oder partiell sein. Sie kann auch als atypisches Kolobom auftreten und bei wenigen Patienten nur als entrundete Pupille oder Korektopie.
Komplikation bei PAX6-Aniridie: Katarakt
Häufig findet sich eine kongenitale Cataracta polaris anterior oder posterior (Abb. 7), selten eine komplette kongenitale Katarakt. Relativ häufig entwickelt sich jedoch im Kindes- oder Jugendalter eine prämature Katarakt (Abb. 6 und 8, Daruich et al. (2022); Käsmann-Kellner und Seitz (2014a)).
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Zur Vermeidung eines Aniridie-Fibrose-Syndroms sollte eine Kleinschnittchirurgie mit ungetönter Faltlinse erfolgen. Die Implantation von künstlichen Irides und von großen PMMA-Linsen als sog. Irisersatz sind bei der kongenitalen Aniridie obsolet, da sie zu einem schwer einstellbaren Sekundärglaukom und zum Aniridie-Fibrose-Syndrom führen kann (Seitz et al. 2014, Abb. 7 und 8).
Komplikation bei PAX6-Aniridie: AAK: aniridieassoziierte Keratopathie mit Limbusstammzellinsuffizienz
Der Begriff Limbus stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Grenze zwischen 2 verschiedenen Gewebetypen. Hier markiert er die Grenzzone zwischen der optisch klaren Hornhaut und der undurchsichtigen Sklera. Trotz seiner geringen Größe ist der korneosklerale Limbus eine einzigartige okuläre Struktur, die für die Integrität der Hornhaut verantwortlich ist. Im Allgemeinen fungiert er als (1) Barriere, die das Einwachsen und die Migration von Bindehautzellen in die Hornhautregion verhindert, (2) als Stabilisator, der kleine Druckschwankungen auffängt, um die Hornhautkrümmung und die Brechkraft aufrechtzuerhalten, (3) als ein Ort, der reichlich mit Gefäßen und Lymphgefäßen infiltriert ist, um das periphere Hornhautgewebe zu ernähren, (4) als ein Ort des Kammerwasserabflusses durch das Trabekelmaschenwerk zur Aufrechterhaltung eines regelrechten Augeninnendrucks und (5) als eine wichtige Nische für Stammzellen zur Regeneration von Hornhautgewebe und zur Wundheilung. Bei der Aniridie ist insbesondere die Nischenfunktion zur Stammzellenbildung gestört. PAX6-Defekte können die Entwicklung der limbalen epithelialen Stammzellen (LESC) stören, indem sie zunächst die limbale Nische beeinträchtigen, was wiederum die Identität der LESC beeinträchtigen kann (Lagali et al. 2020; Latta et al. 2021). Man konnte nachweisen, das LESC bei jungen Aniridiepatienten noch vorhanden sind, dann aber schwinden. Im Laufe des Lebens entwickeln bis zu 70 % der von Aniridie Betroffenen eine aniridieassoziierte Keratopathie (AAK) mit einer Insuffizienz der limbalen Stammzellen, einer gestörten Differenzierung der Hornhautepithelzellen, abnormaler Zelladhäsion und Wundheilung (van Velthoven et al. 2023). Die AAK ist durch eine zentripetal verlaufende Vaskularisierung (Käsmann-Kellner et al. 2018), eine Bindehautveränderung und eine Verdickung der Hornhaut gekennzeichnet. Neben den zellulären Veränderungen wird eine sekundär entzündliche Komponente angenommen. Die AAK wird in 4 Grade eingeteilt (Lagali et al. 2020). Die beste Therapie der LSCI-bedingten AAK ist die Prophylaxe der chronischen Ernährungsstörung der Hornhaut.
Tab. 3 zeigt die Klassifikation der AAK nach Lagali (Lagali et al. 2020), vergleiche hierzu Abb. 9, 10 und 11).
Tab. 3
Klassifikation der aniridieassoziierten Keratopathie (AAK). (Nach Lagali et al. 2020; Fries et al. 2022)
Stadium der AAK
Hornhauttrübung
Vaskularisation
Konjunktivalisation
Zusatzbefunde
Stadium 1
Nur peripher
Keine
Nur peripher
Keine
Stadium 2
Fortschreitend, innerhalb des äußeren Hornhautdrittels
Beginnend an Lokalisationen 6 und 12 Uhr, progressiv
Verdichtung der limbokonjunktivalen Gefäße über den Limbus hinaus
Sicca-Syndrom, gelegentlich Schmerzen
Stadium 3
Weiter fortschreitend, Zentrum klar
Weiter progressiv, zirkulär, Zentrum noch frei
Konjunktivalisation bis zur mittleren Hornhaut, Zentrum frei
Das häufig bereits im jungen Kindes- (Abb. 12) oder Jugendalter (Abb. 13) auftretende Sekundärglaukom ist die Komplikation bei der kongenitalen Aniridie, die durch den Sehnervenschaden zu einer irreversiblen Erblindung führen kann. Häufig erfolgt die Diagnose zu spät, da die Compliance bei Kindern bei der Druckmessung reduziert ist, eine Gesichtsfelduntersuchung noch nicht möglich ist und sowohl der Zustand der Hornhaut als auch der Nystagmus ein Papillen-OCT nicht möglich machen. Ophthalmoskopisch ist die Papillenbeurteilung bei älteren Patienten oft durch den Hornhautbefund erschwert, zudem gibt es bei der PAX6-Aniridie gehäuft Formanomalien der Papille (z. B. Dysplasie), die die Beurteilung erschweren. Bei der Tensiobeurteilung muss die Hornhautdicke (oft erhöht) mit in Betracht gezogen werden.
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Eine jahrelange Tropftherapie kann die AAK verschlechtern, daher wird oft zu einer frühen operativen Intervention geraten, oft zur Trabekulotomie als Primäreingriff (Seitz et al. 2014).
Komplikation bei PAX6-Aniridie: AAF: Aniridie-Fibrose-Syndrom
Jeglicher chirurgische Eingriff sollte nur in Zentren erfolgen, die große Erfahrung in der chirurgischen Betreuung von Aniridiepatienten haben. Jeder bulbuseröffnende Eingriff kann zu einer sterilen profibrotischen Entzündung führen, die in kurzer Zeit zur Phthisis und Erblindung des betroffenen Auges führt (Abb. 14). Die Grundlagen des sog. Aniridie-Fibrose-Syndroms sind noch nicht geklärt, in jedem Fall führt der Einsatz künstlicher Linsen zu einem deutlich erhöhten Risiko (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Seitz et al. 2014; Netland et al. 2011).
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WAGR(O)-Syndrom
Das WAGR(O)-Syndrom ist ein „contiguous gene deletion syndrome“ (11p-Deletions-Syndrom) und basiert auf dem Verlust mehrerer benachbarter Gene (Mikrodeletion 11.13, das Wilms-Tumor-Gen [WT1-Gen] beinhaltend). Es finden sich Wilms-Tumor, Aniridie, genitourethrale Anomalien sowie eine geistige Retardierung. Bei manchen Betroffenen kommt eine frühkindliche Adipositas („obesity“) hinzu. Verhaltensprobleme sind häufig. Die Prävalenz liegt bei 1:500.000; in der Literatur wird die Häufigkeit des WAGRO-Syndroms unterschiedlich beschrieben (zwischen 15–30 % [Daruich et al. 2022; Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Krause et al. 2023]; bei etwa 7/1000 malignen Wilms-Tumoren der Niere im Kindesalter liegt ein WAGR-Syndrom vor.
Von den in unserer Klinik behandelten 25 Patienten (8 Monate bis 41 Jahre) sind 5 nicht geistig behindert, 2 haben einen Universitätsabschluss, 3 lernen Braille. 16 der 21 Patienten hatten einen Wilms-Tumor, der mit Chemotherapie und Operationen behandelt worden war. Das Alter der WAGR-Kinder ohne bislang aufgetretenen Wilms-Tumor liegt zur Zeit zwischen 8 Monaten und 13 Jahren.
Alle Patienten wurden neben der Mikrodeletion 11p eine molekulargenetisch analysiert, v. a. hinsichtlich des BDNF-Gens („brain-derived neurotrophic factor“), da ein Einbezug dieses Gens in die Deletion mit Adipositas und oft stärkerer geistiger Beeinträchtigung und Verhaltensauffälligkeiten (AD[H]D, obsessiv-zwanghaftes Verhalten, autismusähnlich) einhergeht (Daruich et al. 2022; Käsmann-Kellner und Seitz 2014a).
Alle Patienten zeigen eine partielle oder komplette Aniridie, und es fällt auf, dass bei den WAGR(O)-Patienten die typischen aniridiebezogenen Komplikationen (Katarakt, Sekundärglaukom, Limbusstammzellinsuffizienz mit vaskularisierten Hornhautnarben, Abb. 15) etwas früher und ausgeprägter als bei Patienten mit PAX6-Haploinsuffizienz einzutreten scheinen (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Krause et al. 2023). 6 Patienten weisen eine Myopia permagna auf, mit Z.n. ein- oder beidseitigen Amotiones. Bei 4 Patienten findet sich ein Zustand nach abgelaufenem Aniridie-Fibrose-Syndrom (AFS) mit Atrophia bulbi nach Operation einer kongenitalen Katarakt.
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Die Untersuchungsbedingungen bei WAGR(O)-Patienten sind deutlich erschwert durch die oft sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, Aggression und Weglauftendenzen. Dennoch benötigen gerade diese Kinder eine sehr genaue ophthalmologische Kontrolle, um nicht Gefahr zu laufen, ihr Restsehvermögen zu verlieren, was sich negativ auf ihre Entwicklung auswirken würde. Zudem ist eine enge Verzahnung mit der Kinderonkologie notwendig, um Wilms-Tumoren möglichst früh zu erkennen (Käsmann-Kellner und Seitz 2014a; Krause et al. 2023).
Nicht-PAX6-assoziierte Aniridien
Bei den nicht-PAX6-assoziierten Aniridien handelt es sich um Vorderabschnittsdysgenesien, die gehäuft mit Irisanomalien bis hin zur Aniridie einhergehen können. Die typischen o.g. Aniridie-Komplikationen, insbesondere die AAK, treten nicht auf, allerdings sind viele der nicht-PAX6-gebundenen Aniridien mit einem kongenitalen oder frühkindlichen Glaukom vergesellschaftet. Tab. 4 gibt einen Überblick über die wesentlichen Erkrankungen, die alle mit einer Aniridie auftreten können. Bei kongenital erhöhtem Druck findet sich häufig eine kongenitale Hornhauttrübung.
Tab. 4
Klinische Manifestation einer kompletten oder inkompletten Aniridie ohne PAX6-Assoziation (Auswahl). (Mod. nach Fitzpatrick und van Heyningen 2005; Käsmann-Kellner et al. 2019)
Wie oben ausgeführt, ist die Aniridie die Maximalform der iridotrabekulären Dysgenesien.
Weitere Vertreter der iridotrabekulären Dysgenesien (vgl. Tab. 1) sind das Embryotoxon posterior, die Axenfeld-Anomalie, die Rieger-Anomalie, die aufgrund ihrer vielfältigen Überlappungen auch Axenfeld-Rieger-Spektrum genannt werden. Auch das infantile Glaukom im Rahmen der CYP1B-Gen-Veränderung (siehe Tab. 1) gehört zu den iridotrabekulären Dysgenesien.
Embryotoxon posterior
Das posteriore Embryotoxon ist weit verbreitet und tritt bei etwa 15 % der allgemeinen Bevölkerung auf. Es gleicht einer cremeweißen Verdichtung und ist eine anteriore Verschiebung der Schwalbe-Linie, die sich am ehesten in der temporalen Hornhaut zeigt und in der Regel bilateral ist.
Der Begriff Toxon, abgeleitet vom griechischen Wort für Bogen, bezieht sich auf die Sichel der Schwalbe-Linie. Wenn sie allein vorhanden ist, hat sie keine funktionelle Bedeutung. Das Embryotoxon posterior (Abb. 17) liegt bei allen Patienten mit Axenfeld-Rieger-Spektrum vor.
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Axenfeld-Anomalie
Bei der Axenfeld-Anomalie handelt es sich um ein bilaterales hinteres Embryotoxon, das mit an der Schwalbe-Linie haftenden Irissträngen und oft Korektopie (Abb. 18) verbunden ist. Sie tritt sehr selten isoliert, öfter aber im Rahmen des Axenfeld-Rieger-Spektrums (ARS) auf.
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Anscheinend entstehen sowohl die Axenfeld- als auch die Rieger-Anomalie aus der Retention von Resten der Neuralleiste und des primordialen Endothels an der Regenbogenhaut und dem Kammerwinkel. Defekte in den Genen PITX2 und FOXC1 auf Chromosom 4q25 und im FKHL7-Gen auf 6p25 sowie andere Defekte wurden bei verschiedenen Patienten mit Axenfeld-Anomalie und bei Rieger-Anomalie gefunden.
Rieger-Anomalie
Die Rieger-Anomalie ist eine seltene, bilaterale, autosomal-dominant oder sporadisch auftretende Anomalie. Sie ist gekennzeichnet durch ein posteriores Embryotoxon mit anhaftenden Irissträngen und einer Stromahypoplasie der Iris. Es kann zu Pseudopolykorie, Korektopie und einem Ectropion uveae kommen (Abb. 19).
Die Differenzialdiagnose umfasst das iridokorneale-endotheliale Syndrom (das später manifestiert und in der Regel einseitig ist, s. unten), eine posteriore polymorphe Dystrophie mit iridokornealen Adhäsionen und das Iridogoniodysgenesiesyndrom.
Axenfeld-Rieger-Spektrum und Axenfeld-Rieger-Syndrom
Wie oben erwähnt, zeigen die Axenfeld- und die Rieger Anomalie viele Überlappungen, sodass man sie zum Axenfeld-Rieger-Spektrum (ARS [„dysgenesis mesodermalis corneae et iridis“]) klassifizierte (Fitzpatrick und van Heyningen 2005; Käsmann-Kellner et al. 2019; Neuhann und Neuhann 2023). Es handelt sich um eine tiefgreifende Störung der Morphogenese des Auges. Ursächlich sind v. a. pathogene Varianten in den Genen FOXC1 und PITX2 (Neuhann und Neuhann 2023).
Bei vielen dieser Patienten treten auch systemische Anomalien auf wie Zahnstellungsanomalien (Hypodontie, Mikrodontie, vgl. Abb. 20), Gesichtsfehlbildungen (Oberkieferhypoplasie, Telekanthus, Hypertelorismus), Gehirnfehlbildungen, Nabelrückbildungsstörungen und andere. Wenn dies der Fall ist, spricht man vom Axenfeld-Rieger-Syndrom.
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In der Regel ist das Axenfeld-Rieger-Spektrum bilateral, aber asymmetrisch (Abb. 21). Die Übertragung ist bei der Axenfeld-Rieger-Gruppe in der Regel dominant (75 %), kann aber auch sporadisch auftreten. Es gibt Hinweise darauf, dass ein Spektrum von Mutationen von Transkriptionsfaktoren in der Chromosomenregion 6p25, die als Forkhead-Gene bekannt sind, für viele Entwicklungsstörungen des vorderen Augenabschnitts verantwortlich sind (Käsmann-Kellner et al. 2019; Neuhann und Neuhann 2023). Die Gene auf den Chromosomen 4q25 und 6p25 wurden identifiziert. Das Gen auf Chromosom 4q25 (PITX2) kodiert für einen Bicoid-Homöobox-Transkriptionsfaktor. Wie PAX6 wird dieses Gen während der Entwicklung der Augen exprimiert und ist wahrscheinlich an deren Entwicklungsprozesse beteiligt. Das Gen FOXC1 (auch FKHL7 genannt) auf Chromosom 6p25 gehört zu einer Forkhead-Familie regulatorischer Proteine. FOXC1 wird während der Augenentwicklung exprimiert, und Mutationen verändern die Dosierung des Genprodukts. Es gibt Hinweise darauf, dass das FOXC1- und das PITX2-Protein während der Augenentwicklung interagieren.
Bei der Peters-Anomalie handelt es sich um eine weitere Erkrankung der mesenchymalen Dysgenese ohne systemische Manifestationen. Die meisten Fälle treten sporadisch auf, aber es gibt auch einen rezessiven und gelegentlich dominanten Erbgang. In 80 % der Fälle tritt die Erkrankung beidseitig auf. Die Erscheinungsformen sind unterschiedlich, wobei der klassische Typ 1 (vgl. Tab. 1 und Abb. 22) aus einer (para-)zentralen stromalen Hornhauttrübung und Irissträngen besteht, die von der Collarette ausgehen. Zu Beginn führt ein zentraler Endothel- und Descemet-Membran-Defekt zu einem ausgeprägten Hornhautödem; mit der Zeit kann sich das Endothel jedoch zentral regenerieren, und das Ödem kann sich zurückbilden.
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Es wurde eine Typ-2-Variante charakterisiert, bei der die Linse an der vorderen Hornhaut anhaftet. Typ 1 ist in der Regel unilateral, während Typ 2 häufig bilateral ist. Andere assoziierte Augenanomalien sind häufig ein Sekundärglaukom (in mehr als 50 % der Fälle), aber auch Mikrokornea, Cornea plana, Sklerokornea, chorioretinales Kolobom, Iriskolobom, Kammerwinkel- und Irisdysgenesie, persistierender hyperplastischer primärer Glaskörper, Mikrophthalmus, Hypoplasie des Sehnervs und Foveahypoplasie (Abb. 23) kommen vor.
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Die Pathologie der Peters-Anomalie zeigt ein Fehlen der zentralen Descemet-Membran und des Endothels, die sich im Laufe der Zeit regenerieren können. Weitere Merkmale sind Restfibrose im getrübten Stroma und das zentrale Fehlen der Bowman-Lamelle.
Bei der Peters-Anomalie sind v. a. die Gene TITX2 und PITX3 sowie FOXC1 beteiligt (vgl. Abb. 1).
Peters-Plus-Syndrom (Krause-Kivlin-Syndrom)
Zu den systemischen Assoziationen können Kleinwuchs, Gesichtsdysmorphie, Entwicklungsverzögerung, Syndaktylie, Anomalien des Urogenitaltrakts, Brachyzephalie, Anomalien des zentralen Nervensystems, Herzerkrankungen oder Taubheit und verzögerte Skelettreifung gehören. Sie bilden das autosomal-rezessive Krause-Kivlin-Syndrom oder Peters-Plus-Syndrom (Nischal 2015). Mutationen des FOXC1-, des PAX6- sowie des CYP1B1-Gens könnten für das Peters-Plus-Syndrom ursächlich sein (vgl. Abb. 23).
Behandlung der Peters-Anomalie und des Peters-Plus-Syndroms
Die Primärtherapie umfasst die Behandlung des Glaukoms, falls vorhanden. Eine perforierende Keratoplastik ist angebracht, wenn die Hornhauttrübung beidseitig ist. Diese hat eine schlechte Prognose (Reichl et al. 2018). Bei Augen mit lokalisierter zentraler Trübung und klarer mittlerer Peripherie kann die optische Iridektomie einen vereinfachten Zugang und visuell effektiven Verlauf bieten (Nauman et al. 1998; Nischal 2015; Reichl et al. 2018).
Primäres kongenitales Glaukom (PCG)
Die Inzidenz des PCG liegt zwischen 1 von 10.000 und 1 von 15.000 Lebendgeburten (Hoffmann 2020). Es liegt bei 70–80 % bilateral vor, Jungen sind häufiger betroffen. Das angeborene Glaukom ist eine genetisch heterogene Erkrankung, bei der sowohl über autosomal-rezessive (ca. 90 %) als auch autosomal-dominante Formen berichtet wurde. Es wurden 2 Gene, die für das autosomal-rezessive kongenitale Glaukom verantwortlich sind, identifiziert: CYP1B1, ein Mitglied der Zytochrom-P450-Familie von Proteinen und LTBP2 (Neuhann und Neuhann 2023). Es wird vermutet, dass die Folge eine abnormale Entwicklung des Schlemm-Kanals ist.
Im Allgemeinen liegt der horizontale Hornhautdurchmesser beim normalen Neugeborenen im Bereich von 10,0–10,5 mm und nimmt im Laufe des ersten Lebensjahres um 0,5–1,0 mm auf 11,0–11,5 mm zu. Bei Säuglingen mit primärem kongenitalem Glaukom betragen die Hornhautdurchmesser meist > 12 mm. Zudem besteht oft eine Asymmetrie > 1 mm zwischen beiden Hornhautdurchmessern (Abb. 24). Durch die noch dehnbaren Augenhüllen beim PCG kommt es zu einer axial verstärkten Längenwachstumszunahme mit deutlicher Myopisierung, die auch eine gute Kontrolle bei der Behandlung des PCG ergibt (Hoffmann 2020).
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Therapeutisch ist ausschließlich eine operative Intervention sinnvoll, so z. B. eine 360°-Trabekulotomie, bei nicht ausreichendem Effekt ggf. auch eine Klappenimplantation (Hoffmann 2020). Nicht selten sind auch nach erfolgter Operation noch drucksenkende Augentropfen notwendig.
Differenzialdiagnostisch ist eine Megalokornea in Betracht zu ziehen (Abb. 25). Sie ist definiert als eine beidseitige Vergrößerung des vorderen Segments mit einem horizontaler Hornhautdurchmesser von mehr als 12 mm bei der Geburt oder mehr als 13 mm nach einem Alter von 2 Jahren (Goebels et al. 2013). Am häufigsten sind Jungen betroffen, da diese Problematik mit Mutationen im CHRDL(Xq23)-Gen, das für Ventropin kodiert, in Verbindung gebracht wird. Iristransillumination und Linsensubluxation können vorkommen. Die Dichte der kornealen Endothelzellen ist normal, und dies bestätigt, dass die Vergrößerung nicht auf eine Dehnung der Hornhaut zurückzuführen ist. Klarheit und Dicke der Hornhaut sind in der Regel normal (Goebels et al. 2013).
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Mikrophthalmiesyndrome und Sklerokornea
Entwicklungsbedingte Hornhautanomalien zeigen sich bei der Geburt als Folge von genetischen, teratogenen oder idiopathischen Ursachen. In der 5. Schwangerschaftswoche, wenn sich das Linsenbläschen vom Oberflächenektoderm ablöst, wandert das Mesenchym der Neuralleiste zwischen dem Oberflächenektoderm und dem Sehnervenkopf ein. Die erste Welle an Mesenchym bildet das Hornhautendothel und das Trabekelwerk, die zweite Welle wird zu Hornhautkeratozyten und die dritte Welle zum vorderen Irisstroma (Käsmann-Kellner et al. 2019). Fehlentwicklungen in diesem Prozess führen zu Anomalien der Hornhautgröße, -form und -klarheit.
Der normale horizontale Hornhautdurchmesser beträgt bei der Geburt 9,5–10 mm und steigt auf 11–12,5 mm bis zum Erwachsenenalter. Eine erwachsene Hornhaut mit einem horizontalen Durchmesser von weniger als 10 mm wird als Mikrokornea bezeichnet und kann in Verbindung mit einem Mikrophthalmus auftreten (Käsmann-Kellner et al. 2019).
Mikrophthalmie und Sklerokornea treten oft im Rahmen einer Peters-Anomalie oder eines Peters-Plus-Syndroms auf (s. oben).
Die reine Sklerokornea ist nach Nischal (2015) als primäre angeborene Hornhauttrübung bei Entwicklungsanomalie nur der Hornhaut anzusehen (vgl. Tab. 1). Sie kann mit einem erheblichen Mikrophthalmus einhergehen (Abb. 26).
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Es gibt eine Vielzahl nur okulärer und syndromatischer Mikrophthalmiesyndrome (vgl. eine ausführliche Auflistung in Käsmann-Kellner et al. 2019). Sie werden auch als MAC-Spektrum (Mikrophthalmie, Anophthalmus, Kolobom) bezeichnet. Sie treten zwischen dem 30. und 40. Gestationstag auf, in der Zeitspanne, in der sich normalerweise die Augenbecherspalte schließt. Der Übergang zu Vorderabschnittsdysgenesien ist fließend, was insbesondere bei der Peters-Anomalie gut nachzuvollziehen ist.
Iridokorneoendotheliale SyndromeICE-Syndrome
Die iridokorneoendothelialen (ICE-) Syndrome betreffen typischerweise ein Auge bei Frauen > Männern mittleren Alters. Subklinische Unregelmäßigkeiten des Hornhautendothels finden sich jedoch oft am anderen Auge. Die ICE-Syndrome werden als primäre Neuralleistenpathologien angesehen. In einem erheblichen Prozentsatz der Fälle lässt sich mittels PCR in Hornhautproben Herpes-simplex-Virus-DNA nachweisen, was dafür spricht, dass die Erkrankung möglicherweise einen viralen Ursprung hat.
Zu den ICE-Syndromen zählen die 3 folgenden Formen (Ninios et al. 2011):
Ausmaß der Irisatrophie variabel und weniger schwerwiegend, leichte Korektopie möglich
Braune, gestielte Knötchen auf der vorderen Irisoberfläche
Hornhautödem und Sekundärglaukom
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Die gemeinsame pathologische Basis ist ein anormales Hornhautendothel, das die Fähigkeit zur Proliferation sowie zur Migration über den Kammerwinkel und auf die Irisoberfläche besitzt (sog. epitheloide ICE-Zellen, Ninios et al. 2011). Die ICE-Syndrome haben ein sehr hohes Risiko für ein Sekundärglaukom (50 %) mit erheblicher kornealer Dekompensation des betroffenen Auges. Das Glaukom entsteht als Folge eines Kammerwinkelverschlusses durch Synechien, die bei der Kontraktion des anormalen Gewebes entstehen (Ninios et al. 2011).
Eine klare Unterscheidung zwischen den Erkrankungen kann schwierig sein. Der Übergang von einem zum anderen Syndrom ist möglich. Die Unterscheidung hängt in erster Linie von den Irisveränderungen ab, allerdings gibt es viele Überschneidungen. Gonioskopisch sichtbare Veränderungen können bei manchen Patienten mit erhöhtem IOD sehr diskret sein, insbesondere im Frühstadium. Charakteristisch ist die Darstellung mittels Endothelzelldiagnostik. Beim häufigsten Chandler-Syndrom finden sich Hornhautendothelveränderungen, die gehämmertem Silber gleichen.
Zum Sekundärglaukom bei den ICE-Syndromen sei Folgendes angeführt (Ninios et al. 2011):
Eine medikamentöse Therapie kann versucht werden, ist aber häufig ineffektiv.
Keine Prostaglandine aufgrund der berichteten Verbindungen zwischen Herpesviren und dem ICE-Syndrom.
Eine Trabekulektomie mit Mitomycin C zeigt im Langzeitverlauf meist keinen Erfolg.
Therapie der Hornhautsituation: In der Frühphase kann ein Ödem mit lokalen hypertonen Elektrolytlösungen (ODM5, …) behandelt werden, später ggf. mit einer Hornhauttransplantation.
Prognose: Die Langzeitprognose ist stark limitiert.
Zusammenfassung
Bei Vorderabschnittsdysgenesien handelt es sich um ein breites Spektrum diverser Erkrankungen, die durch Störungen der Morphogenese der Augen in einem sehr frühen Gestationsalter (20.–45. Gestationstag) entstehen. Alle Vorderabschnittsdysgenesien können isoliert oder assoziiert mit syndromatischen Zeichen, v. a. fazial, zerebral, metabolisch und endokrinologisch, auftreten.
Man unterscheidet bei den Vorderabschnittsdysgenesien (ASD: „anterior segment dysgenesis“) nach Nischal (2015) die iridotrabekuläre Dysgenesie, deren Maximalform die kongenitale Aniridie ist. Zur keratoiridolentikulären Dysgenesie zählen die Peters-Anomalie und das Peters-Plus-Syndrom. Weitere Formen der ASD sind das primäre kongenitale Glaukom (PCG) sowie Mikrophthalmie- und Sklerokorneafehlbildungen. Es gibt vielfältige Überschneidungen zwischen den Typen.
Die kongenitale Aniridie ist die ausgeprägteste iridotrabekuläre Dysgenesie, die aufgrund genetischer Veränderungen im PAX6-Gen und der Progressivität der Erkrankung im Laufe des Lebens mittlerweile auch PAX6-Syndrom heißt, zumal sich häufig begleitende systemische Befunde finden. Die okulären Hauptkomplikationen sind die aniridieassoziierte Keratopathie (AAK), die zur kornealen Erblindung führen kann, das oft schwer einstellbare Sekundärglaukom mit möglicher absoluter Erblindung sowie Katarakte, die oft bereits im Kindesalter auftreten.
Das WAGR-Syndrom geht neben der Aniridie mit einem malignen Nephroblastom einher. Bis zum Ausschluss der zugrunde liegenden Mikrodeletion müssen alle 3 Monate Nierenultraschalluntersuchungen durchgeführt werden.
Allen Vorderabschnittsdysgenesien ist das Risiko des Sekundärglaukoms gemein. Die Tensio sollte bei allen ab dem Kleinkindesalter regelmäßig gemessen werden.
Operative Maßnahmen haben bei der Aniridie und den anderen Vorderabschnittsdysgenesien eine deutlich erhöhte Komplikationsrate und eine langfristig deutlich reduzierte visuelle Prognose. Chirurgische Interventionen sollten nur in Schwerpunktzentren mit viel Erfahrung in der Behandlung der Aniridie/PAX6-Syndroms und der anderen Vorderabschnittsdysgenesien durchgeführt werden.
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