Schielen ist definiert als das Abweichen der Sehachse eines Auges vom Fixationsobjekt – soweit es sich um die häufigsten Formen des horizontalen und vertikalen Strabismus (gr. strabos = verdreht) handelt. Bei der dritten Dimension des Schielens, der Zyklodeviation (Verrollungsschielen), ist das Auge um die Sehachse rotiert und die vertikalen Meridiane der Netzhaut sind nicht parallel. Zur genauen Befundbeschreibung eines Strabismus (Abschn. 2) sind zahlreiche Untersuchungen (Abschn. 6) notwendig, um die Erkrankung einer der sehr zahlreichen Diagnosen zuzuordnen (Abschn. 7).
Schielen ist definiert als das Abweichen der Sehachse eines Auges vom Fixationsobjekt – soweit es sich um die häufigsten Formen des horizontalen und vertikalen Strabismus (gr. strabos = verdreht) handelt. Bei der dritten Dimension des Schielens, der Zyklodeviation (Verrollungsschielen), ist das Auge um die Sehachse rotiert und die vertikalen Meridiane der Netzhaut sind nicht parallel. Zur genauen Befundbeschreibung eines Strabismus (Abschn. 2) sind zahlreiche Untersuchungen (Abschn. 6) notwendig, um die Erkrankung einer der sehr zahlreichen Diagnosen zuzuordnen (Abschn. 7).
Konkomitantes Schielen („Begleitschielen“) bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem der Schielwinkel in alle Blickrichtungen gleich ist. In fast allen Fällen liegt daher eine freie, unauffällige Beweglichkeit beider Augen vor. Konkomitantes Schielen ist die mit Abstand häufigste Form des Schielens im Kindesalter.
Inkomitantes Schielen hingegen bezeichnet einen Strabismus, dessen Schielwinkel sich in verschiedene Blickrichtungen ändert. Ursächlich ist dabei eine Bewegungsstörung eines oder beider Augen. Informationen hierzu finden sich in den Kap. „Kongenitale Augenbewegungsstörungen“, Kap. „Hirnnervenparesen“ und Kap. „supranukleäre Okulomotorikstörungenund myogene Augenbewegungsstörungen“.
Die genaue Anamnese, Untersuchung und Diagnose jedes Patienten sind essenziell, um:
eine selten notwendige neurologische Abklärung zu veranlassen
eine optimale Therapie festzulegen, inkl. Zeitpunkt einer evtl. Schieloperation
die Prognose zu erkennen, besonders bezüglich des zu erwartenden Binokularsehens
Hierfür ist es besonders hilfreich, neben dem orthoptischen Befund folgende Faktoren zu beachten:
Alter bei Schielbeginn: im 1. Lebensjahr, im 2. bis ca. 8. Lebensjahr oder erst im Jugend- oder Erwachsenenalter
Ausführliche Darstellungen zum Strabismus, seiner Diagnostik und Therapie finden sich bei (Neugebauer et al. 2023; Steffen und Kaufmann 2020).
Glossar
„→“ bedeutet „siehe auch“
Abduktion
Rotation eines Auges um die vertikale Rotationsachse, bei der die Sehachse sich von der Gesichtsmitte entfernt. → Duktion
Adduktion
Rotation eines Auges um die vertikale Rotationsachse, bei der die Sehachse sich zur Gesichtsmitte hinbewegt. → Duktion
Alternierend
Bezeichnet ein manifestes Schielen, bei dem der Patient zeitweise mit dem rechten, zeitweise mit dem linken Auge schielt, d. h., er wechselt spontan von der Links- auf die Rechtsfixation und zurück.
Asthenopie
Kopfschmerzen oder rasche Ermüdbarkeit, Druckgefühl der Augen, z. B. durch falsche Brille oder latentes Schielen
Begleitschielen
= konkomitantes Schielen
Binokulares Einfachsehen (BES)
Sehakt, bei dem der Seheindruck beider Augen ohne Diplopie oder Konfusion wahrgenommen wird. BES erfordert Simultansehen und Fusion. Stereopsis muss nicht vorhanden sein. Einfachsehen mit Suppression fällt nicht unter BES.
BES-Feld = Blickfeld, in dem BES besteht = Fusionsblickfeld
Binokularsehen
Verarbeitung der Seheindrücke beider Augen
• pathologisch
→ Diplopie, Konfusion
→ Suppression
→ Anomale Netzhautkorrespondenz
Meist verwendet für:
• physiologisch 3 aufeinander aufbauende Stufen:
→ Simultansehen
→ Fusion
→ Stereosehen
Blickrichtung
Bezeichnet die Richtung der Sehachse bezogen auf die Kopfmittelline
Deorsoadduktion
In Adduktion zunehmende Hypodeviation. Rein deskriptiv, keine Diagnose
Deviation
Jegliche Form des Strabismus: d. h. → manifest (Tropie) oder → latent (Phorie)
Diplopie
Doppelbildwahrnehmung. Patienten mit manifestem Schielen ohne Suppression nehmen zwei versetzte Bilder wahr. Diese binokularen Doppelbilder müssen von monokular wahrgenommenen Doppelbildern unterschieden werden (z. B. durch Refraktionsfehler).
Diplopie bezeichnet die subjektive Wahrnehmung eines Objektes an zwei verschiedenen Orten – im Gegensatz zur → Konfusion, die die Wahrnehmung zweier verschiedener Objekte am selben Ort (Überlagerung der jeweils foveal projizierten Bilder) beschreibt
Dissoziierte Vertikaldeviation, DVD
Meist Höherstand des nicht fixierenden Auges, ohne dass bei Fixation mit diesem Auge dann das andere Auge entsprechend tiefer steht. Zeichen gestörten Binokularsehens bei frühkindlichem Schielen
Divergenz
→ Vergenz
Disjugiert
Lat.: disiunctus, getrennt. Bewegung beider Augen in verschiedene Richtungen, z. B. gegensinnige Bewegung. → Vergenz. Gegenteil: → konjugiert
Duktion
Rotationen eines einzelnen Auges: Adduktion (zur Körpermitte hin), Abduktion (von der Körpermitte weg), Supraduktion (Hebung, Elevation), Infraduktion (Senkung, Depression)
Zur Beschreibung der beidäugigen Bewegungen: → Version, → Vergenz
Eso-
Innenschielen, Strabismus convergens (s. -tropie, -phorie)
Esophorie
Latentes Innenschielen, kann Asthenopie und bei Dekompensation Doppelbilder verursachen
Esotropie
Manifestes Innenschielen. Verursacht im Erwachsenenalter beginnend meist Doppelbilder, bei Kindern meist die Suppression des Schielauges, was zur Amblyopie und reduzierter Stereopsis führt
Exo-
Außenschielen, Strabismus divergens (s. -tropie, -phorie)
Exophorie
Latentes Auswärtsschielen, kann Asthenopie und bei Dekompensation Doppelbilder verursachen
Exotropie
Manifestes Auswärtsschielen
Exzyklo-
Stellung/Rotation um Sehachse, wobei der obere Augenpol temporal verlagert ist/bewegt wird
Fixieren
Ausrichten der Sehachse auf das zu betrachtende Objekt, durch Augenbewegungen. Nicht verwechseln mit → Fokussieren
Fokussieren
Scharfstellen des Netzhautbildes durch Akkommodation. Nicht verwechseln mit → Fixieren
Fusion
Zweite Stufe des → Binokularsehens: Verschmelzung der Seheindrücke beider Augen zu einem Bild (zyklopische Wahrnehmung). Die Fusion hat einen motorischen Anteil (Ausrichten der Sehachsen beider Augen auf das Fixationsobjekt durch → Vergenz) und einen sensorischen Anteil (neuronale Verschmelzung der Bilder)
Höherstand
Begriff sollte vermieden werden, → Tieferstand
Hyper-/Hypotropie
Manifeste vertikale Schielstellung, bei der die Sehachse des schielenden Auges nach oben/unten weist. Nicht zu verwechseln mit → Bulbusverlagerung nach oben/unten
Hypertropie RA ≙ Hypotropie LA nach Führungswechsel ≙ + VD
Hypotropie RA ≙ Hypertropie LA nach Führungswechsel ≙ − VD
(→ Vertikaldeviation)
Inkomitant
Bezeichnet ein Schielen, bei dem der Winkel sich in verschiedene Blickrichtungen ändert. Tritt auf bei Schielformen mit pathologischer Motilität („Lähmungsschielen“). Gegenteil von → konkomitant
Inzyklo-
Stellung/Rotation um Sehachse, wobei der obere Augenpol nasal verlagert ist/bewegt wird
Konfusion
SubjektiveWahrnehmung, die ein Patient mit manifestem Schielen ohne Suppression haben kann. Hierbei nimmt er zwei Gegenstände am selben Ort wahr, da die Sehachsen beider Augen auf unterschiedliche Objekte gerichtet sind. Häufiger beschreiben Patienten allerdings! Diplopie: Sie nehmen ein Objekt an zwei verschiedenen Orten wahr
Lat.: comitatus → begleitet. Bezeichnet ein Schielen, bei dem der Winkel in alle Blickrichtung gleich groß ist (Begleitschielen). Tritt auf bei Schielformen mit normaler oder (seltener) symmetrisch eingeschränkter Motilität. Gegenteil: → inkomitant
Konsekutiver Strabismus
Eine Schielstellung, die entweder spontan oder (häufiger) nach einer Operation ihre Richtung umgekehrt hat, z. B. eine Exotropie, nachdem früher eine Esotropie bestand
Konvergenz
→ Vergenz
Latent …
Lat.: verborgen sein. In der Strabismologie: Befund, der erst durch Unterbrechung der binokularen Sehweise (z. B. beim Abdecken eines Auges) sichtbar bzw. verstärkt wird (z. B. latentes Schielen, latenter Nystagmus). Gegenteil: manifest
Manifest
Lat.: manifestus = handgreiflich (sichtbar)gemacht. Strabismus, der auch ohne künstliche Unterbrechung der Fusion (z. B. Abdecken eines Auges) vorhanden ist. Gegenteil: → latent
Monoblepsie
Gr.: Sehen mit einem Auge. Schließen eines Auges zur Vermeidung von Doppelbildern oder anderen binokularen Sehbeschwerden; im Gegensatz zum Blepharospasmus, der durch einen Reiz oder eine Überinnervation des M. orbicularis verursacht wird
Nahtrias
Physiologische Naheinstellungsreaktion: Kombination aus → Akkommodation, → Konvergenz und → Miosis. Die Kopplung dieser drei Aspekte ist für die strabismologische Diagnostik von großer Bedeutung
Ortho-
Gr..: gerade, richtig. Bezüglich der Stellung der Augen:
Orthotropie = Abwesenheit von manifestem Schielen
Orthophorie = Abwesenheit von latentem Schielen
-phorie
Gr.: getragen werden
→ latentes Schielen. Die Vorsilbe zeigt jeweils die Richtung an: Eso- bzw. Exophorie. Bei vertikalem Schielen: „positive (negative) Vertikalphorie“. Gegenteil: -tropie = manifestes Schielen
Primärposition (PP)
Blickrichtung geradeaus, d. h. auf ein Fixationsobjekt auf der Gesichtsmittellinie. → Sekundär-, → Tertiärposition
Prismendioptrien (Pdpt, PD)
Maßeinheit für die Ablenkung eines Lichtstrahles durch Prismen. 1 Pdpt = 1 cm/m ≈ 0,57° oder ungefähr: 2 Pdpt = 1°
Räumliches Sehen
3-dimensionale Raumwahrnehmung. Setzt sich zusammen aus:
• parallaxe (relative Bewegung der Sehobjekte bei Kopfbewegungen)
• akkommodation und Vergenzstellung der Augen
• stereopsis (feinste Auflösung des räumlichen Sehens durch Verarbeitung binokularer Informationen)
Sensorischer Strabismus
Strabismus aufgrund einer primären Sehstörung (Visusverlust, Gesichtsfeldausfall), der meist durch eine organische Störung am Auge oder der Sehbahn bedingt ist, selten durch Amblyopie. Der Begriff sekundärer Strabismus ist nicht ausreichend spezifisch und würde auch Motilitätsstörungen einschließen.
Sekundärposition
Blickrichtung in die vier Hauptrichtungen (rechts, links, auf und ab) bezogen auf die Gesichtsmittellinie. → Primär- → Tertiärposition
Simultansehen
Erste Stufe des Binokularsehens: gleichzeitige Wahrnehmung der Seheindrücke beider Augen
Stereosehen
Stereopsis
Höchste Stufe des Binokularsehens: Fähigkeit des Gehirns, aus den minimal unterschiedlichen Seheindrücken beider Augen (querdisparate Bilder) die Distanz zu Objekten in Richtung der Sehachse zu erkennen. Feinste Auflösung des → räumlichen Sehens
Suppression
Kortikale Unterdrückung des Seheindrucks eines Teiles des Gesichtsfeldes eines Auges zur Vermeidung von Diplopie oder Konfusion. Findet teilweise auch beim physiologischen Sehen statt
Pathologisch kann es bei manifestem Schielen oder sehr asymmetrischer Bildqualität im frühen Kindesalter zur Vermeidung von Diplopie gelernt werden und zur Amblyopie führen
Sursoadduktion
In Adduktion zunehmende Hypodeviation. Rein deskriptiv, keine Diagnose
Tertiärposition
Blickrichtung in die vier schrägen Richtungen (rechts oben, links oben, rechts unten und links unten bezogen auf die Gesichtsmittellinie. → Primär-, → Sekundärposition
Tieferstand
Begriff sollte vermieden werden, da er nicht eindeutig zwischen → Bulbusverlagerung nach inferior (z. B. Orbitatumor) und Hypotropie (Schielstellung) unterscheidet
-tropie
Gr.: Wendung
→ manifestes Schielen, Vorsilbe beschreibt die Richtung: z. B. Esotropie = manifestes Innenschielen
Gegenteil: -phorie = latentes Schielen
Vergenz
Gegenläufige (disjugierte) Bewegung beider Augen. Bei der Konvergenz bewegen sich die Sehachsen aufeinander zu und schneiden sich näher am Auge. So werden Objekte in der Nähe fixiert. Die Divergenz ist die gegengesetzte Bewegung, die Sehachsen laufen in der Horizontalen auseinander. → Version, → Duktion
= VD = Höhenschielen. Abweichen der Sehachse des schielenden Auges nach oben oder unten.
+ VD = positive VD: Die Sehachse des rechten Auges weist höher als die des linken Auges, „rechts über links“ = „R/L“
-VD = negative VD: Die Sehachse des rechten Auges weist tiefer als die des linken Auges, „links über rechts“ = „L/R“
(→ Hyper-/Hypotropie)
Pathophysiologie/Ursachen
Die Tabelle Tab. 1 zeigt verschiedene Aspekte, die bei der Entstehung eines konkomitanten Strabismus eine Rolle spielen. Inkomitantes Schielen wird durch Bewegungsstörungen verursacht (s. dort). Bei einzelnen Patienten können auch verschiedene Aspekte bei der Entstehung seines Schielens zusammenkommen.
Tab. 1
Schematische Übersicht möglicher Ursachen von konkomitantem Strabismus
Im Gegensatz zu den kongenitalen Motilitätsstörungen, die häufig eine monogene Vererbung mit meist autosomal dominantem Erbgang zeigen (Graeber et al. 2013; Whitman und Engle 2017), findet sich beim konkomitanten Schielen z. T. auch eine familiäre Häufung, aber keine monogene Vererbung.
Bei der häufigsten Schielform, dem frühkindlichen Schielsyndrom, zeigen 10–30 % der Kinder von Eltern mit dieser Schielform ebenfalls eine Esotropie, bei eineiigen Zwillingen beträgt die Konkordanzrate sogar 70 %. Es wird eine multifaktorielle oder kodominante Vererbung angenommen. Außer einem STBMS1-Gen (auch Chromosom 7) sind bisher noch keine weiteren Gene identifiziert.
Auch bei der akkommodativen Esotropie zeigt sich häufig eine positive Familienanamnese. Ursächlich ist hier natürlich die hohe Hyperopie als entscheidender Risikofaktor.
Bei der kindlichen Exotropie scheinen Umweltfaktoren eine größere Rolle zu spielen (Maconachie et al. 2013; Ye et al. 2014).
Organische Augenerkrankungen sind der namensgebende Risikofaktor für den sensorischen Strabismus. Auch findet sich bei Kindern mit Z. n. Frühgeburt, Retardierung oder syndromalen Erkrankungen eine auf 20 % bis > 50 % erhöhte Wahrscheinlichkeit für Strabismus.
Klinik: Folgen des Schielens
Die Folgen von Strabismus können sehr vielfältig sein und sind in hohem Maße vom Alter abhängig, in dem das Schielen auftritt. Wegen der Vielfältigkeit der möglichen Beschwerden und da die Eltern diese oft nicht erkennen oder der Patient manche gar nicht selbst wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann, ist es wichtig, als Behandler bei jedem Patienten individuell nach allen möglichen Folgen zu fragen und auch zu untersuchen. Nur so kann eine optimale Behandlungsstrategie erarbeitet werden (Abschn. 8).
Psychosoziale Aspekte
Die psychosoziale Belastung durch ein störend auffallendes Abweichen eines Auges stellt ein sehr häufiges Symptom des Schielens dar. Strabismus kann bei der orthoptischen Untersuchung schon bei kleinsten Winkeln ab 0,5° erkannt werden. Im sozialen Kontakt fällt manifestes Schielen meist erst ab 8° Schielwinkel auf. Es ist ein Faktor, der den Blickkontakt, die soziale Interaktion und das Selbstwertgefühl stark stört.
Strabismus ist im europäischen Kulturkreis negativ belegt. Er mindert das Selbstwertgefühl, die Chancen, einen Partner oder eine Arbeitsstelle zu finden (Dohlman et al. 2023). Es handelt sich nicht um ein „kosmetisches“ Problem, denn bei der Kosmetik werden gesunde Körperteile durch Auftragen von Farben wie z. B. Lippenstift oder operative Verkleinerung oder Vergrößerung „verschönert“. Schielen ist ein krankhafter Zustand und der Wunsch des Patienten ist immer eine Verkleinerung des Schielwinkels – nie Vergrößerung.
Erst ab dem 7. Lebensjahr empfinden auch Kinder Schielen als negativ und laden signifikant weniger Schieler zu ihrer Geburtstagsfeier ein (Mojon-Azzi et al. 2011). Daher sollte ein sichtbarer Strabismus spätestens vor der Einschulung korrigiert werden.
Neben diesen psychosozialen Folgen kann Schielen auch zahlreiche funktionelle Störungen verursachen:
Amblyopie
Schielen, das im Vorschulalter (selten bis 10 Jahre) auftritt und ein strenges Führungsverhalten zeigt, führt zur Suppression und Amblyopie des schielenden Auges, vgl. hierzu Kap. Visuelle Entwicklung und Amblyopie, des manifest schielenden Auges. Spontan alternierende Fixation und zeitweise Fusionsfähigkeit sind protektive Faktoren. Die Tiefe einer Amblyopie ist hingegen nicht entscheidend von der Größe des Schielwinkels abhängig, da Suppression ein digitales Phänomen ist.
Reduziertes Binokularsehen
Schielen, das im frühen Kindesalter auftritt, führt zu einer gestörten oder gar ganz ausbleibenden Entwicklung des Stereosehens aufgrund der Suppression, die in den ersten Lebensjahren gelernt werden kann. Beim frühkindlichen Schielsyndrom wird sogar diskutiert, ob eine kongenitale Störung der Fusionsfähigkeit (und damit Stereofähigkeit) ursächlich ist für das Entstehen der Schielstellung.
Bei Mikrostrabismus entsteht eine sog. anomale Korrespondenz. Entgegen früheren Annahmen ist diese nicht erfolgreich therapierbar und darf auch nicht mit Prismen behandelt werden.
Diplopie, Konfusion
Diplopie und Konfusion sind beim Schielbeginn im Erwachsenenalter die störendsten Aspekte für den Patienten. Tritt Schielen erst im höheren Alter auf, setzt Suppression nicht sofort ein oder kann im Jugend- und Erwachsenenalter gar nicht mehr gelernt werden. Die Folge ist die Wahrnehmung zweier Bilder, die nicht mehr fusioniert werden können.
Meistens berichten die Patienten von Doppelbildern, d. h., ein Gegenstand wird an zwei verschiedenen Orten wahrgenommen. Das gezielte Greifen und die Orientierung im Raum sind sehr gestört. Dies kann auch bei Kindern beobachtet werden, wenn Schielen z. B. mit 3 Jahren auftritt und sie das Gesehene noch nicht verbalisieren können. Oft bemerken die Eltern auch ein Zukneifen eines Auges zum Vermeiden des sehr störenden Seheindrucks (Monoblepsie). In diesem Alter kann die Suppression noch sehr schnell gelernt werden und das Verhalten des Kindes ist nach 1–3 Tagen wieder völlig unauffällig, da die Doppelbilder verschwunden sind und der Verlust der Stereopsis sich im Verhalten nur sehr dezent zeigt.
Andere Patienten nehmen die beiden Bilder mehr als Konfusion wahr. Das Gehirn nimmt Gegenstände, die auf die Fovea projiziert werden, als „geradeaus gelegen“ wahr. Die Fovea des Schielauges betrachtet aber einen anderen Gegenstand als das Führungsauge, sodass der Patient zwei Gegenstände am selben Ort wahrnimmt. Dies stört insbesondere z. B. beim Lesen, da die Buchstaben nicht mehr den einzelnen Worten zugeordnet werden können.
Diplopie und Konfusion sind somit zwei Sichtweisen desselben Phänomens: Simultansehen ohne Fusion.
Kopfzwangshaltung
Kopfzwangshaltungen als Folge von Strabismus findet sich meist bei inkomitantem Schielen. Die Motilitätsstörung führt dazu, dass der Schielwinkel beim Blick in die Richtung der Einschränkung zunimmt, beim Blick zur Gegenseite abnimmt. Ist der Winkel dort so gering, dass Fusion möglich ist, nutzt der Patient diese Blickrichtung, um Diplopie zu vermeiden, und dreht den Kopf entsprechend in die Gegenrichtung, um geradeaus schauen zu können. Er wird also den Kopf in Richtung des Motilitätsdefizits drehen, heben oder senken.
Bei konkomitantem Schielen ist eine Kopfzwangshaltung selten. Zum einen kann sie in Form der Kreuzfixation beim frühkindlichen Schielsyndrom auftreten (Abschn. 7.1.1). Zum anderen dient sie zur Reduktion des horizontalen Schielwinkels bei Alphabetphänomen: z. B. eine Kinnhebung bei einer V-Exotropie, da im Abblick das Außenschielen geringer ist.
Asthenopie
Bei latentem Schielen kann es zu schwieriger Fusion kommen, die im Laufe des Tages Anstrengung, Druckgefühl oder Kopfschmerzen verursachen. Dies wird eher von Teenagern und Erwachsenen beklagt.
Sonstige Folgen von Strabismus
Einige Patienten nehmen binokulare Doppelbilder nicht als solche wahr, sondern berichten unspezifisch über „schlechtes“ = „unscharfes“ Sehen. Echte Visusminderungen können aber neben der Amblyopie auch über inadäquate Akkomodation entstehen beim Versuch, Fusion zu erhalten und Diplopie zu vermeiden. Diese Patienten mit latentem Außenschielen haben dann unter binokularen Bedingungen einen schlechteren Visus als monokular.
In seltenen Fällen nutzen manche Patienten mit einer Exophorie den Nahreflex zur Kompensation. Neben der gewünschten Konvergenz führt aber die Akkommodation zu einer Myopisierung und folgenden Visusreduktion insbesondere bei Fernblick. Dieser unphysiologische Kompensationsmechanismus stellt oft eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar.
Eine weitere seltene Visusminderung – dann aber besonders beim Blick in die Nähe – können Patienten mit einer Esophorie oder einem akkommodativem Konvergenzexzess erfahren. Um die zusätzliche mit der Akkommodation assoziierter Konvergenz und damit Dekompensation der Esophorie zu meiden, verzichten Sie auf die Akkommodation. Diese Patienten sind beim Lesen durch unscharfes Einfachsehen weniger gestört als durch Diplopie mit scharfen Bildern.
Suppression betrifft nicht das gesamte Gesichtsfeld des Schielauges, sondern nur die Bereiche, in denen die Gesichtsfelder beider Augen sich überlappen. Daher haben Patienten mit Strabismus divergens intermittens ein größeres horizontales binokulares Gesichtsfeld (Panoramasehen), was die Patienten auch subjektiv schätzen bzw. vermissen, wenn der Schielwinkel operativ verkleinert wurde. Patienten mit großer Esotropie hingegen haben ein kleineres horizontales binokulares Gesichtsfeld. Für den Patienten zusätzlich störend wird die Situation, wenn auch das Blickfeld durch eine Motilitätsstörung eingeschränkt ist.
Einige Patienten, die frei alternieren können, sind durch den Bildsprung beim unwillkürlichen Fixationswechsel stark gestört.
Diagnostik
In den ersten Lebensmonaten muss die koordinierte Bewegung beider Augen gelernt werden. In dieser Zeit kann ein zeitweises Schielen beobachtet werden, das sog. Babyschielen.
Die Charakteristika des physiologischen Babyschielens sind:
nur in den ersten 3 Lebensmonaten vorhanden
intermittierend
Sekunden andauernde Konvergenz oder kleinwinklig
freie Motilität der Augen
Wenn eins dieser Kriterien nicht erfüllt ist, muss eine orthoptische/augenärztliche Untersuchung erfolgen.
Pseudostrabismus
Anders als beim Babyschielen, das ja eine echte, wenn auch nur temporäre, Abweichung der Sehachse darstellt, liegt beim Pseudoschielen keine Abweichung der Sehachsen vor: Das Stereosehen ist normal und der Abdecktest zeigt keine Einstellbewegung. Der vermeintliche Aspekt eines Schielens wird verursacht durch anatomische Auffälligkeiten:
Unter Umständen werden die Kinder auch vorgestellt, weil die Eltern ein intermittierendes Schielen beobachten, das sich beim Arztbesuch dann nicht zeigt.
Da Kinder mit Pseudostrabismus ein höheres Risiko für echten Strabismus und Amblyopie haben (Ryu und Lambert 2020), ist bei Vorliegen eines Pseudostrabismus eine vollständige orthoptische und ophthalmologische Untersuchung inklusive Refraktometrie in Zykloplegie notwendig. Auch sollte bei orthoptisch unauffälligem Befund eine Wiedervorstellung z. B. nach einem Jahr erfolgen.
Orthoptische Untersuchung
Bei der orthoptischen Untersuchung ist darauf zu achten, nicht gleich mit der Okklusion eines Auges zu beginnen (z. B. Abdecktest oder Visusbestimmung), sondern den Patienten zunächst zu beobachten und die Stereofunktionen zu prüfen. Durch eine zu frühe Okklusion könnte nämlich ein latentes Schielen dekompensiert und fälschlicherweise als Tropie gesehen werden.
Die Inspektion aus einem Meter Abstand ermöglicht die Beurteilung von:
Kopfzwangshaltung
Führungsverhalten bei großwinkligem Schielen
Monoblepsie oder andere Vermeidung von Doppelbildern
schätzen des Schielwinkels anhand der Hornhautreflexe (Hirschberg-Test, 1 mm ≈ 13°)
Skiaskopie in Miosis ermöglich, grobe Refraktionsfehler oder Medientrübungen zu erkennen
Zur Untersuchung der Binokularfunktionen eignen sich:
Bagolini-Schweiftest (in Ferne und Nähe) erlaubt die Bestimmung von Suppression, Simultansehen, Fusion, Suppressionsskotome, Diplopietest mit leichter Dissoziation
Titmus-Stereotest (prüft lokale Stereopsis, d. h., Objekte werden auch monokular, aber eben flach erkannt): Fliege-Greifprobe: sehr grob, Tierreihe: grobe Stereopsis, Ringe: quantifizierbare bis sehr feine Stereopsis
Lang-Stereotest: prüft die anspruchsvolle globale Stereopsis, d. h., das Gehirn muss zunächst den Querversatz der Punktwolke erkennen und sieht erst dann die Objekte. Im Gegensatz zum Titmus-Test wird der Random-dot-Stereotest bei anomaler Netzhautkorrespondenz und Mikrostrabismus fast nie erkannt
Abdecktest (Covertest) erkennt die Richtung des Schielens auch bei kleinem Winkel (0,5°). Durchführung bei Fixation auf Licht in Ferne und kleines Objekt mit Akkommodation auslösenden Details (nicht nur Lichtquelle) in der Nähe. Durchführung in Primärposition (PP, Geradeausblick) und Sekundärposition (Seit-, Auf- und Abblick):
einseitiger Abdecktest: wenn Einstellbewegung bei Abdecken des Führungsauges, liegt manifestes Schielen vor. Wieder beide Augen freigeben und mehrfach wiederholen am RA und LA erlaubt. Bestimmen des Führungsverhaltens, evtl. V. a. Amblyopie
Aufdecktest: Abweichen des Auges unter dem Cover bei latentem Schielen. Refusionsbewegung bei Wiederfreigabe beider Augen. Erlaubt die Bestimmung der Fusionsfähigkeit, Kompensation, dominantes Auge bei Sakkade beider Augen vor der langsamen Fusionsbewegung
alternierender Abdecktest: Im Sekundenrhythmus wechselndes Abdecken des rechten und linken Auges unterbricht dauerhaft die Fusion. Erkennt die Summe aus latentem und manifestem Schielwinkel. Keine Unterscheidung zwischen latentem und manifestem Schielen möglich. Kein Beurteilen des Führungsverhalten oder der Kompensationsfähigkeit. Bei längerem Alternieren evtl. zunehmende Dekompensation der latenten Komponente durch zunehmende Amplitude der Einstellbewegung erkennbar. Bei fehlender Einstellbewegung ist schnell der Normalbefund erhebbar.
Die objektive Winkelmessung (Tab. 2) erfolgt durch Verfahren, bei denen der Untersucher (oder selten ein Gerät) seine Beobachtungen zur Winkelbestimmung herzieht. Die Mitarbeit des Patienten beschränkt sich auf die Fixation eines Objektes. Im Gegensatz zu subjektiven Verfahren ist kein Simultansehen erforderlich. Die Verfahren können auch bei Suppression (sehr häufig bei kindlichem Schielen) angewandt werden.
Tab. 2
Objektive Winkelmessung
Verfahren
Voraussetzung
Genauigkeit
Fehlerquellen
Ab … [Alter]
Inspektion
Bei blinden Augen möglich
Grobes Schätzen des manifesten Winkels
Lid-Gesichtsasymmetrien
0 J
Hornhautreflex
Bei blinden Augen möglich
Etwas genaueres Schätzen des manifesten Winkels
ab ca. 8° möglich
Winkel Kappa
Anomalie des vorderen oder hinteren Augenabschnittes (z. B. Makulaektopie)
0 J
Prismen-Abdecktest
Jedes Auge muss Fixieren können
Genaue Messung ab 0,5°
Trennt manifesten und latenten Winkel
Exzentrische Fixation
2–3 J
Die subjektive Winkelmessung erfordert mehr Mitarbeit vom Patienten, da er angibt, wie groß der subjektiv wahrgenommene Abstand ist zwischen den Bildern, die vom rechten und linken Auge wahrgenommen werden. Sie ist ab ca. 6–8 Jahren möglich. Voraussetzung ist, dass der Patient Simultansehen hat, d. h., bei Vorliegen von Suppression ist sie nicht möglich (z. B. beim frühkindlichen Schielsyndrom). Bei anomaler Netzhautkorrespondenz ergeben sich von objektiven Verfahren meist abweichende Messungen. Die Trennung der Seheindrücke beider Augen (Dissoziation) erfolgt mit:
Hellrotglas: etwas Fusion möglich, daher Bestimmung manifester Winkel, z. B. misst das Maddox-Kreuz horizontale und vertikale Winkel
Dunkelrotglas: keine Fusion möglich, daher immer Summe manifester + latenter Winkel, z. B. Tangententafel nach Harms: Bestimmung von Horizontal-, Vertikal- und Zyklodeviation bei Fixation in 2,5–3 m Abstand, Messung in 9 Blickrichtungen definierten Ausmaßes, numerische Darstellung der Messwerte
Rotgrünbrille: Hess-, Lancaster- oder Lee-Schirm. Abstand 0,5–2 m, grafische Darstellung der horizontalen und vertikalen Abweichung
Die Motilität der Augen ist bei konkomitantem Strabismus definitionsgemäß in alle Richtungen frei. Im Gegensatz zum inkomitanten Strabismus sind die monokularen Exkursionen regelrecht.
Bei der binokularen Prüfung der Motilität kann unter Umständen ein V- oder A-Phänomen sowie eine Surso- oder Deorsoadduktion beobachtet werden (Abschn. 2).
Bei einigen Diagnosen können typische Zusatzbefunde beobachtet werden:
Die Visusprüfung sollte in der Regel erst nach der Inspektion und Beurteilung der Binokularfunktion sowie Abdecktest erfolgen, um nicht durch lange Okklusion einen latenten Strabismus dekompensieren zu lassen oder die Mitarbeit von Kindern mit der Visusprüfung schon überzustrapazieren. Besteht hingegen ein großwinkliger manifester Strabismus, kann die Visusprüfung auch schon nach der Inspektion erfolgen, insbesondere, wenn die Fixation nicht gut aufgenommen wird.
Bei einigen Patienten ist die Prüfung auch des binokularen Visus notwendig, z. B. bei schlecht kompensierten Phorien oder Nystagmus.
Organbefund
Die Erhebung des Organbefundes ist bei allen Schielpatienten wichtig, um Ursachen für einen evtl. sensorischen Strabismus oder eine Visusminderung als DD zur Amblyopie zu erkennen. Leicht übersehen werden dezente Optikushypoplasien, weshalb der „swinging flashlight test“ immer erfolgen sollte. Im Zweifel hilft auch ein OCT der retinalen Nervenfaserschicht.
Bei inkomitantem Strabismus ist insbesondere auch auf Hinweise für orbitale Erkrankungen zu achten.
An der Bindehaut können Narben Hinweise darauf geben, welche Augenmuskeln in der Vergangenheit schon operiert wurden.
Objektive Refraktion in Zykloplegie
Um refraktive Einflüsse auf den Strabismus beurteilen und b. B. behandeln zu können, ist bei allen Patienten die objektive Refraktion in Zykloplegie und der Vergleich mit der getragenen Brille zwingend erforderlich. Bei kleinen Kindern und zur Reduktion einer Geräteakkommodation ist hier die Skiaskopie automatischen Refraktometern überlegen. Um die Akkommodation auch unter Zykloplegie so weit wie möglich zu reduzieren, ist es angeraten bei weitsichtigen Patienten die Skiaskopie „über die Brille“ durchzuführen. Hierdurch ist es auch möglich, schnell zu kontrollieren, ob die getragene Brille passt.
Ohne Zykloplegie ermöglicht die Skiaskopie zusätzlich die Akkommodationsbreite objektiv zu messen.
Neurologische Diagnostik, Bildgebung
Eine weiterführende Diagnostik ist bei konkomitantem Schielen selten notwendig. Sie sollte erfolgen, wenn zusätzlich zum neu aufgetretenen Schielen weitere Symptome vorliegen wie z. B. Wesensänderung bei Kindern, neue Kopfschmerzen, Ataxie, Stauungspapille und im orthoptischen Befund bei einer Esotropie im Kindesalter ein kleinerer Nah- als Fernwinkel.
Krankheitsbilder
Konkomitantes Schielen, das sich schon im 1. Lebenshalbjahr zeigt („kongenital“, da die zugrunde liegende Störung vermutlich von Geburt an vorhanden ist, „frühkindlich“, da das Schielen oft erst mit der stabilen Fixationsaufnahme um den 3. Lebensmonat (LMo) offensichtlich wird), hat in der Regel keine Chance auf gute Stereopsis (Abschn. 7.1). Erworbene konkomitante Schielformen (engl.: AACE, „acute acquired concomitant esotropia“) hingegen treten meist erst im 2.–4. LJ (z. T. auch deutlich später) auf und zeigen eine günstigere Binokularprognose (Abschn. 7.2 ff.). In einigen Fällen kann sogar wieder volle Stereopsis erreicht werden. Sie treten in der Phase der „visuellen Formbarkeit“ auf. Die Kinder haben in den ersten Lebensmonaten und -jahren schon die Chance gehabt, Stereosehen zu lernen – sei es ganz ohne Schielen oder reduzierte Stereopsis bei kleinwinkligem Schielen. Mit Einsetzen des großwinkligen Schielens führt dies initial z. T. zu Diplopie, bevor dann das kindliche Gehirn innerhalb von Tagen die Suppression lernt. Damit ist zwar die störende Diplopie, die sich im Verhalten der Kinder bei Schielbeginn als Monoblepsie oder Danebengreifen zeigen kann, verschwunden, aber es setzt Amblyopie und der Verlust des Stereosehens ein. Ersteres muss durch umgehende Okklusion und Zweiteres durch zeitnahe Korrektur des Schielwinkels (Brille, Prismen, OP) therapiert werden. Anders als beim frühkindlichen Schielsyndrom kann mit der OP nicht bis zur Einschulung gewartet werden, sondern die OP sollte zeitnah, d. h. innerhalb von Monaten erfolgen.
Anders als beim frühkindlichen Schielsyndrom fällt es bei erworbenem Schielen immer wieder schwer, den Zeitpunkt des Schielbeginns festzulegen. Zum einen haben Eltern oft Schwierigkeiten, ein Schielen zu erkennen, wenn der Winkel nicht sehr groß ist. Zum anderen gehören wechselnde, intermittierende und z. T. kleine Schielwinkel zu den Charakteristika mancher Diagnosen. Frühere Augenarztbefunde ließen sich evtl. nicht mit der gewünschten Genauigkeit durchführen oder nachverfolgen. Auch aufgrund der erhobenen Befunde ist es nicht immer möglich, bei einem Patienten die klare Unterscheidung zwischen frühkindlicher und den verschiedenen Formen erworbener Esotropie zu treffen. Trotz der beobachtbaren Mischbilder sollte dennoch immer eine möglichst präzise diagnostische Zuordnung einzelner Patienten erfolgen, um den bestmöglichen Therapieplan zu erstellen.
Das offensichtliche Schielen beginnt oft intermittierend, bevor es dann permanent wird. Unterscheidungskriterien der wichtigsten erworbenen Esotropien im Kindesalter sind in Tab. 3 dargestellt. Die Differenzierung ist wichtig, da neben den unterschiedlichen Therapieentscheidungen auch selten einmal die Entscheidung zur neurologischen Abklärung getroffen werden müssen (Buch und Vinding 2015). Eine neurologische und MRT-Untersuchung sind nur notwendig, wenn mindestens einer der in der rechten Spalte von Tab. 3 genannten weiteren Befunde vorliegt und natürlich bei erworbener Inkomitanz, einer Winkelzunahme im Seitblick oder Ferne als Hinweis auf eine Abduktionsschwäche.
Tab. 3
Wichtige Differenzialdiagnosen erworbener Esotropie. Weitere Informationen zu den Diagnosen finden sich in Abschn. 7.2 bis Abschn. 7.5. Seltenere Differentialdiagnosen sind in Tab. 4 aufgeführt
Akkommodative Esotropie
Dekompensierter Mikrostrabismus
Normosensorisches Spätschielen (Lang) Typ Burian-Fransceschetti
Im Jugend- und Erwachsenenalter treten weitere Diagnosen auf: Die symptomatische Phorie ist in Kap. „Heterophorie“ beschrieben, die Esotropie: bei Myopie (Typ Bielschowsky) und die Fernesotropie im Alter („sagging eye syndrome“) in Abschn. 7.9.
Frühkindliches Schielsyndrom
Unter den konkomitanten Esotropien ist das frühkindliche Schielsyndrom die häufigste Schielerkrankung und betrifft ca. 1 % der Bevölkerung. Es ist definiert über folgende Befunde (Lang 1967):
Befunde beim frühkindlichen Schielsyndrom
Obligat:
Schielbeginn vor dem 6. LMo
großwinklige Esotropie
Mindestens 3 der 4 Zusatzbefunde:
Nystagmus latens
Kreuzfixation = Fixation in Adduktion
dissoziierte Vertikaldeviation (DVD)
Störung der schrägen Augenmuskeln mit
V- oder A-Phänomen
Surso- oder Deorsoadduktion
Ausschluss von:
neurologischer Erkrankung
akkommodativer Genese
organischer Normalbefund
Sind nur maximal 2 der Zusatzbefunde vorhanden, sprechen wir nicht vom „Schielsyndrom“, sondern von der „frühkindlichenEsotropie“. Die Therapie und die Prognose, insbesondere bezüglich des meist fehlenden Stereosehens sind ähnlich. Daher werden beide Diagnosen hier gemeinsam behandelt. Das frühkindliche Schielsyndrom (FKSS) betrifft Mädchen und Jungen gleichermaßen und tritt gehäuft bei positiver Familienanamnese, Frühgeburtlichkeit und niederem Geburtsgewicht oder APGAR-Score auf. Das Schielen ist nicht bei Geburt vorhanden, sondern zeigt sich um den 3. LMo. In den ersten 2 Monaten lassen sich die Kinder, die ein FKSS entwickeln werden, nicht von denen unterscheiden, die orthotrop werden. Die meisten zeigen in den ersten Wochen wechselnde Augenstellung, gehäuft Exodeviationen.
Eine dem FKSS ähnliche Esotropie findet sich bei ca. 50 % der Kinder mit syndromalen Erkrankungen und Kindern mit ZNS-Beteiligung. Da diese ein Ausschlusskriterium für die Diagnose eines idiopathischen frühkindliches Schielsyndroms sind, sollte hier von einer „infantilen Esotropie bei kortikalem Defizit“ gesprochen werden – bzw. „Exotropie“, da Kinder mit kongenitalen neurologischen Störungen häufiger ein Außen- als ein Innenschielen zeigen.
Die Suche nach der Genese des frühkindlichen Schielsyndroms wirft ein Henne-Ei-Problem auf: Zu bestimmen, was die primäre Störung und was Folge ist, gestaltet sich schwierig bei einer kongenitalen Störung, für die es kein Tiermodell gibt. Zwei Theorien wurden diskutiert: Worth ging 1903 von einer primären Störung der binokularen Sensorik aus: Die Kinder haben kongenital keine Fähigkeit zur Fusion und als Folge zeigt sich wegen des hohen Konvergenztonus die Esotropie. Sein Schüler Chavasse hingegen nahm an, dass ein übermäßiger Konvergenztonus die Fusion verhindert und daher Stereosehen nicht gelernt werden kann – das gestörte Binokularsehen also Folge und nicht Ursache des Schielens ist. Bis heute sind viele neurophysiologische Erkenntnisse dazugekommen – das Problem ist aber noch nicht endgültig gelöst (Brodsky 2012; ten Tusscher 2014; Steffen und Kaufmann 2020).
Die Überlegungen zur Genese sind nicht rein akademisch, sondern auch wichtig für das therapeutische Vorgehen (s. u.). Bei einer primären Störung der Motorik wäre es sinnvoll, eine sehr frühe Augenmuskeloperation zur Schwächung der Konvergenz durchzuführen, damit sich dann Stereosehen doch entwickeln kann. Bei einer primären Störung der binokularen Sensorik würde man auch mit einer noch so frühen OP kein normales Binokularsehen erreichen können.
Aus der Vielzahl an Argumenten erscheinen mir Folgende die relevantesten und sprechen für eine primäre Störung der Sensorik, wie sie Worth annahm. Auch bei frühester OP mit 3–6 LMo, wie sie z. T. in den USA durchgeführt werden, wird häufig keine gute Stereopsis erreicht. In einigen – aber nicht allen – Fallserien wird zwar von bis zu 40 % Stereopsis berichtet (Birch und Stager 2006). Dies ist deutlich mehr als bei später OP (8–17 % (Simonsz et al. 2005)), kann aber auch durch die diagnostische Unsicherheit, die in den ersten Lebensmonaten besteht, bedingt sein (evtl. wurden Kinder operiert, die gar kein FKSS hatten und auch ohne OP Stereosehen entwickelt hätten) (PEDIG 2002). Zum anderen gibt es Kinder mit massiven kongenitalen Bewegungsstörungen (z. B. Retraktionssyndrom) und einem großen Schielwinkel in Primärposition, die dennoch volle Stereopsis entwickeln und dafür eine extreme KZH einnehmen.
Zusatzbefunde
Charakteristisch für das frühkindliche Schielsyndrom ist neben der großwinkligen Esotropie in den ersten 6 Lebensmonaten das Auftreten von verschiedenen motorischen Zusatzbefunden. Einige können schon im ersten Lebensjahr beobachtet werden, andere manifestieren sich erst im 3.–4. LJ (Störungen der schrägen Muskeln, DVD).
Bei ca. 70 % der Patienten findet sich ein Nystagmus latens. Er wird „latens“ genannt, da er mit beidseits offenen Augen nicht sichtbar ist und nur unter monokularen Bedingungen auftritt. Ist er so ausgeprägt, dass er schon unter „binokularen“ Bedingungen vorhanden ist und sich bei Okklusion eines Auges verstärkt, wird er „Nystagmus vom Latenstyp“ genannt. Trotz Suppression gibt es beim FKSS doch eine gewisse binokulare Zusammenarbeit, die das motorische System stabilisiert, d. h. den Nystagmus unterdrückt. Der Nystagmus ist charakterisiert durch eine pathologische Drift des fixierenden Auges in die Adduktion und eine Abduktionssakkade zurück zur Fixationsaufnahme.
Pathognomonisch für den Nystagmus latens ist der Wechsel der Schlagrichtung mit dem Fixationswechsel: Bei Fixation mit dem rechten Auge ist er rechtsschlägig, bei Fixation mit dem linken Auge linksschlägig.
Darüber hinaus zeigt er eine Zunahme in Abduktion des fixierenden Auges. Er ist Ausdruck der o. g. naso-temporalen Asymmetrie der Folgebewegungen beim FKSS. Therapeutisch relevant ist er bei der Planung der Okklusionstherapie (Abschn. 7.1.2). Er tritt nicht nur beim FKSS auf, sondern ist – wie auch die DVD – Ausdruck einer im frühkindlichen Alter gestörten binokularen Entwicklung und findet sich z. B. auch bei der primären Exotropie oder dem Monophthalmus-Syndrom.
Eine weitere häufige Beobachtung beim FKSS ist die bevorzugte Fixation in Adduktion. Somit betrachtet der Patient sein linkes Blickfeld lieber mit dem rechten Auge und das rechte Blickfeld mit dem linken Auge. Dies wird als Kreuzfixation bezeichnet. Blickt der Patient geradeaus, so nimmt er eine Kopfzwangshaltung ein: Bei Fixation mit dem rechten Auge dreht er den Kopf nach rechts, damit das adduzierte Auge geradeaus schaut. Bei Fixation mit dem linken Auge wird der Kopf entsprechend nach links gedreht. Es wird vermutet, dass der Patient die Adduktion bevorzugt als Folge des vermehrten Adduktionstonus und da in Adduktion der Nystagmus latens schwächer ist. Die Beobachtung wird in der englischen Literatur auch als „Ciancia syndrome“ oder nicht ganz korrekt als „nystagmus blockage syndrome“ bezeichnet.
Eine weitere Folge der bevorzugten Adduktion und Kreuzfixation ist, dass die Kinder die Abduktion meiden. Dieses Verhalten muss von einem Retraktionssyndrom oder einer Abduzensparese, bei denen ja die Abduktion wirklich eingeschränkt ist, unterschieden werden. Beim FKSS lässt sich hingegen über Folgebewegungen bei Fixation mit dem abduzierenden Auge oder den vestibulo-okulären Reflex eine freie Abduktion nachweisen.
Als weitere beim FKSS typische Motilitätsstörung ist die dissoziierte Vertikaldeviation (DVD) zu nennen und bei bis zu 90 % der Patienten vorhanden – meist nur bei der Untersuchung auffallend und den Patienten nicht störend. Sie ist in Abschn. 2 näher beschrieben, da sie auch bei andern frühkindlichen Schielformen mit gestörter Binokularfunktion auftreten kann.
Eine weiterer häufiger Zusatzbefund beim FKSS sind Störungen der schrägen Augenmuskeln. Sie finden sich bei ca. 30 % der Patienten und treten wie auch die DVD oft erst im 3.–4. LJ in Erscheinung. Ihre Genese ist letztlich nicht geklärt (von Noorden und Campos 2002, S. 386 f.; Steffen und Kaufmann 2020). Da das beobachtete Bewegungsmuster (meist Höherstand in Adduktion und V-Phänomen) sich aber gut über ein Ungleichgewicht der schrägen Augenmuskeln erklären lässt, wird es als „Überfunktion der Mm. obliqui inferiores“ bezeichnet. In der englischen Literatur findet sich der Begriff der IOOA („inferior oblique overaction“). Sie kann nicht nur beim frühkindlichen Schielsyndrom beobachtet werden und tritt auch bei Exotropien im Kindesalter auf. Dieser Befund sollte nicht als „Strabismus sursoadductorius“ bezeichnet werden, da dieser eine eigenständige Diagnose mit guter Stereopsis und Kopfneigung ohne Horizontalschielen darstellt. Er muss von weiteren Formen des Höherstandes in Adduktion (insbesondere der DVD) unterschieden werden.
Die beidseitige Überfunktion der Mm. obliqui inferiores zeigt sich als Sursoadduktion, d. h. einem Höherstand des jeweils adduzierten Auges, da seine hebende Wirkung in Adduktion besonders ausgeprägt ist. Bei der physiologischen Aktivierung des Muskels in Hebung zeigt sich dann auch die abduzierende Wirkung der hinter dem Äquator inserierenden Fasern und die Augenstellung wird weniger konvergent als in PP, in Abblick nimmt der konvergente Winkel gegenüber PP zu. Das daraus resultierende V-Phänomen ist in Abb. 1 dargestellt. Die vermehrte exzyklorotatorische Wirkung der Muskeln ist bei der Funduskopie am Höherstand der Papille relativ zur Foveola zu erkennen. Die deutlich seltenere Überfunktion der Mm. obliqui superiores (Abb. 2) zeigt ein inverses Bild mit Deorsoadduktion (Tieferstand in Adduktion) und A-Phänomen:
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Merkmale der Mm.-Obliquus-Störungen beim frühkindlichen Schielsyndrom
Relative Überfunktion der Mm. obliqui inferiores:
Höherstand des jeweils adduzierten Auges
V-Phänomen
Fundus-Exzyklodeviation
Höherstand kann durch DVD verstärkt sein
ca. 5–10 x häufiger als Überfunktion der oberen schrägen Muskeln
Relative Überfunktion der Mm. obliqui superiores (deutlich seltener):
Tieferstand des jeweils adduzierten Auges
A-Phänomen
Fundus-Inzyklodeviation
Tieferstand kann durch DVD vermindert/verdeckt sein
seltener als Überfunktion der unteren schrägen Muskeln
Bei einigen Patienten mit frühkindlichem Schielsyndrom wird auch eine Kopfneigung beobachtet. Die Seite, zu der dann geneigt wird, ist nicht einheitlich: häufiger zur Seite des Führungsauges oder zur Seite mit der stärkeren DVD. Da der Patient durch die Neigung keinen funktionellen Gewinn hat, d. h., weder der Visus noch das Binokularsehen sind besser, handelt es nicht um eine „Zwangshaltung“. Sie wird daher als Kopffehlhaltung bezeichnet.
Therapie
Viele Patienten mit frühkindlichem Schielsyndrom zeigen ein freies Alternieren. Damit besteht kein Amblyopierisiko. Bei den Patienten mit bevorzugter oder gar streng einseitiger Führung muss eine Teilzeitokklusion begonnen werden. Hierbei ist zu bedenken, dass evtl. ein starker Nystagmus latens auftreten kann und den Erfolg der Okklusion mindert. Da der Nystagmus aber nach 1–3 h in der Amplitude schwächer wird, empfiehlt sich in diesen Fällen eine tageweise Vollzeitokklusion bzw. Penalisation statt Okklusion bei milder Amblyopie.
Auch eine Brillenverordnung ist anfangs nur bei einzelnen Patienten notwendig, da die zykloplegische Refraktion meist wenig Auffälligkeiten zeigt und sie keinen Einfluss auf den Schielwinkel hat. Nur bei höherem Astigmatismus, Hyperopie oder Anisometropie, die per se eine Amblyopie verursachen und evtl. erst im Verlauf der Erkrankung auftreten können, ist eine Brillenverordnung notwendig. Da gelegentlich auch beim FKSS eine akkommodative Komponente vorhanden sein kann, sollte spätestens für die Operationsplanung jede Hyperopie ≥ 1,5 dpt ausgeglichen werden.
Bezüglich der operativen Korrektur des großen Schielwinkels bestehen weltweit sehr unterschiedliche Auffassungen. Diese sind nicht primär medizinisch begründet, sondern sehr vom kulturellen Umfeld abhängig. In Mitteleuropa finden sich viele Eltern, die große Sorge vor einer zu frühen Narkose haben und daher eine OP, wenn überhaupt nötig, lieber später durchführen lassen. In den USA hingegen gilt man als Rabeneltern, wenn man sein Kind mit großwinkligem Schielen in die Krippe oder den Kindergarten schickt.
Die zahlreichen Studien zum Zeitpunkt der Schieloperation (Steffen und Kaufmann 2020), insbesondere der europäischen ELISS-Studie (Simonsz et al. 2005) lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Argumente für den OP-Zeitpunkt beim frühkindlichen Schielsyndrom
Very early surgery: 4.–8. LMo
Fallberichte von guter Stereopsis
Aber:
keine kontrollierte Studie
wegen diagnostischer Unsicherheit evtl. unnötige OP
Narkoserisiko
verhindert nicht eine spätere DVD, Obliquus-Störung → 2. OP
häufigere Re-OP
Frühoperation: 2. LJ
17 % grobe Stereopsis (vs. 8 % bei Spätoperation)
bei Kreuzfixation sinnvoll
„Entwicklungsschub“ nach Schieloperation ist nicht sicher durch Studien belegt
Spätoperation: 1 Jahr vor der Einschulung
20 % spontane Winkelreduktion bis zur geplanten OP und daher keine OP notwendig (vs. 8 % bei Frühoperation)
weniger OPs, da Obliquus-Störung, die meist erst mit 3 Jahren erkennbar wird, mitkorrigiert werden kann
bei hoher Hyperopie warten, da häufig spontane Winkelreduktion und Gefahr der konsekutiven Exotropie
Es gibt somit keine zwingende medizinische Indikation für einen bestimmten OP-Zeitpunkt, aber zahlreiche Aspekte, die im Gespräch mit den Eltern vor einer OP-Entscheidung diskutiert werden müssen. Nur bei einer Kreuzfixation, die über den ersten Geburtstag hinaus persistiert, ist eine Frühoperation medizinisch aus funktionellen Gründen dringend empfohlen. Die Kopfdrehung wird nach dem ersten Lebensjahr nicht mehr spontan aufgegeben, sie beeinträchtigt funktionell und verhindert insbesondere im Falle einer notwendigen Brillenverordnung wegen des schrägen Blicks durch die Gläser eine scharfe Abbildung auf der Netzhaut. In der ELISS-Studie hatte der OP-Zeitpunkt keinen Einfluss auf den Erfolg der Amblyopietherapie. Ob außerhalb der intensiven Betreuung in Studien eine Amblyopie bei früh erreichtem kleinem Winkel – und damit schwerer erkennbarem Führungsverhalten – suffizient behandelt wird, bleibt offen.
Der durch eine Frühoperation erhoffte funktionelle Gewinn eines besseren Stereosehens ist gering. 80 % der Kinder mit echtem frühkindlichem Schielsyndrom zeigen nach einer Operation weiterhin Suppression oder bestenfalls Simultansehen („Bagolini-Test positiv“). Grobe Stereopsis (Titmus-Test Fliege oder sogar Ringe) zeigt sich mit 6 Jahren nach einer Früh-OP im 2. LJ bei 17 % der Kinder versus 8 % bei einer OP im 5.–6. LJ. Globale Stereopsis ließ sich nicht nachweisen. Diesen leichte Vorteil einer Früh-OP erkauft man sich aber mit einer höheren Anzahl von Operationen: Bei der Anzahl der Kinder, die wegen spontaner Winkelreduktion gar keine OP benötigten, zeigt sich ein genau inverses Verhältnis: 8 % bei früh geplanter vs. 20 % bei für 6. LJ geplanter OP (Simonsz et al. 2005).
In den ersten Lebensjahren besteht die psychosoziale Belastung durch den großen, sichtbaren Schielwinkel nur bei den Eltern, wobei hier große kulturelle Unterschiede existieren. Die Kinder selbst bemerken das eigene Schielen bzw. das ihrer Alterskameraden erst ab dem 6.–7. LJ, was dann zu Ausgrenzung und Hänseleien führen kann (Paysse et al. 2001; Mojon-Azzi et al. 2011). Daher sollte spätestens vor der Einschulung ein großwinkliges Schielen korrigiert werden.
Das frühkindliche Schielsyndrom ist ja nicht nur durch die Esotropie gekennzeichnet, sondern auch die Zusatzbefunde, die ebenfalls eine psychosoziale (DVD, Obliquus-Störung) oder funktionelle (Kreuzfixation) Belastung darstellen können und somit auch zu gegebenem Zeitpunkt mit korrigiert werden sollten.
Operative Korrektur der Zusatzbefunde beim FKSS
Kreuzfixation:
Beidseitige Schwächung des M. rectus medialis (s. u.) im 2. LJ
Obliquus-Störung:
Rücklagerung der Mm. obliqui inferiores bzw. superiores, ab 3–4 J.
DVD:
Evtl. bessere Kontrolle nach Korrektur der Esotropie, Führungswechsel OP meist erst im Teenageralter: Schwächung des M. rectus superior
Als Operationstechniken zur Korrektur der Esotropie wird in Deutschland meist eine kombinierte Konvergenzoperation, weltweit häufig auch eine beidseitige Rücklagerung des M. rectus medialis durchgeführt. Bei Zweiterer sind große Strecken zu vermeiden, um das Risiko der späten konsekutiven Exotropie zu begrenzen. Bei Kreuzfixation oder Konvergenzexzess haben sich Drehmoment-mindernde Operationen am M. rectus medialis bewährt (Faden-OP, Y-Spaltung). In einigen Ländern wird das FKSS auch mit Botulinumtoxin behandelt. Dies erfordert jedoch meist mehr Eingriffe in Narkose als eine primäre Operation.
Akkommodative Esotropie
Die akkommodative Esotropie ist die mit Abstand häufigste Form der erworbenen Esotropie im Kindesalter. Sie zeigt sich meist erst ab dem zweiten Lebensjahr und ist charakterisiert durch eine deutliche Reduktion oder ein gar vollständiges Verschwinden des Schielwinkels mit Korrektur der Hyperopie (Abb. 3). Wenn nach Vollausgleich der Hyperopie noch ein manifester Restwinkel besteht, handelt es sich um eine teilakkommodative Esotropie. Wenn er zu einem vollständigen Verschwinden des manifesten Schielens führt, sprechen wir von einer vollakkommodativen Esotropie. In diesem Fall führt die alleinige Verordnung einer Brille zu einer „Heilung“ des Strabismus, oft mit guter Stereofunktion.
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Das Ausmaß der Hyperopie ist aber nicht der einzige Faktor, der als Ursache der akkommodativen Esotropie anzusehen ist. Zwar haben die meisten Patenten eine höhere Weitsichtigkeit, als es der Altersnorm entspricht. Es gibt aber auch viele Kinder mit hoher Hyperopie, die nicht schielen. Anderseits können auch Kinder mit altersentsprechender Hyperopie von + 2 dpt eine akkommodative Esotropie entwickeln. Faktoren, die das Entstehen einer akkommodativen Esotropie begünstigen, sind:
höhe der Hyperopie
Amblyopie als Folge einer Anisohyperopie
Ausmaß der akkommodativen Anstrengung (die in den ersten Lebensjahren zunimmt und daher im 1. LJ meist noch nicht zum Schielen führt)
AC/A-Quotient (Ausmaß der Konvergenz relativ zur eingesetzten Akkommodation)
Patient nutzt eher Unschärfe als Disparität für Naheinstellung (Horwood und Riddell 2013)
Fusionsfähigkeit, Stabilität des bisher gelernten Binokularsehens
Der Beginn des Schielens ist oft schleichend und anamnestisch nicht so genau festzulegen wie z. B. beim normosensorischen Spätschielen. Daher haben die Kinder meist auch keine Diplopie oder Monoblepsie und zeigen bei Erstvorstellung häufiger schon eine Amblyopie. Die Eltern berichten oft auch über schwankende Schielwinkel.
Bei der orthoptischen Untersuchung (Abb. 4) zeigt sich typischerweise ohne Brillenkorrektur eine großwinklige Esotropie mit je nach Akkommodationsaufwand wechselnden Schielwinkeln, der bei Fixation auf ein Objekt in der Nähe oft deutlich zunimmt. Bei probatorischen Vorhalten von + 3 dpt-Gläsern verkleinert sich der Winkel erheblich, d. h. um mindestens 5°. Zeigt sich unter Vollkorrektur der Hyperopie kein manifestes Schielen mehr, handelt es sich um eine vollakkommodative Esotropie (Abb. 3). Hier findet man dann oft eine Esophorie und gute Stereopsis, insbesondere wenn zwischen Schielbeginn und Vollkorrektur der Brille nicht zu viele Monate/Jahre vergangen sind, in denen die Binokularfunktionen, die sich vor Schielbeginn entwickelt hatten, wieder verlernt wurden. Öfter erreicht man durch eine Vollkorrektur der Hyperopie nur eine Reduktion, aber kein vollständiges Verschwinden der manifesten Esotropie. Bei dieser teilakkommodativen Esotropie ist dann nach sicherer Vollkorrektur der Brille eine zeitnahe Schieloperation sinnvoll, um die Chancen auf Wiedererlangen von Stereopsis zu wahren.
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Relativ häufig zeigen Kinder mit akkommodativer Esotropie auch mit Vollkorrektur der Hyperopie einen akkommodativen Konvergenzexzess. Dieser ist in Abschn. 7.8 beschrieben.
Da auch andere Schielformen akkommodative Komponenten zeigen können und bei ihnen mit Hyperopiekorrektur eine Winkelverkleinerung eintritt, müssen diese mit einer vollständigen orthoptischen und ophthalmologischen Untersuchung abgeklärt werden (Inkomitanzen, Motilitätsstörungen, exzentrische Fixation bei Mikrostrabismus, Organbefund bei sensorischem Strabismus).
Die Therapie besteht in der Vollkorrektur der Hyperopie. Zur besseren Akzeptanz der ersten verordneten Brille kann diese evtl. 0,5 dpt unterkorrigiert werden. In der Regel wird die Vollkorrektur nicht mit der ersten Brille gleich erreicht. Bei der Kontrolle der objektiven Refraktion nach z. B. 3 Monaten hat sich die Skiaskopie in Zykloplegie über die Brille bewährt, da so die maximal mögliche Akkommodationsentspannung erreicht wird. Unter Umständen muss die Brille mehrmals verstärkt werden, um den maximalen Effekt auf die Reduktion des Schielwinkels zu erreichen. Hierbei ist die frühzeitige Aufklärung der Eltern sehr wichtig.
Bei akkommodativer Esotropie ist auch eine minimale Verstärkung der Hyperopiekorrektur, z. B. um 0,5 dpt, entscheidend, da sie einen erheblichen Einfluss auf die Winkelentspannung haben kann.
Die meisten Kinder mit akkommodativer Esotropie haben ein strenges Führungsauge (das weniger hyperope Auge fixiert) und benötigen eine Okklusionstherapie, insbesondere bei teilakkommodativer Esotropie. Oft besteht schon bei Erstvorstellung eine Amblyopie, da das Schielen evtl. intermittierend und kleinwinklig begann und erst später von den Eltern bemerkt wurde. Bei hoher Hyperopie kann auch auf dem Führungsauge eine Deprivationsamblyopie bestehen. Ihre Therapie besteht allein in der Brillenkorrektur.
Da Patienten mit teilakkommodativer Esotropie ebenfalls Chancen auf Wiedererlangen von Stereopsis haben, sollte bei ihnen nach Vollkorrektur der Hyperopie ein signifikanter Restwinkel zeitnah, d. h. innerhalb von 6 Monaten, operativ korrigiert werden. Besteht zusätzlich ein Konvergenzexzess, bietet sich eine beidseitige Drehmoment-mindernde OP am M. rectus medialis an (Faden-OP, Y-Spaltung). Ganz wichtig ist vor jeder OP die Aufklärung der Eltern und des Patienten, dass nur der Restwinkel mit Brille korrigiert wird und nach der OP weiterhin die Brille bzw. Kontaktlinsen zu tragen sind. Eine Korrektur des großen Winkels, wie er sich ohne Brille darstellt, verbietet sich, da sie langfristig zu einer konsekutiven Exotropie führen würde.
Mikrostrabismus
Mikrostrabismus bezeichnet nicht einfach nur jegliches kleinwinkliges Schielen, sondern eine spezifische Diagnose, die ebenfalls von Josef Lang detailliert beschrieben wurde (Lang 1982). Das Krankheitsbild firmierte zuvor schon unter verschiedenen, z. T. pathophysiologisch falschen Bezeichnungen und wird in der englischen Literatur teilweise unter dem Begriff Monofixation Syndrome geführt. Letzteres beinhaltet aber auch andere Diagnosen wie z. B. Anisometropie bedingte und relative Amblyopie ohne Strabismus.
Lang definierte den Mikrostrabismus als ein manifestes Schielen mit einem Winkel bis 5° und harmonischer anomalerNetzhautkorrespondenz (ANK). Die Patienten zeigen ein strenges Führungsverhalten und in den allermeisten Fällen eine Esotropie (selten eine Exotropie oder VD). Im sozialen Kontakt fällt der Schielwinkel nicht auf. Allerdings hat der Mikrostrabismus gravierende Auswirkungen auf die Sehfunktion: Alle Patienten haben eine Amblyopie. Grobes (lokales) Stereosehen mit Konturreizen lässt sich aufgrund des kleinen Winkels und der ANK nachweisen, jedoch sind nur die allerwenigsten Patienten zur vollen (globalen) Stereopsis mit Random-dot-Stereogrammen in der Lage. Häufig findet sich eine Anisohyperopie oder Anisoastigmatismus am Schielauge, was mit stärker ausgeprägter Amblyopie einhergeht (Abb. 5).
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Das Hauptproblem beim Mikrostrabismus ist, dass die Amblyopie oft erst spät erkannt wird. Der Schielwinkel und das Verhalten des Kindes sind unauffällig, sodass den Eltern die Amblyopie nicht auffallen kann. Nur bei einer Screening-Untersuchung ergeben sich Hinweise im Brückner-Test, bei der Refraktionsbestimmung durch die häufige Anisometropie, die fehlende Fusion im 4-Prismen-Basis-außen-Test, dem Lang-Stereotest und ab dem 4. LJ dann bei der Visusprüfung.
Der Schielwinkel ist eigentlich so klein, dass bei normaler Sensorik Fusion möglich sein sollte. Durch die anomale Netzhautkorrespondenz wird sie jedoch verhindert. Auch mit Prismen oder gar Operation lässt sich das Schielen nicht beheben. Der Winkel wird immer wieder nachgestellt, da die ANK nicht heilbar ist. Woher die ANK kommt, ist weiterhin unklar. Hereditäre Faktoren, Anisometropie, ungleiches Wachstum der zentralen Netzhaut, Probleme des Schielauges, dem dominanten Auge genau zu folgen, u. a. werden diskutiert.
Bei der Untersuchung der Fixation am Fundus des Schielauges werden 3 Typen beobachtet:
zentrale Fixation (milde Amblyopie)
exzentrische Fixation (auf der Verbindungslinie zwischen Foveola und Lokalisationszentrum der ANK)
exzentrische Fixation mit Identität (am Lokalisationszentrum der ANK → im Covertest keine Einstellbewegung)
Beim konstanten primären Mikrostrabismus bestehen zeitlebens stabile Verhältnisse. Die Therapie besteht in der konsequenten Behandlung der Amblyopie mit Okklusion und meist auch Brille. Wegen der anomalen Netzhautkorrespondenz ist eine Winkelverkleinerung nicht möglich. Eine Prismentherapie ist absolut kontraindiziert, da der Winkel wegen der ANK sofort wieder nachgestellt, die Prismen verstärkt und so der Schielwinkel künstlich in die Höhe getrieben wird, was zusätzlich zur Amblyopie nun auch Diplopie und Asthenopie verursachen kann.
Einige Patienten zeigen zusätzlich eine latente Komponente, die zu Asthenopie (meist ohne Diplopie) führt. Hier ist zusätzlich zur Okklusion und Brillenkorrektur meist auch eine Augenmuskeloperation der latenten Komponente (nicht der primären Mikroesotropie) erforderlich.
Häufiger als eine latente Komponente sieht man bei Patienten mit Mikrostrabismus eine Dekompensation in eine großwinklige Esotropie, selten eine Exotropie (Abb. 6). Diese tritt meist im Alter von 1–3 Jahren auf. Oft zeigt sie sich spontan oder nach fieberhaftem Infekt und ist dann von anderen Formen der erworbenen Esotropie insbesondere über die schon bei Beginn des großwinkligen Schielens vorhandene Amblyopie zu unterscheiden (Tab. 3).
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Auslöser der Dekompensation kann aber auch die zur Amblyopietherapie notwendige Okklusionsbehandlung eines zuvor erkannten, primären Mikrostrabismus sein. Daher ist eine diesbezügliche Aufklärung der Eltern bei Okklusionsbeginn oder -intensivierung sehr wichtig. Die Winkelvergrößerung geht zwar ohne Diplopie, aber mit Verlust der Stereopsis einher und sollte daher zeitnah operativ korrigiert werden.
Von konsekutivem Mikrostrabismus spricht Lang, wenn er durch Brillen und/oder operative Therapie eines dekompensierten primären Mikrostrabismus erreicht wird.
Normosensorisches Spätschielen
Das normosensorische Spätschielen (Abb. 7) ist eine seltene, aber sehr eindrückliche Erkrankung und eine der wenigen Schieldiagnosen im Kindesalter, bei der eine Vollheilung erreicht wird (Lang 1978). Sie wurde oft als „Notfall der Strabologie“ bezeichnet, was aber so nicht zutrifft. Zum einen ist bei typischem Befund ohne neurologische Zusatzsymptome (Abschn. 7.5) keine neurologische Abklärung erforderlich. Zum anderen muss eine operative Korrektur des Schielwinkels nicht innerhalb von Tagen, sondern innerhalb von Monaten erfolgen.
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Das großwinklige Innenschielen tritt meist plötzlich im 3.–4. Lebensjahr, selten auch einmal bis zu den ersten Schuljahren auf. Es kann anfangs intermittierend sein, wird dann aber permanent. Die Eltern berichten oft über ein Verhalten, dass auf initiale Diplopie hinweist: Das Kind habe am Anfang für ein paar Tage ein Auge zugekniffen oder sei sehr ungeschickt gewesen, habe Gegenstände umgestoßen oder danebengegriffen. In dem Alter lernt das visuelle System sehr schnell die Suppression und die Doppelbilder verschwinden nach 1–3 Tagen. Bei ca. einem Drittel der Patienten gab es in den Wochen zuvor einen fieberhaften Infekt. Ähnlich häufig ist die Familienanamnese für Schielen positiv. Bei der Untersuchung zeigt sich eine konkomitante Esotropie, nur in der Nähe ist der Schielwinkel häufig größer als in der Ferne.
Ansonsten ist alles unauffällig:
früher kein Schielen mit voller und normale Stereopsis (daher „normosensorisch“)
keine Amblyopie bei Schielbeginn (DD dekompensierter Mikrostrabismus)
keine Motilitätsstörung, kein Nystagmus, keine neurologischen Zusatzbefunde (DD-ZNS-Erkrankung)
normaler Organbefund, SFL-Test opB
In Folge der schnell gelernten Suppression kommt es dann zur Amblyopie und auch die Fusion unter Prismen lässt sich nach Monaten nicht immer nachweisen.
Bei idiopathischer akuter Esotropie im Kindesalter – d. h. ohne akkommodativen Einfluss, ohne auslösende Okklusion, ohne initiale Amblyopie (V. a. dekompensierter Mikrostrabismus) – besteht oft die Sorge, eine ZNS-Erkrankung zu übersehen. Fehlen aber alle im folgenden Abschnitt aufgeführten Risikofaktoren, liegt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein normosensorisches Spätschielen vor und eine Bildgebung ist nicht erforderlich. Man würde so nämlich Hunderte Kinder aufwändig abklären (oft auch in Narkose) und Familien stark beunruhigen, um bei einem Kind, das bis auf die Esotropie neurologisch asymptomatisch ist, eine ZNS-Erkrankung ein paar Wochen früher zu diagnostizieren. Natürlich ist bei den idiopathischen, erworbenen Esotropien eine orthoptisch-ophthalmologische Kontrolle mit der meist verordneten Brille nach 6 Wochen notwendig. Hierbei sollte dann insbesondere erneut geschaut werden nach Inkomitanzen im Seitblick, Fernwinkel > Nahwinkel, Stauungspapille und anderen neurologischen Symptomen, weiterhin sollte die Kontrolle der objektiven Refraktion mit Brille erfolgen.
Die Therapie besteht in der Regel aus der Korrektur auch geringer Hyperopie und bei Dominanz eines Auges einer (meist milden) Amblyopietherapie. Die Verordnung einer Prismenfolie auf dem Führungsauge ist dann sinnvoll, wenn mit ihr wieder Stereosehen erreicht wird. Da die Kinder meist innerhalb von Tagen supprimieren, haben sie keine Diplopie und erlangen mit der Prismenfolie wegen deren Verzerrungen und Visusminderung oft auch kein Stereosehen zurück.
Ist bei der Kontrolle nach 6 Wochen der Befund stabil und sind keine neuen (z. B. ZNS-verdächtigen) Aspekte hinzugekommen, muss für die nächsten Monaten eine operative Vollkorrektur des Schielwinkels angestrebt werden. Postoperativ ist zunächst die Brille weiterhin zu tragen und jeglicher Restwinkel zur Wiedererlangung von Stereopsis auszugleichen, sei es mit Prismen oder gar einer zweiten Operation. Die Chancen, so entweder direkt nach der OP oder in den folgenden Wochen wieder volle Stereopsis zu erreichen, sind gut. Wenn wegen Verschleppen oder Verkennen der Diagnose zwischen Schielbeginn und vollständiger Winkelkorrektur mehr als 6 oder gar 18 Monate verstrichen sind, kann es bis zur Wiedererlangung der Stereopsis entsprechend länger dauern.
Da so beim normosensorischen Spätschielen eine Vollheilung erreicht werden kann, was ja sonst bei Esotropien im Kindesalter nur noch bei manchen akkommodativen Esotropien zutrifft, entfällt mit der OP auch der Risikofaktor für die Amblyopie.
Auf jeden Fall sollte bei der typischen Anamnese mit initialer Diplopie und bei typischem Befund an der Diagnose „normosensorisches Spätschielen“ festgehalten und postoperativ auch kleine Restwinkel konsequent korrigiert werden.
Konkomitante Esotropie bei erhöhtem Hirndruck
Sehr selten kann eine akute konkomitante Esotropie bei Kindern auch Erstsymptom einer schwerwiegenden ZNS-Erkrankung sein (Hirndruck, intrakranielle Raumforderung, Meningitis, Arnold-Chiari Malformation u. a.). Im Gegensatz zur Abduzensparese ist die Abduktion frei und auch die Abduktionssakkade unauffällig. Als Mechanismen können eine subklinische Abduzensparese oder Fusionsstörungen diskutiert werden. Die Unterscheidung zum normosensorischen Spätschielen geschieht über das Vorliegen mindestens einer der folgenden Befunde:
Wichtig
Eine akute, erworbene Esotropie muss bei Kindern nur dann neurologisch und mit MRT abgeklärt werden, wenn mindestens einer der folgenden Befunde vorliegt:
Inkomitanz im Seitblick, Abduktionseinschränkung, langsame Abduktionssakkade
Wesens-, Verhaltensänderung des Kindes, die nicht nur auf Doppelbildwahrnehmung beruhen
Ataxie u. a. neurologische Symptome
Bei allen anderen neu aufgetretenen Esotropien ohne erkennbare Ursache muss nach spätestens 6 Wochen eine klinische Kontrolle erfolgen (Abschn. 7.4).
Die Therapie ist natürlich zunächst in der Behandlung der zugrunde liegenden ZNS-Erkrankung. Die begleitende orthoptische Therapie besteht aus der Vollkorrektur der Hyperopie, um mögliche zusätzliche akkommodative Einflüsse auf die Schielstellung zu beseitigen, Ausgleich des verbleibenden Winkels mit Prismenfolien oder Mattfolie, falls trotz Prismenfolien störende Diplopie persistiert. Eine Schieloperation sollte erst bei kurierter Primärerkrankung und stabilen Winkelverhältnissen geplant werden. Die Prognose bezüglich postoperativer Binokularfunktionen ist deutlich schlechter als beim normosensorischen Spätschielen.
Sensorische Esotropie
Schielen kann auch Folge einer primären Sehstörung sein und wird dann als sensorischer Strabismus bezeichnet. Der Visusverlust oder Gesichtsfeldausfall kann Folge einer organischen Störung am Auge oder der Sehbahn oder einer Amblyopie z. B. bei Anisometropie oder Katarakt sein. Sensorischer Strabismus kann in jedem Alter auftreten, bei kongenitalen Störungen auch schon in den ersten Lebensmonaten. Bei Kindern tritt wegen des erhöhten Konvergenztonus meist eine Esotropie, bei Erwachsenen wegen der Anatomie der Orbita häufiger eine Exotropie auf.
Da der orthoptische Befund sich nicht von anderen Esotropien unterscheidet, ist bei jedem Patienten mit Strabismus eine vollständige ophthalmologische Untersuchung notwendig, um organische Ursachen auszuschließen. Diese sollte neben dem Visus auch den Swinging-Flashlight-Test, die Beurteilung der Lider und brechenden Medien, Funduskopie inklusiver Papillenbeurteilung und natürlich die objektive Refraktion beinhalten. Ursache können angeborene Störungen wie z. B. Kolobome, Optikushypoplasie, Katarakt, Glaukom, Ptosis u. v. a. m. sein. Erworbene Störungen umfassen Frühgeborenenretinopathie, Trauma, Sehbahntumore, Retinoblastom u. v. a. m. Auch hohe Refraktionsfehler und Amblyopie können eine sensorische Esotropie verursachen, wobei insbesondere bei Anisometropie die Diagnose eines dekompensierten Mikrostrabismus mit anomaler Netzhautkorrespondenz differenzialdiagnostisch erwogen werden muss.
Die Therapie besteht natürlich aus der Behandlung der okulären oder Sehbahnstörung (so möglich), der Amblyopietherapie, Brillenanpassung (zur Amblyopietherapie, besseren Fusion und evtl. Winkelreduktion, falls eine akkommodative Komponente besteht). Häufig verbleibt dann noch ein Restwinkel, der dann durch eine Schieloperation korrigiert werden kann. Wegen der organischen Sehstörung ist die Prognose bezüglich der Amblyopie und der Binokularfunktion meist reduziert.
Sonstige Formen der erworbenen Esotropie
Ein rätselhaftes Krankheitsbild ist die zirkadianeEsotropie (zyklische Esotropie, „alternate day squint“). Es betrifft ca. 1 von 5000 Schielpatienten. Es beginnt typischerweise bei 3- bis 7-jährigen Kindern mit einer intermittierenden großwinkligen Esotropie, die meist nach einer festen Rhythmik, oft jeden zweiten Tag, auftritt. Dabei geben die Patienten meist keine Diplopie an und zeigen an den Nicht-Schieltagen in der Regel volle Stereopsis ohne manifestes Schielen – wenn überhaupt, dann nur eine gut kompensierte Esophorie mit einem Winkel, der viel kleiner ist als an den Schieltagen. Es handelt sich also nicht um eine Esophorie, die immer wieder dekompensiert. Manche sehen es als eine sehr seltene, langsam fortschreitende Sonderform des normosensorischen Spätschielens an.
Im Verlauf von Monaten geht das Schielen in ein permanentes Schielen über. Spätestens dann sollte eine Operation erfolgen, denn wie beim normosensorischen Spätschielen haben die Patienten eine sehr gute Binokularprognose. Die Dosierung der OP orientiert sich am großen Winkel der Schieltage. Erstaunlicherweise haben die Patienten postoperativ dann an den Nicht-Schieltagen keine Exotropie. Es wurde auch berichtet, dass – zusätzlich zur immer verordneten Hyperopiekorrektur – bei einer Patientin mit geringer Esophorie an den Nicht-Schieltagen die Anpassung von Prismenfolien mit Ausschleichen nach einem Monat zu einer Heilung des zyklischen Schielens führen kann (Voide et al. 2015).
Eine konsekutiveEsotropie ist deutlich seltener als eine konsekutive Exotropie, welche zusammen mit dem Begriff „konsekutiv“ in Abschn. 7.13 beschrieben wird. Insbesondere die spontan konsekutive Esotropie wird fast nie beobachtet. Die meisten konsekutiven Esotropien werden nach Augenmuskeloperationen beobachtet, z. B. nach einer überdosierten Operation gegen Strabismus divergens intermittens. Obwohl die Kinder in der Exotropie zuvor keine Diplopie hatten, können sie in einer konsekutiven Esotropie dann Doppelbilder störend wahrnehmen, da die Suppression für diese Winkelverhältnisse nicht gelernt wurde. Die Behandlung besteht aus der Versorgung mit einer Prismenfolie zur Beseitigung der Diplopie. In den folgenden Wochen und Monaten sollte dann versucht werden, diese zu reduzieren. Kann sie nicht vollständig ausgeschlichen werden, ist eine erneute Augenmuskeloperation bei persistierender Diplopie, Verlust der Stereopsis oder störend sichtbarem Schielwinkel sinnvoll.
Beim Konvergenzspasmus handelt es sich um eine überschießende Aktivierung aller drei oder einzelner Komponenten der Naheinstellung mit Diplopie aufgrund der Konvergenz, Visusreduktion wegen der Myopisierung durch Akkommodation und/oder Miosis (Goldstein und Schneekloth 1996). Er betrifft meist Jugendliche und junge Erwachsene. Auch wenn er oft nach eher mildem Kopftrauma auftritt, lässt sich keine organische Ursache feststellen und wird meist als Somatisierungsstörung interpretiert. Ob auch die wenigen Fallberichte von Patienten mit schon vorher bekannter MS in diese Kategorie fallen, lässt sich nicht sicher sagen.
Die Behandlung kann langwierig sein und besteht neben der psychologischen Betreuung auf ophthalmologischer Seite in der Gabe (milder) zykloplegischer AT, evtl. in Kombination mit einer Bifokal- oder Gleitsichtbrille. Nach einigen Wochen oder Monaten kann dann die Reduktion der Tropfengabe probiert werden. Auch wurden Erfolge mit Injektionen von Botulinumtoxin in die Mm. recti medialis oder in die Stirn zwischen die Brauen berichtet. Evtl. müssen die Injektionen wiederholt werden.
Konvergenzexzess
Diese Schielform ist meist keine eigenständige Diagnose, sondern ein wichtiger Aspekt, der bei anderen Schieldiagnosen, insbesondere der frühkindlichen Esotropie und der akkommodativen Esotropie, auftritt. Nur selten findet man einen reinen Konvergenzexzess, d. h. Patienten, die beim Blick in die Ferne keinerlei Schielen und volle Stereofunktionen zeigen. Er kann auch bei Exotropie auftreten und zeigt sich dann als ein kleinerer divergenter Winkel bei Nahfixation. Da umgekehrt der Winkel beim Blick in die Ferne zunimmt, wird dies häufig auch als „Divergenzexzess“ bezeichnet, was allerdings nicht sinnvoll ist, da es – anders als für die Konvergenz – kein aktives Divergenzzentrum gibt.
Der Konvergenzexzess ist definiert durch einen Schielwinkel, der bei Fixation eines Objektes in der Nähe mindestens 5° konvergenter ist als bei Fixation in die Ferne (Abb. 8). Die Untersuchung des Nahwinkels mit Entlastung der Akkommodation durch Vorhalten von + 3 dpt sowie Bestimmung der Akkommodationsbreite und des Stereosehens mit und ohne Vorhalter erlauben eine weitere Unterteilung des Konvergenzexzesses und damit eine angepasste Therapieplanung und Abschätzung der Prognose. Eine Zusammenfassung der Diagnostik, Einteilung und Therapie zeigt Tab. 5, eine ausführliche Darstellung des Themas inklusive pathophysiologischer Grundlagen findet sich bei (Ehrt 2016). Grundvoraussetzung für eine zielführende Diagnostik ist die Vollkorrektur der Hyperopie, um akkommodative Einflüsse auch auf den Fernwinkel so weit wie möglich zu reduzieren.
Tab. 5
Einteilung und Therapie des Konvergenzexzesses
Nichtakkommodativ
Akkommodativ (1)
Normakkommodativ
Hypoakkommodativ
Nahschielwinkel mit Vorhalter + 3 dpt
Unverändert
Entspannt
Akkommodationsbreite
Altersentsprechend
Reduziert
Fernwinkel
≥ 5°
≤ 5°
Initiale Therapie
OP
Nahaddition
Nahaddition
Folgetherapie
Ausschleichen (2)
Dauertherapie
OP (3)
(1) Weitere Unterscheidung möglich: vollakkommodativ: + 3 dpt reduziert den Nahwinkel vollständig auf den Fernwinkel, bei teilakkommodativem Konvergenzexzess entspannt er, aber verringert sich nicht komplett bis zum Fernwinkel
(2) Lässt sich kein Stereosehen nachweisen, dauert das Ausschleichen der Nahaddition meist deutlich länger (> 2 Jahre)
(3) Ist auch nach Jahren kein vollständiges Ausschleichen der Nahaddition möglich, kann eine OP erwogen werden
×
Im englischen Sprachraum wird sehr oft der AC/A-Quotient (AC/A ratio) bestimmt (von Noorden und Campos 2002, S. 89 ff.). Er beschreibt das Verhältnis der akkommodativen Konvergenz (AC) zur aufgebrachten Akkommodation (A) und ist bei Patienten mit akkommodativem Konvergenzexzess erhöht. Der AC/A-Quotient kann mit verschiedenen Methoden bestimmt werden (Steffen und Kaufmann 2020): z. B. der Gradientenmethode, bei der die Änderung des Schielwinkels bestimmt wird bei Anspannung der Akkommodation durch Vorhalten von ⊖-Gläsern für die Ferne bzw. Akkommodationsentlastung mit ⊕-Gläsern für die Nähe. Die gemessenen Werte (Norm 1,5–5 Pdpt/dpt) sind aber sehr von der verwendeten Methode abhängig, u. a. auch, weil nicht die objektiv gemessene, sondern nur die angenommene Akkommodation in die Rechnung eingeht (Horwood 2017). Daher wird im deutschen Sprachraum meist auf die Berechnung des AC/A-Quotienten selbst verzichtet und allein die direkt messbare Winkelentspannung durch ⊕-Gläser dokumentiert.
Der Konvergenzexzess findet sich typischerweise im Kindesalter und verschwindet meist mit nachlassendem generellen Konvergenztonus im späteren Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Dennoch sollte er behandelt werden, da er zu Suppression führt und die Entwicklung des Stereosehens erheblich beeinträchtigt und im Schulalter eine psychosoziale Belastung darstellen kann. Die Therapie besteht je nach Typ des Konvergenzexzesses und evtl. auch vorhandenen großwinkligen Schielens im Fernblick aus einer Verordnung einer Nahaddition und/oder Augenmuskeloperation (Abb. 9).
×
Eine Nahaddition sollte in erster Linie verordnet werden, wenn das Kind dadurch einen funktionellen Gewinn hat, d. h. bei Akkommodationsschwäche oder wenn der Winkel mit der Addition so klein wird, dass Chancen auf Stereopsis bestehen (< 6°). Bei kleinen Kindern oder noch nicht stabilen Stereofunktion sollte ein bis zur Pupille reichendes großen Bifokalteil von initial + 3 dpt rezeptiert werden, bei älteren Schulkindern, die auch subjektiv den funktionellen Gewinn durch die Akkommodationsentlastung merken, ist ein Gleitsichtglas sinnvoll. Wenn beim Konvergenzexzess die Akkommodationsbreite normal ist, sollte ungefähr alle 6 Monate versucht werden, das Nahteil abzuschwächen. Wenn unter Vorhalten von Minusgläsern über die zuletzt verordnete Brille der Nahwinkel und die Stereofunktionen unverändert bleiben, kann dieser entsprechend reduziert werden.
Bei nichtakkommodativem Konvergenzexzess, großem Fernwinkel, der ehe operationswürdig ist, oder wenn ein Ausschleichen über Jahre nicht möglich ist, erfolgt eine Augenmuskeloperation. Als Operation haben sich besonders beidseitige schwächende Eingriffe am M. rectus medialis im Sinne einer drehmomentmindernden OP (Faden-OP oder Y-Spaltung) bewährt. Die Therapie des Konvergenzexzesses bei Strabismus divergens ist in Abschn. 7.11 dargestellt.
Involutive Fernesotropie
Die Patienten sind meist über 60 Jahre alt und zeigen über Jahre langsam zunehmende Doppelbilder beim Blick in die Ferne aufgrund einer meist kleinwinkligen Esotropie. Beim Blick in die Nähe bestehen bei deutlich kleinerem Schielwinkel initial meist keine Beschwerden.
Viele Patienten zeigen eine beidseitige, symmetrische leichte Einschränkung der Abduktion. Diese ist Folge einer Erschlaffung der Intermuskularmembran zwischen M. retus lateralis und m. rectus superior. Hierdurch kommt es zu einer leichten Verlagerung des M. rectus lateralis nach inferior, einer Schwächung seiner abduktorischen Wirkung und einer leichten Hebungseinschränkung (daher die englische Bezeichnung „sagging eye syndrome“ (Chaudhuri und Demer 2013). Letztere führt jedoch meist nicht zu einer Vertikaldeviation, da sich die Effekte an beiden Augen neutralisieren. Die fehlende Abduktionskraft hingegen addiert sich und führt zu einer Esodeviation, die beim Blick in die Ferne ausgeprägter ist als beim Blick in die Nähe. Im Gegensatz zur Differenzialdiagnose einer Abduzensparese zeigt sich jedoch keine Winkelzunahme im Seitblick.
Die Therapie besteht in den Frühstadien in einer Prismenversorgung, später ist oft eine Augenmuskeloperation notwendig, die sehr gute Langzeitergebnisse zeigt.
Übersicht Exotropie
Außenschielen ist nicht einfach nur „wie Innenschielen, nur in die andere Richtung“. Der entscheidende Unterschied liegt begründet in der physiologischen Fähigkeit zur aktiven Konvergenz, die es ermöglicht, dass Exodeviationen sehr viel häufiger kompensiert werden können als Esodeviation. Eine analoge aktive Divergenzinnervation ist physiologisch nicht vorhanden.
Übersicht
Exodeviationen sind (im Vergleich zu Esodeviationen):
wegen aktiver Konvergenz häufiger intermittierend (ca. ¾)
in der Folge häufiger mit Stereopsis verbunden
folglich seltener mit Amblyopie assoziiert
Weiterhin:
bei asiatischen häufiger als bei europäischen Kindern
bei Erwachsenen häufiger als bei Kindern
Wenn sich ein älteres Kind oder Erwachsener mit permanenter Exotropie erstmals vorstellt, ist es unter Umständen nicht einfach, die richtige Diagnose zu finden – insbesondere, wenn anamnestische Angaben zur früheren Richtung und Dauer des Schielens nicht verlässlich sind. Tab. 6 gibt eine kurze Übersicht zu den verschiedenen möglichen Diagnosen.
Nach Winkelkorrektur (Prismen oder postoperativ) gute Stereopsis
Fotos im Kleinkindalter zeigen Kompensationsphasen
Spontan konsekutive Exotropie
Hohe Hyperopie
Fotos im Kleinkindalter zeigen Esotropie
Primäre Exotropie
Frühkindliche Zeichen: DVD, Nystagmus latens
Kinderfotos zeigen Exotropie
Sensorische Exotropie
Organische Schädigung des Auges
Strabismus divergens intermittens
Der Strabismus divergens intermittens ist die häufigste Form des manifesten Außenschielens im Kindesalter und betrifft ca. 1 % der Kinder unter 11 Jahren. Was zunächst wie eine einfache Beschreibung eines Befundes von „zeitweisem Außenschielen“ klingt, ist aber im Gebrauch eine klar definierte Diagnose.
Der Strabismus divergens intermittens ist definiert durch:
Phasen mit Exotropie ohne Diplopie
im spontanen Wechsel mit
Phasen der Orthotropie mit guter Stereopsis
Die manifeste Außenschielstellung wird häufiger beobachtet beim Blick in die Ferne, beim unkonzentrierten Blick, als Fixationsobjekt ohne Stereoreiz und bei Müdigkeit bzw. schlechtem AZ, ist aber relativ unabhängig von der Größe des Schielwinkels. Eine ausführliche Darstellung des Krankheitsbildes findet sich bei (Bergholz und Salchow 2015; Steffen und Kaufmann 2020).
Neben dem Wechsel zwischen Exo- und Orthotropie zeichnet sich das Krankheitsbild noch durch einige weitere Besonderheiten aus (Abb. 10). In den Phasen der Exotropie nimmt der Patient Panoramasehen wahr: In früher Kindheit hat er gelernt, überlappende Gesichtsfeldbereiche, die sonst Diplopie oder Konfusion verursachen würden, zu supprimieren. Das temporale Gesichtsfeld des exotropen Auges nimmt aber am Sehakt teil und verhilft dem Patienten zu einem unphysiologisch großen binokularen Gesichtsfeld. Da aber wegen des großen seitlichen Versatzes der beiden Netzhautbilder zwischen ihnen keine Korrespondenz hergestellt werden kann, ist es dem Patienten nicht möglich, den Abstand zwischen Objekten, die mit dem rechten, und Objekten, die mit dem linken Auge wahrgenommen werden, zu beschreiben (korrespondenzloses Simultansehen).
×
Eine weitere Besonderheit des Strabismus divergens intermittens stellt die Monoblepsie, das Zukneifen des abweichenden Auges bei hellem Sonnenlicht dar. Die Patienten geben zwar keine Diplopie an, scheinen aber dennoch durch den Seheindruck des zweiten Auges beeinträchtigt zu sein. Da die Kinder meist eine ausreichend lange Phase der Fusion mit binokularem Einfachsehen haben, ist eine Amblyopie sehr selten.
Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die dekompensierende Exophorie (Abschn. 7.14). Patienten mit dieser Diagnose geben aber während der manifesten Schielphasen, in denen sie die Fusion nicht aufrechterhalten können, Doppelbilder und weiterhin normale Netzhautkorrespondenz an (Steffen und Kaufmann 2020). Bei ihnen ist die Dekompensation in einem späteren Alter aufgetreten, in der das Gehirn keine Suppression mehr lernen konnte. In diesem Zusammenhang kann der Strabismus divergens intermittens gewissermaßen als eine Exophorie verstanden werden, die so früh dekompensierte, sodass das Kleinkind noch Suppression der überlappenden Gesichtsfeldteile lernen konnte. Gelegentlich werden auch Mischformen mit zeitweiser Diplopie beobachtet. Auch muss der Strabismus divergens intermittens von einer primären oder sensorischen Exotropie unterschieden werden, bei der der Patient über (meist willentliche) Nahkonvergenz eine Winkelverkleinerung erreichen kann. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine echte Kompensation. Der Patient erreicht keine Fusion oder gar Stereosehen, sondern supprimiert auch im kleinen Winkel das Schielauge.
Der entscheidende Parameter für das Ausmaß eines Strabismus divergens intermittens ist nicht die Größe des Schielwinkels, der meist zwischen − 10° und − 20° liegt, sondern die Güte der Kompensation. Es wurde immer wieder versucht, diese zu quantifizieren (Buck et al. 2008). Hierzu wurden anamnestische Angaben der Eltern über die tägliche Dauer der manifesten Phasen und Untersuchungsergebnisse zur Rekompensation im Aufdecktest sowie Stereosehen in Ferne und Nähe zu einem „control score“ verrechnet. Dabei zeigte sich aber, dass die Angaben der Eltern z. T. sehr unzuverlässig sind, da sie Ortho- von Exostellungen nicht immer unterscheiden können, die Untersuchungsergebnisse oft wenig reproduzierbar sind und auch im Verlauf eines Tages stark schwanken können. Im Langzeitverlauf kann man erwarten, dass sich ca. je ein Drittel der Patienten bezüglich der Kompensation bessern, verschlechtern oder gleichbleiben.
Gerade beim Strabismus divergens intermittens ist es wichtig, vor Beginn einer Therapie deren Ziele mit den Eltern/dem Patienten klar zu besprechen. Es geht nicht um „Messwertkosmetik“ (Verkleinerung des Schielwinkels), sondern darum, eine funktionelle Verbesserung zu erreichen oder eine psychosoziale Belastung durch den sichtbaren Schielwinkel zu vermindern.
Übersicht
Indikationen für die Behandlung eines Strabismus divergens intermittens werden kontrovers diskutiert, sollten aber sein:
psychosoziale Belastung
reproduzierbare Verschlechterung der Stereopsis
Sehr selten:
asthenopie (eher bei Erwachsenen)
patient gestört durch Bildsprung bei Fixationswechsel
amblyopie
Der mit Abstand häufigste Grund, eine Therapie zu beginnen, ist die Irritation, die das manifeste Schielen beim Blickkontakt im sozialen Umfeld verursacht. Hierbei entscheidet der Patient/seine Eltern, ob und wann er/sie eine Behandlung wünschen. Bei einer Verschlechterung des Stereosehens (z. B. durch sehr lange Dekompensationsphasen) hingegen sollten die Behandler eine Therapie empfehlen. Da die Befunde sehr variabel sein können (s. o.), sollte diese Verschlechterung mindestens bei 2 Kontrollen dokumentiert sein. Nach einer zeitnahen Operation bessert sich das Binokularsehen wieder. Eine prophylaktische Operation bei schlechter Kompensation (z. B. > 50 % des Tages) aber guter Stereopsis ist nicht sinnvoll.
Die Therapie ist in der Regel operativ – auch wenn immer wieder konservative Optionen diskutiert werden. Eine starke Fehlsichtigkeit gehört natürlich mit Brille korrigiert, um über einen besseren Visus die Fusion zu verbessern. Gelegentlich macht man aber auch die Beobachtung, dass die Korrektur einer milden, nicht visusrelevanten Hyperopie die Fusion verbessert – vermutlich durch Entlastung der Akkommodation. Der beobachtete Effekt kann evtl. auch eine „regression to the mean“ sein.
Die immer wieder propagierte Verordnung von Minus-Gläsern zum Anregen der Akkommodation, „overminus glasses“, ist nicht zu empfehlen, da sie den falschen Reiz zur Kompensation gibt (akkommodative Konvergenz statt fusionale Konvergenz), Myopisierung anregt und evtl. langfristig Asthenopie verursachen kann. In einer prospektiven, kontrollierten PEDIG-Studie (Chen et al. 2021) mit 380 Kindern im Alter von 3–10 Jahren zeigte sich nach Verordnung einer 2,5 dpt starken Myopie-korrigierenden Brille zwar eine etwas bessere Kontrolle der Exotropie in der Ferne. Allerdings hielt der Effekt nach Ausschleichen der Überkorrektur nicht an und die Überkorrektur hatte einen 0,5 dpt/J beschleunigenden Effekt auf die Myopieprogression.
Da der Schielwinkel in der Regel groß ist, sind Prismen nicht sinnvoll. Auch Fusionsübungen werden kontrovers diskutiert.
Die präoperative Aufklärung des Patienten/der Eltern muss folgende Punkte berücksichtigen:
initial postoperativ evtl. Diplopie wegen (subjektiver) Überkorrektur
mehr als 30 % Rezidive im langjährigen Verlauf (Buck et al. 2012)
Verlust des Panoramasehens
Gerade der Verlust des Panoramasehens kann für einige erwachsene Patienten sehr irritierend sein, da sie nun vermehrt die Augen und den Kopf bewegen müssen, um die Peripherie zu erfassen. Klassisches Beispiel sind Lehrer, die nach der OP zwar wieder einzelne Schüler durch Blickkontakt zur Mitarbeit auffordern können, bei der Aufsicht während Schulaufgaben aber viel mehr Blickbewegungen brauchen, um die gesamte Klasse „im Blick“ zu haben.
Bezüglich der verwendeten Operationsarten gibt es in der Literatur viel Diskussion, insbesondere in Anhängigkeit von den Winkelverhältnissen in Ferne und Nähe (Steffen und Kaufmann 2020). Meist lassen sich Unterschiede zwischen dem Winkel beim Blick in die Ferne und Nähe durch Tragen eines Prismenausgleichs (Fresnel-Prismenfolie) reduzieren und eine kombinierte Divergenzoperation durchführen. Eine Überkorrektur sollte vermieden werden, da die konsekutive Esotropie zu Diplopie, Suppression, Verlust des Stereosehens sowie Amblyopie führen kann (Buck et al. 2012) und nicht bewiesen ist, dass mit einer initialen Überkorrektur das relativ häufige Rezidiv der intermittierenden Exotropie (ca. 30 % über 10 Jahre) vermieden werden kann.
Primäre Exotropie
Die primäre Exotropie ist in Europa relativ selten und kann als frühkindliches Schielsyndrom mit primär exotropen Schielwinkel bezeichnet werden: Es finden sich ebenfalls zahlreiche Zusatzbefunde und therapeutische Konzepte, wie sie beim konvergenten Schielsyndrom in Abschn. 7.1 beschrieben wurden.
Da die Differenzierung zum früh dekompensierten Strabismus divergens intermittens nicht immer möglich ist, sollte zum Wiedererlangen der Stereopsis eine frühe OP erwogen werden.
Konsekutive Exotropie
Als „konsekutiv“ wird ein Strabismus bezeichnet, wenn in der Vergangenheit ein Schielen in die entgegengesetzte Richtung bestand. Ein konsekutiver Strabismus kann spontan auftreten oder – häufiger noch – nach einer Augenmuskeloperation. Postoperativ kann es sich um eine sofortige Überkorrektur handeln, die sich unter Umständen wieder zurückbildet, oder die Umkehr der Schielrichtung erfolgt Monate, Jahre oder gar erst Jahrzehnte nach der Augenmuskeloperation.
Die häufigste Form des konsekutiven Strabismus ist die konsekutive Exotropie (Abb. 11). Sie tritt meist Jahre oder Jahrzehnte nach einer Augenmuskeloperation gegen das frühkindliche Schielsyndrom mit meist hoher Rücklagerung oder Tenotomie des M. rectus medialis auf. Die Motilität zeigt dann meist ein Adduktionsdefizit. Da die Muskelkraft reduziert ist, drückt das orbitale Fett den Augapfel etwas nach vorne, was wiederum die Lidspalte etwas weitet. Im Fällen, bei denen die Anamnese bezüglich der vor der Operation vorgelegenen Richtung des Schielens unklar ist und keine Fotos zur Verfügung stehen, sind dies sichere Zeichen einer konsekutiven Exotropie im Gegensatz zu einem Rezidiv einer frühkindlichen Exotropie.
×
Übersicht
Risikofaktoren für eine konsekutive Exotropie sind:
hohe Hyperopie
fehlende Fusion, Stereopsis
Z. n. (hoch dosierter) Rücklagerung des M. rectus medialis
Konsekutive Exotropien können im späteren Kindesalter oder häufiger noch im Erwachsenenalter auftreten. Auch wenn die Patienten zuvor in der Esotropie keine Diplopie hatten, können in der Exotropie gelegentlich Doppelbilder wahrgenommen werden. Die Suppression, die in der Innenschielstellung gelernt wurde, ist dann unter den veränderten Winkelverhältnissen nicht mehr wirksam. Meist sind die Patienten jedoch durch den sichtbaren Schielwinkel gestört
Symptomatische, dekompensierende Eso- oder Exophorie
Im Gegensatz zum Strabismus divergens intermittens (oder auch convergens intermittens) haben Patienten mit dekompensierender Phorie Doppelbilder in der Abweichphase. Sie treten auf, da die Dekompensation in höherem Lebensalter (Jugendalter oder später) auftritt und nun eine Suppression nicht mehr gelernt werden kann – wie beim Strabismus divergens intermittens, der ja meist im 2.–4. Lebensjahr manifest wird.
Eine genaue Beschreibung der symptomatischen Phorie findet sich im Kap. „Heterophorie“.
Therapie
Im Rahmen des Aufklärungsgespräches ist es wichtig, individuell die bestehenden Folgen des Schielens (Abschn. 5) mit den subjektiven Beschwerden des Patienten zu vergleichen und die Erwartungen des Patienten in Bezug auf die realistischen Möglichkeiten einer Operation zu setzen. Fast immer lässt sich die Situation verbessern, oft aber nicht komplett normalisieren: Ein Patient mit frühkindlichem Schielsyndrom wird kein normales Stereosehen erreichen (wohl aber einen psychosozial nicht mehr auffälligen Winkel) und die Abduktion eines Auges mit ausgeprägtem Retraktionssyndrom wird auch postoperativ eingeschränkt bleiben (wohl aber die Kopfzwangshaltung reduziert werden).
Auch auf die postoperativ oft noch notwendige Okklusionstherapie und auf ein weiterhin ständiges Brillentragen ist hinzuweisen. In vielen Fällen kindlichen Schielens wird ein kleiner, unauffälliger Restschielwinkel bleiben – und damit die amblyogene Suppression. Nur wenn postoperativ Fusion erreicht wird, ist das Schielen als amblyogener Faktor beseitigt.
Amblyopiebehandlung
Bei jedem Kind mit manifestem Schielen und deutlich bevorzugten Führung mit einem Auge muss umgehend eine Amblyopietherapie eingeleitet werden.
Bei Patienten mit asymmetrisch alternierendem Schielen oder zeitweiliger Kompensation des Schielwinkels ist es unter Umständen ohne Visusangaben schwierig zu entscheiden, ob eine Amblyopie droht. Genaue Daten gibt es hier nicht. Allerdings erscheint eine Okklusionstherapie erst bei Kompensationsphasen < 30–40 % der Wachzeit oder bei deutlich asymmetrischem Fixationsverhalten (z. B. < 30:70) erforderlich zu sein.
In einigen Fällen kann die alleinige Brillentherapie Fusion ermöglichen und damit das Amblyopierisiko senken. Sogar bei mit Brille weiterhin manifestem Schielen und deutlich dominantem Führungsauge kann es allein durch die Brillenverordnung zu einer Visusbesserung auf dem Schielauge kommen. Allerdings sollte in den ersten 3 Lebensjahren, d. h. ohne verlässliche Visusangaben, nicht darauf vertraut werden, mit alleiniger Brillenverordnung die Suppressionsamblyopie zu heilen. Daher ist eine zusätzliche Okklusion durchzuführen.
Liegt ein sensorischer Strabismus vor, ist natürlich aufgrund der Schwere der organischen Veränderungen am Schielauge abzuschätzen, ob hier durch eine Okklusion eine signifikante, den Patienten langfristig helfende Visusverbesserung zu erreichen ist. Im Zweifel sollte eine Okklusion begonnen werden und solange fortgesetzt werden, wie sie toleriert wird und nützt.
Das Erlangen von freiem Alternieren in den ersten 2–3 Lebensjahren ist das Idealziel der Amblyopietherapie bei frühkindlichem Schielen. Es ist keine „Verschlechterung“, wie die Eltern oft glauben („Oh je, jetzt schielt auch noch das gesunde Auge!“), sondern zeigt uns, dass das wichtigste Ziel der Schielbehandlung, die Beseitigung der Amblyopie, gelungen ist.
Pleoptische Behandlung
Unter Pleoptik (pleo-, gr.: „voll“) werden Verfahren zusammengefasst, die durch gerätebasierte Übungsbehandlungen die Erlangung der foveolären, zentralen Fixation und die Minderung der Suppression fördern sollten. Diese Methoden wurden in den 1950er- bis 1970er-Jahren eingesetzt, um die Amblyopietherapie zu unterstützen und das Binokularsehen zu fördern. Die z. T. sehr zeit- und personalaufwändigen Schulungen, die unter Umständen auch mit mehrwöchigen stationären Aufenthalten verbunden waren, stellten sich allerdings als nicht effektiver als die alleinige Brillen- und Okklusionsbehandlung heraus und wurden in Mitteleuropa wieder aufgegeben.
Die gängigsten Verfahren waren:
Haidinger Büschel: Durch rotierende Polarisationsfilter wird dem Patienten die Wahrnehmung mit der Foveola betont, da nur diese durch ihre doppeltbrechenden Eigenschaften das „Haidinger Büschel“ wahrnehmen kann.
mit dem Pleoptophor nach Bangerter oder dem Euthyskop nach Cüppers wurde durch helles Licht die perifovoläre Netzhaut geblendet und so die zentrale „Fixation“ erzwungen.
mit Haploskopen (Synoptophor und Synoptometer) wurde Simultansehen und Fusion geübt.
Cambell/Cambridge-Stimulator.
Neben den häufigen Rezidiven stellt das immer wieder berichtete Risiko persistierender Diplopie auch Jahre nach intensiver Behandlung bei dann erwachsenen Schielpatienten nennenswerte Nebenwirkungen dar. Heute werden die Verfahren nur noch bei sehr selektierten Patienten in wenigen Zentren durchgeführt.
In den letzten Jahren werden wieder vermehrt Computer-basierte Trainingsbehandlungen bei Amblyopie und Suppression diskutiert.
Brille
Neben der Amblyopietherapie ist die Brille beim Strabismus auch zur vollständigen Entlastung der Akkommodation erforderlich. Bei der akkommodativen Esotropie kann hier eine signifikante, z. T. sogar vollständige Korrektur des Schielwinkels erreicht werden.
Vor einer Operation sollen alle Hyperopien > 1 dpt ausgeglichen werden, da es gelegentlich zu erheblichen Winkelveränderungen auch bei geringer Brillenstärke kommen kann. Dies muss vor einer Operation bekannt sein, um mit der optimalen Dosierung der OP eine langfristige Überkorrektur der Esotropie oder Rezidive einer Exotropie zu vermeiden.
Prismen
Bei Kindern ergibt sich sehr viel seltener als bei Erwachsenen die Notwendigkeit, Schielen mit Prismen zu behandeln. Zum einen haben Kinder seltener Diplopie, auf dem Schielauge besteht häufig eine Suppression, die auch mit einer Prismenversorgung nicht aufgehoben werden kann. Zum anderen fördern Prismen, insbesondere Prismenfolien, durch die Visusreduktion, die sie verursachen, die Suppressionstendenz. Wenn also mit einer Prismenfolie keine Doppelbilder mehr wahrgenommen werden, muss unbedingt sichergestellt werden, dass binokulares Einfachsehen besteht, z. B. mit dem Bagolini-Schweiftest. Verschwinden die Doppelbilder nämlich nicht durch Fusion, sondern aufgrund von Suppression, besteht die Gefahr, eine Amblyopie zu entwickeln oder zu verstärken.
Einen Überblick, wann eine Prismenversorgung prinzipiell sinnvoll ist gibt Kap. „Heterophorie“. Im Einzelfall gibt es natürlich Situationen, in denen es angebracht sein kann, von diesen Indikationen abzuweichen, z. B., wenn eine baldige OP bei großem Schielwinkel mit Diplopie oder inkomitantem Schielen mit störender KZH abgelehnt wird. Eine absolute Kontraindikation für eine Prismenversorgung ist das Vorliegen einer anomalen Netzhautkorrespondenz (ANK). Wird der Anomaliewinkel mit Prismen „ausgeglichen“, so stellt der Patient aufgrund der ANK gleich wieder den Winkel nach, die Prismen werden verstärkt usw., bis der Winkel so groß ist, dass er nicht mehr mit Prismen, sondern einer Schieloperation korrigiert wird. Besonders schlimm an diesem Szenario ist, dass der Anomaliewinkel zwar gemessen werden kann und reduziertes Stereosehen zur Folge hat, dem Patienten aber keine subjektiven Beschwerden macht und das Stereosehen nicht gebessert werden kann, also kein funktioneller Gewinn zu erwarten ist. Letztlich besteht hier die Gefahr, dass so ein beschwerdefreier Patient zur „Messwertkosmetik“ in eine OP getrieben werden kann (Tab. 7).
Tab. 7
Sinnvolle und unsinnige Prismenindikationen
Sinnvolle Prismentherapie
Unsinnige Prismentherapie
bzw. nur in Ausnahmesituation
funktioneller Gewinn durch Prismen:
• Vermeidung von Diplopie
• Förderung des Stereosehens
• Reduktion einer KZH
• Beseitigung von Asthenopie
Rein „kosmetische“ Indikation
Die Verzerrungen durch die Prismengläser und die Dicke der Gläser sind meist auffälliger als der Schielwinkel
horizontale und vertikale Schielstellung
Zyklodeviation
kleine Schielwinkel bis ca. 5°
Große Schielwinkel
Sie erfordern sehr dicke und damit schwere und unansehnliche Brillengläser
konkomitanter Schielwinkel
Stark inkomitantes Schielen,
da Prismen in alle Blickrichtungen die gleiche Wirkung haben
„Winkelfehlsichtigkeit“
normale Netzhautkorrespondenz
Anomale Netzhautkorrespondenz
Ist absolute Kontraindikation (s. Text)
Voraussetzungen für eine Prismenverordnung sind:
Vollkorrektur von Refraktionsfehlern nach objektiver Refraktion in Zykloplegie
vollständiger orthoptischer Befund
Aussicht auf funktionelle Besserung
normale Netzhautkorrespondenz
Der orthoptische Befund sollte subjektive und objektive Schielwinkel, Schielwinkel in Ferne und Nähe, in Primär- und Sekundärposition sowie die Motilität beurteilen. Eine ANK muss ausgeschlossen sein. Eine Anpassung aufgrund nur subjektiver Angaben in Primärposition und ohne objektive Refraktion in Zykloplegie ist unzureichend.
Für die Bestimmung der letztlich zu verordnenden Prismenstärke ist nach der orthoptischen Untersuchung noch ein Prismentrageversuch notwendig, um das subjektiv angenehmste Prisma zu bestimmen. So kann das getragene Prisma im Prismenwechseltest optimiert werden. Hierzu wird dem Patienten ein Prisma von 1 oder 2 Pdpt Stärke mit Basis rechts abwechselnd vor beide Augen gehalten und gefragt, welches er als angenehmer empfindet. Somit vergleicht man ein Prisma mit Basis außen (d. h. mit Exo-Wirkung) vor dem RA mit einem Prisma mit Basis innen (d. h. Eso-Wirkung) vor dem LA. Dann wird das Prisma umgedreht. Mit nun Basis links wird der Test wiederholt. Mit dieser doppelten Abfrage kann nun unterschieden werden, ob der Patient, wenn er bei beiden Abfragen jeweils das Prisma vor demselben Auge bevorzugt, nur das Prisma lieber vor dem nicht dominanten, Visus-schlechteren Auge wünscht oder ob er doch eine der beiden prismatischen Wirkung bevorzugt. War ihm z. B. zunächst das Prisma vor dem rechten und nach dem Umdrehen vor dem linken Auge lieber, so hilft ihm ein zusätzliches Prisma mit Exo-Wirkung. Das getragene Prisma wird entsprechend um 1 oder 2 Pdpt abgeändert und der Wechseltest wiederholt, und zwar so lange, bis dem Patienten kein Unterschied mehr zwischen Prismen mit Basis innen und außen auffällt. Entsprechend kann der Prismenwechseltest für vertikale Abweichungen durch Prismen mit Basis oben wechselnd vor beiden Augen und Basis unten vor beiden Augen durchgeführt werden.
Ist die optimale Prismenstärke gefunden, muss noch entschieden werden, vor welchem Auge das Prisma verordnet wird. Prismenfolien sollten immer nur einseitig gegeben werden, da sie zu einer Visusminderung führen, die beidseitig für den Patienten nicht tolerierbar ist. Entsprechend sollte die Folie vor dem nicht dominanten Auge verordnet werden (s. u.). Bei starker Einschränkung der Motilität eines Auges, z. B. nach einer frischen Parese, sollte das Prisma vor diesem Auge gegeben werden zur Vermeidung des sekundären Schielwinkels. Bei Kindern bis ca. 6 Jahren muss bedacht werden, dass die Folie eine Amblyopie auslösen könnte. Bei schon bestehender Amblyopie sollte die Prismenfolie vor dem Führungsauge gegeben werden – dies wirkt dann wie eine Penalisation. Der tägliche Seitenwechsel des Prismas führt zu Problemen mit der Raumwahrnehmung und der Auge-Hand-Koordination. Sollte ein Amblyopierisiko durch die Folie bestehen, kann z. B. wöchentlich die Seite gewechselt werden.
Die okulären Dominanz kann auf verschiedene Arten bestimmt werden. Die Festlegung des bevorzugten Auges bei Orthotropie ist z. B. hilfreich, um zu entscheiden, vor welchem Auge eine Prismenfolie auf die Brille geklebt werden soll. Bei der einfachsten Methode, die auch ohne Hilfsmittel auskommt, sitzt der Untersucher ca. 2 m vor dem Patienten, schließt ein Auge und bittet den Patienten (der beide Augen offen hat), schnell auf das offene Auge des Untersuchers zu zeigen. Der Untersucher sieht dann den Zeigefinger des Patienten vor dessen dominantem Auge. Dies sollte noch ein mal mit dem Zeigefinder der anderen Hand wiederholt werden. Je nachdem, wie weit der Zeigefinger vor dem dominanten Auge ist oder eher zur Nasenwurzel tendiert, kann geschätzt werden, wie streng die Dominanz ist. Wird der Patient hingegen gebeten, durch ein 2 cm großes Loch in einem am ausgestreckten Arm gehaltenen Papier auf das offene Untersucherauge zu schauen, muss er sich 100 %ig für ein Auge entscheiden.
Hat sich eine Prismenstärke im mehrwöchigen Folientrageversuch als passend herausgestellt, kann bei stabilem Befund die prismatische Wirkung in das Brillenglas eingeschliffen werden. Das Prisma ist dann nicht mehr so auffällig wie die streifige Folie und die Visusminderung fällt geringer aus. Ab einer Gesamtwirkung von 4 Pdpt sollte die Prismenstärke auf beide Gläser verteilt werden, damit die Gläser möglichst dünn bleiben und kein Gewichtsunterschied zwischen den beiden Brillengläsern resultiert. Nur bei deutlicher Motilitätseinschränkung eines Auges sollte die prismatische (Haupt-)Wirkung vor diesem Auge eingeschliffen werden.
Mattfolie, Okklusion
Da die meisten, gerade junge Kinder schnell die Suppression lernen, ergibt sich bei ihnen viel seltener als bei Erwachsenen die Notwendigkeit, Doppelbilder, die weder mit Prismen noch mit Operation beseitigt werden können, mit einer Mattfolie auf der Brille oder vollständiger Okklusion zu behandeln. Doppelbilder, die nur in eine Blickrichtung auftreten, sind selten so störend, dass dann eine Sektorokklusion auf der Brille sinnvoll wäre.
Ist doch einmal eine Mattfolie oder Okklusion notwendig, sollte sie bei Kindern zur Vermeidung einer Amblyopie alle 3–5 Tage auf dem anderen Auge angebracht werden. Da die Gewöhnung an die Auge-Hand-Koordination etwas Zeit braucht, sollte nicht täglich alterniert werden.
Besteht schon eine Amblyopie, sollte die Mattfolie oder Okklusion vor dem Führungsauge verordnet werden und damit gleichzeitig eine Amblyopietherapie erfolgen. Besteht allerdings auf dem amblyopen Auge eine ausgeprägte Motilitätsstörung mit Kopfzwangshaltung und einer Störung der Auge-Hand-Koordination („past-pointing“, besonders in der Akutphase), sollte dieses Auge abgedeckt und zur Amblyopietherapie nur stundenweise das Führungsauge okkludiert werden.
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