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Die Augenheilkunde
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Publiziert am: 24.07.2024

Postchiasmale Gesichtsfeldausfälle und höhere kognitive, visuelle Störungen

Verfasst von: Tobias Bormann
Das vorliegende Kapitel diskutiert visuelle und räumliche Wahrnehmungsstörungen infolge von Hirnschädigungen hinter dem Chiasma opticum. Es handelt sich dabei je nach Schädigungsort um sehr unterschiedliche kognitive Einschränkungen. Ursachen sind meistens Schlaganfälle (Ischämie, Blutung), aber auch Tumoren und demyelinisierende Erkrankungen. Es werden Gesichtsfeldausfälle, Störungen der visuellen Verarbeitung (visuelle Agnosie) und spezifischere Einschränkungen (Alexie, Prosopagnosie) sowie Einschränkungen der Aufmerksamkeitsausrichtung (Neglekt) diskutiert. Außerdem wird das Syndrom der posterioren kortikalen Atrophie als spezielle Demenzerkrankung dargestellt.

Einleitung

Postchiasmale Gesichtsfeldausfälle und höhergradige visuelle Störungen umfassen Beeinträchtigungen der retinalen Informationsübertragung jenseits des Chiasma opticum zum primären visuellen Kortex sowie der Verarbeitung visueller Informationen im Kortex. Diese bestehen aus graduellen oder vollständigen Einschränkungen des Gesichtsfeldes (Quadrantenanopsie, Hemianopsie, Skotome), wenn der Übertragungsweg oder der primäre visuelle Kortex betroffen ist, sowie aus höhergradigen visuellen Defiziten wie Störungen der visuellen Objektverarbeitung (Agnosie), Einschränkungen des Lesens (Alexie), der Gesichtsverarbeitung (Prosopagnosie), der Farb- und Bewegungswahrnehmung oder der Aufmerksamkeitsausrichtung (Neglekt, Extinktion). Ursächlich sind zerebrale Schädigungen. Hervorzuheben sind hier v. a. vaskuläre Ereignisse (Ischämie, Blutung) und neurodegenerative Erkrankungen als Ursache. Außerdem können Raumforderungen oder eine demyelinisierende Erkrankung (Multiple Sklerose) ursächlich sein.
Viele der in diesem Kapitel beschriebenen neuropsychologischen Syndrome sind selten und sind häufig nur als Fallbericht oder neuropsychologische Fallstudie veröffentlicht. Daher fehlen für viele der Syndrome derzeit noch genaue Einschätzungen zu ihrer Häufigkeit, ihrem Verlauf und geeigneten Therapien.

Pathophysiologie

Häufige Ursachen von Gesichtsfeldausfällen sind Schädigungen des Tractus opticus, des Nucleus geniculatum laterale (NGL), der Sehstrahlung (Radiatio optica) oder des primären visuellen Kortex. Schädigungen können aus ischämischen Infarkten der A. cerebri media oder, häufiger, der A. cerebri posterior, intrazerebralen Blutungen, Raumforderungen oder Neurodegeneration resultieren.
Visuelle Agnosie resultiert in der Regel aus bilateralen Schädigungen visueller Assoziationsareale in hinteren Hirnteilen, entweder infolge von bilateralen Ischämien im Stromgebiet der A. cerebri posterior, durch bilaterale Atrophie oder einen bilateral verminderten Stoffwechsel im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung.
Objektspezifische Verarbeitungsstörungen (Alexie, Prosopagnosie) sind in der Regel verursacht durch einseitige Ischämien oder Blutungen. Linksseitige Schädigungen des Gyrus fusiformis verursachen eine Lesestörung (Alexie), rechtsseitige Schädigungen eine Prosopagnosie und Achromatopsie. Neglekt und Extinktion resultieren in der Regel aus ischämischen Schädigungen des rechten hinteren superioren Temporallappens und des inferioren parietalen Kortex, alternativ aber auch aus frontalen Läsionen.
Langsam fortschreitende visuelle und räumliche Störungen treten zudem bei einer Reihe neurodegenerativer Erkrankungen auf. Ursächlich ist hier ein bilateraler Hypometabolismus in okzipitalen und parietalen Arealen, der im Verlauf zu einer im MRT und CT sichtbaren Atrophie der hinteren Hirnregionen führt. Als Ursache ist an erster Stelle eine atypisch verlaufende Alzheimer-Erkrankung zu nennen. Typischerweise beginnt die Alzheimer-Erkrankung mit Gedächtnisstörungen, die Betroffenen und Vertrauenspersonen in der Regel auch zuerst auffallen. Bei der häufigsten Variante der Alzheimer-Erkrankung treten dann im Verlauf räumliche, visuelle, apraktische und sprachliche Symptome auf. Es kommt zu Fehleinschätzungen räumlicher Relationen, visuellen Verkennungen, apraktischen Fehlern beim Objektgebrauch und Benennstörungen mit Wortfindungsstörungen und bedeutungsbezogenen Fehlern.
Bei einem vergleichsweise seltenen neurologischen Syndrom, der posterioren kortikalen Atrophie („posterior cortical atrophy“, PCA), sind visuelle und räumliche Defizite die ersten Symptome, lange bevor Gedächtnisstörungen auffallen. Aus diesem Grund bleibt diese Erkrankung länger unentdeckt, und die erste Anlaufstelle sind häufig Fachärzte für Augenheilkunde. Ursache ist auch hier der beschriebene parietal und okzipital verminderte Stoffwechsel, der dem verminderten Metabolismus in anderen Arealen vorausgeht. Die häufigste Ursache ist eine atypisch verlaufende Alzheimer-Erkrankung, weswegen die PCA gelegentlich auch als visuelle Variante der Alzheimer-Erkrankung bezeichnet wird. Andere Ursachen sind eine kortikobasale Degeneration, eine Lewy-Körper-Erkrankung oder eine Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung.

Epidemiologie

Epidemiologie zerebrovaskulärer Ursachen

Die Inzidenz eines ischämischen Schlaganfalls beträgt ca. 220 pro 100.000 Einwohner pro Jahr. Etwa 10 % der Ischämien betreffen das Stromgebiet der A. cerebri posterior (Reinhard et al. 2022). Die Inzidenz intrazerebraler Blutungen liegt bei ca. 25–30 pro 100.000 Einwohnern (Steiner et al. 2021). Etwa die Hälfte der von einer Ischämie betroffenen Patienten beklagen visuelle Defizite (Rowe et al. 2013).

Epidemiologie von Demenzerkrankungen

Von Demenz sind in Deutschland etwa 1,8 Mio. Menschen betroffen, etwa 8 % der über 65-Jährigen und etwa ein Drittel der über 90-Jährigen. Schätzungen zufolge macht die Alzheimer-Erkrankung etwa 65 % der Demenzerkrankungen aus. Die posteriore kortikale Atrophie ist selten. Einzelne Studien legen nahe, dass etwa 5 % der Alzheimer-Betroffenen an der Variante posteriore kortikale Atrophie leiden. Obwohl auch ein später Erkrankungsbeginn dokumentiert ist, liegt das Erkrankungsalter bei PCA üblicherweise in der 6. Lebensdekade (im Mittel bei 58,2 Jahren) und ist damit niedriger als bei der typisch verlaufenden Alzheimer-Variante, die mit Gedächtnisstörungen beginnt. Die PCA gehört damit zu den Demenzerkrankungen mit eher frühem Beginn („early onset dementia“). In der Gruppe der Alzheimer-Erkrankungen mit frühem Beginn stellen Fälle mit PCA etwa 13 % (Schott und Crutch 2019).

Risikofaktoren

Risikofaktoren für zerebrovaskuläre Erkrankungen

Risikofaktoren für das Auftreten eines Schlaganfalls sind frühere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, hoher Blutdruck, Rauchen, Fettstoffwechselstörung, Bewegungsmangel und Übergewicht, Vorhofflimmern und ein Diabetes mellitus Typ II (Ropper et al. 2023). Alter ist ebenfalls ein Risikofaktor, etwa 80 % der Schlaganfälle entfallen auf Personen über 60 Jahren.

Risikofaktoren für eine Alzheimer-Erkrankung

Risikofaktoren für die Erkrankung an M. Alzheimer sind neben höherem Lebensalter familiäre Belastung (Eltern oder Geschwister mit Alzheimer-Erkrankung), ein APOE-ε4-Allel auf Chromosom 19 (2- bis 3-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko), Stoffwechselerkrankungen (Diabetes, Hypercholesterinämie), eine frühe Ovariektomie, Down-Syndrom, ein niedrigeres Bildungsniveau und wenig geistige Forderung sowie die Einnahme von Anticholinergika. Frauen sind unabhängig vom Alter häufiger betroffen (Schmidtke 2022). Anders als bei der typisch verlaufenden Alzheimer-Erkrankung ist die Wahrscheinlichkeit eines APOE-ε4-Allels bei der Alzheimer-Variante PCA nicht erhöht, und ein größerer Anteil der Fälle sind Alzheimer-Erkrankungen mit frühem Beginn („early onset“).

Klinik

Gesichtsfelddefekte und Skotome

Es handelt sich um einen Sehverlust in Teilen des Gesichtsfelds. Eine Läsion der kreuzenden Fasern im Chiasma opticum, etwa im Rahmen eines Tumors der Hirnanhangdrüse (Hypophyse), beeinträchtigt die beiden temporalen Gesichtsfelder (bitemporale Hemianopsie). Ist hingegen der Tractus opticus jenseits des Chiasma opticum betroffen, kommt es zu einer homonymen Hemianopsie, weil die korrespondierenden kontraläsionellen Gesichtsfelder beider Augen betroffen sind. Eine komplette Hemianopsie erlaubt weniger Rückschlüsse auf den Ort der Läsion als eine inkomplette Hemianopsie. Wenn der Defekt für beide Augen gleich ist, ist eine Schädigung des primären visuellen Kortex oder der Faserverbindungen im okzipitalen Kortex wahrscheinlich. Im Fall leicht abweichender (inkongruenter) homonymer Defekte ist eine Läsion des Tractus opticus oder der proximalen Sehstrahlung (Radiatio optica) wahrscheinlich. Bei Läsionen von Teilen der Sehstrahlung ist eine obere oder untere Quadrantenanopsie die Folge. Bei kompletten Läsion des Tractus opticus oder des Kortex um den Sulcus calcarinus ist auch die kontraläsionelle Hälfte der Makula betroffen („macular splitting“). Die Area striata, der primäre visuelle Kortex, mit der Repräsentation der Makula, kann aber von Kollateralen versorgt werden und deswegen vom Gesichtsfelddefekt ausgespart sein („macular sparing“) (Ropper et al. 2023).
Eine Hemianopsie behindert das flüssige Lesen von Sätzen und Texten, weil wichtige Informationen über Wortgrenzen, die parafoveal wahrgenommen werden, fehlen. Die Betroffenen lernen in der Regel kompensatorische Augenbewegungen. Einzelne, auch längere Wörter bereiten den Betroffenen in der Regel weniger Schwierigkeiten.
Eine Besonderheit stellt der temporale Halbmond dar, ein monokulärer halbmondförmiger temporaler Gesichtsfelddefekt nach Läsionen im vorderen kontralateralen okzipitalen Kortex (Chavis et al. 1997). Ein peripherer halbmondförmiger Gesichtsfeldbereich kann auch ausgespart sein als „Insel“ einer erhaltenen Wahrnehmung im Bereich einer homonymen Hemianopsie, wenn der vordere okzipitale Kortex von einer Läsion ausgespart ist (Lepore 2001).
Im Skotombereich der Hemianopsie können residuelle visuelle Wahrnehmungen erhalten sein, etwa die Wahrnehmung von Bewegung oder die rudimentäre Wahrnehmung von Farben oder Formen. Geprüft wird dies üblicherweise mit sog. Forced-choice-Aufgaben, bei denen die Patienten entscheiden müssen, ob ihnen bspw. ein Kreis oder Kreuz präsentiert wurde. Dieses als „Blindsehen“ genannte Phänomen (Stoerig 2013) wird unterstützt durch Projektionen der Retina zu erhaltenen Anteilen des Corpus geniculatum laterale, zum Mittelhirn und extrastriären Seharealen (Stoerig 2013).
Vor allem Skotome müssen den Betroffenen initial nicht bewusst sein, stattdessen berichten sie von einer veränderten oder erschwerten visuellen Wahrnehmung.

Achromatopsie und Farbagnosie

Die Achromatopsie ist eine plötzlich einsetzende Störung der Farbwahrnehmung, auch in Teilen des Gesichtsfeldes. Betroffene berichten, dass Farben, inbesondere Blau und Grün, verwaschen oder blass erscheinen. Vereinzelt wird die Welt nur in Grautönen wahrgenommen (Goldenberg 2006). Das Defizit ist selten, die wenigen gut dokumentierten Fallstudien verwendeten unterschiedliche klinische Testverfahren und ergeben ein heterogenes klinisches Bild. In der Regel sind bei Achromatopsie auch andere visuelle Leistungen betroffen, sodass bspw. Skotome bestehen. Bei etwa 70 % der Betroffenen besteht gleichzeitig eine Prosopagnosie (Bouvier und Engel 2006).
Bei der Farbagnosie ist die Wahrnehmung der Farben nicht verändert, Farben können aber nicht benannt werden (Goldenberg 2006). Fragen zur typischen Farbe von Objekten (typische Farbe einer Banane, Gurke, Erdbeere o. ä.) können beantwortet werden, sodass der Zugriff auf den Farbnamen im mentalen Lexikon erhalten ist.

Visuelle Agnosie

Die visuelle Agnosie ist eine Beeinträchtigung der visuellen Objektverarbeitung, die nicht auf basale visuelle Verarbeitungsstörungen oder andere kognitive Störungen (Gedächtnis, Wortfindung) zurückgeht. Sie entwickelt sich manchmal aus einer initialen kortikalen Blindheit. In besonders schweren Fällen sind die Betroffenen unfähig, basale Formen oder Linien zu erkennen (Formagnosie). Bei der eigentlichen apperzeptiven Agnosie werden basale Merkmale identifiziert, aber die Betroffenen interpretieren dies falsch. So können die Zacken einer Zange als Zähne eines Krokodils identifiziert werden, eine Zigarette als Stift oder Straße. Farbige Abbildungen oder Fotografien werden wegen ihres größeren Detailreichtums und wichtiger zusätzlicher Hinweise, insbesondere Farb- und Tiefeninformation, meist besser erkannt.
In der Literatur findet sich ferner die Beschreibung einer assoziativen Agnosie, deren Existenz jedoch umstritten ist. Bei dieser Störung misslingt der Anschluss der an sich erhaltenen visuellen Verarbeitung an das Weltwissen. Das heißt, verschiedene Ansichten desselben Objekts können einander zugeordnet werden, aber das Wissen über dieses Objekt kann nicht zuverlässig aktiviert werden. Zwei verschiedene Ansichten eines Mähdreschers können bspw. einander zugeordnet werden, aber das Objekt wird im Anschluss als „Bagger“ bezeichnet und dem Kontext „Baustelle“ zugeordnet. Diese Fehleinordnung liegt hier nicht in der visuellen Verarbeitung begründet, sondern in der Aktivierung des Weltwissens über das spezifische Objekt. Die assoziative Agnosie tritt nach bilateralen Schädigungen temporaler Regionen auf, etwa bei der Herpes-Enzephalitis, M. Alzheimer oder Varianten der fronto-temporalen Lobaratrophien. Ob es sich um eine eigentliche visuelle Störung oder ein Defizit im Weltwissen im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung handelt, ist umstritten. Die Mehrheit der Betroffenen dürfte auch bei taktiler Präsentation (bei geschlossenen Augen) oder nach Definition ähnliche bedeutungsbezogene Fehler machen und daher eher unter einer Störung des Weltwissens unabhängig von der Modalität der Präsentation leiden.

Prosopagnosie

Die Prosopagnosie ist eine Beeinträchtigung der Gesichtsverarbeitung bei ansonsten unauffälliger visueller Verarbeitung. Betroffene können entweder die Identität von Gesichtern nicht verarbeiten und z. B. folglich zwei verschiedene Fotos derselben Person nicht einander zuordnen oder ein Gesicht als weiblich oder männlich identifizieren, oder sie haben ein spezifisches Defizit, sich Gesichter längerfristig zu merken. Die Betroffenen berichten, dass sie im Alltag bekannte Personen „übersehen“ und diese entweder nur an bestimmten Merkmalen (auffällige Frisur oder Brille; Gang) erkennen oder erst an der Stimme, wenn sie von ihnen angesprochen werden.
Prosopagnosie existiert einmal als Entwicklungsstörung, wobei Schätzungen hier von einer Prävalenz von 2 % in der Bevölkerung ausgehen. Häufig sind auch andere Familienmitglieder betroffen (Barton und Corrow 2016). In unserer Klinik stellte sich eine Lehramtsstudentin vor, der es über die Dauer ihres Referendariats nicht gelang, die Gesichter ihrer Schüler zu lernen. Bereits ihre Mutter hatte berufliche Nachteile in ihrer Tätigkeit als Bankkauffrau erlebt, weil sie Stammkunden am Schalter nicht erkannte.
Erworbene Prosopagnosie nach normaler Entwicklung aller visuellen Fähigkeiten tritt im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung auf oder nach ischämischen Läsionen im rechten inferior-lateralen temporalen Kortex (Gyrus fusiformis).

Reine Alexie

Bei der reinen Alexie verlieren die Betroffenen die Fähigkeit, Wörter „auf einen Blick“ und ohne bewusste Anstrengung zu lesen. Der Begriff der reinen Alexie beschreibt einerseits den Umstand, dass die Betroffenen Wörter in der Regel mit allenfalls leichten Unsicherheiten schreiben können, diese mit zeitlichem Abstand aber nicht mehr erkennen (Alexia sine Agraphia). Andererseits besteht auch keine begleitende visuelle Agnosie, d. h., das Objekterkennen ist deutlich besser erhalten.
Bei ausgeprägter Alexie geht auch die Fähigkeit verloren, einzelne Buchstaben zu identifizieren. Vereinzelt können verschiedene Allografen, also Varianten eines Graphems (A, a; M, m), einander zugeordnet werden, aber das abstrakte Graphem kann nicht identizifiert werden. Bei einer leichter ausgeprägten Störung lesen Patienten buchstabenweise mit einem ausgeprägten Wortlängeneffekt (buchstabenweises Lesen; „letter-by-letter reading“). Das Lesen unterscheidet sich deutlich vom Lesen unbeeinträchtigter Personen, bei denen in der Regel kein Wortlängeneffekt beobachtet wird. Die von reiner Alexie Betroffenen können Wörter in der Regel deutlich besser schreiben und erkennen Wörter auch, wenn man sie ihnen buchstabiert. Die in der Regel ebenfalls vorliegende kontraläsionale Hemianopsie ist nicht ursächlich für die Lesestörung, denn nicht alle Patienten mit Hemianopsie haben auch eine Alexie mit dem ausgeprägten Wortlängeneffekt!
Tipp
Die terminologische Unterscheidung von Dyslexie und Alexie ist im Deutschen nicht konsistent. Vereinzelt findet sich die Empfehlung, die Vorsilbe „Dys-“ entwicklungsbedingten Störungen voranzustellen, während erworbene Störungen als Alexie zu bezeichnen sind. Andere Empfehlungen sind, eine „Alexie“ nur als die vollständig aufgehobene Lesefähigkeit zu benutzen und bei graduellen Beschwerden eine „Dyslexie“ zu verwenden. Beide Empfehlungen decken sich aber nicht mit der angelsächsischen Terminologie, wo auch erworbene Störungen des Lesens im Rahmen einer Aphasie als „Dyslexia“ bezeichnet werden.

Neglekt und Extinktion

Bei einem Neglekt kommt es zur Vernachlässigung von visuellen Reizen im kontraläsionalen Gesichtsfeld. Es handelt sich am ehesten um eine Beeinträchtigung bei der Ausrichtung der Aufmerksamkeit ins kontraläsionale Gesichtsfeld und eine Verschiebung der subjektiven Körpermitte nach ipsiläsional. Häufig sind auch andere Modalitäten betroffen, sodass Geräuschquellen fälschlicherweise ipsiläsional lokalisiert werden, Berührungen der kontraläsionalen Körperhälfte nicht wahrgenommen werden (sensibler Neglekt) oder der kontraläsionale Arm nicht verwendet wird, obwohl keine Parese besteht (motorischer Neglekt). Ein Neglekt ist deutlich häufiger nach einer rechtshemisphäralen Läsion und betrifft dann die linke Raum- und Körperhälfte. Spontanremissionen sind häufig, ein chronischer Neglekt sehr selten. Interessanterweise ist meist auch die visuelle Vorstellungskraft betroffen. In einem berühmten Experiment ließen Mailänder Forscher Neglektpatienten sich den Domplatz ihrer Heimatstadt vorstellen und beschreiben. Dabei fehlten je nach gewählter Perspektive auf dem Platz berühmte Gebäude links, die jedoch von den Betroffenen aufgezählt wurden, wenn sie mental die gegenüberliegende Perspektive einnahmen (Bisiach et al. 1979). Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 40 % der Patienten mit rechtshemisphäralen Läsionen initial von einem Neglekt betroffen sind (Esposito et al. 2021). Häufig ist ein Neglekt begleitet von einer Anosognosie, einem fehlenden Störungsbewusstsein. Eine verwandte Störung ist die Extinktion, bei der der kontraläsionale Reiz nur ignoriert wird, wenn gleichzeitig ipsiläsional auch ein Stimulus präsentiert wird. Galt die Extinktion früher als Residuum eines Neglekts, legen neuere Studien nahe, dass es sich um zwei unabhängige Defizite handelt.

Halluzinationen

Halluzinationen sind Wahrnehmungen, ohne dass entsprechende Reize in der Umwelt vorliegen. Visuelle Halluzinationen können verschiedene psychiatrische oder neurologische Ursachen haben. Sie treten u. a. bei Intoxikationen oder Delir auf. Im Rahmen von Bewegungsstörungen ergeben früh im Erkrankungsverlauf auftretende Halluzinationen den Verdacht auf ein atypisches Parkinsonsyndrom (Demenz mit Lewy-Körperchen; vgl. Leitlinien zur Demenz der DGN und DGPPN 2023). Auch bei M. Parkinson treten im Verlauf visuelle Halluzinationen gehäuft auf, u. a. verursacht durch die Überstimulation von mesolimbischen D3- und D4-Rezeptoren infolge der dopaminergen Medikation (Diederich 2022). Schließlich kann auch bei normalem Bewusstsein ein Sehverlust, etwa durch Schäden im Auge oder der Sehbahn, zu visuellen Wahrnehmungen im anopischen Gesichtsfeld führen (Charles-Bonnet-Syndrom).

Posteriore kortikale Atrophie

Die posteriore kortikale Atrophie ist ein komplexes Syndrom aus visuellen und räumlichen Beeinträchtigungen. Ursächlich ist in der Mehrzahl der Fälle eine untypisch verlaufende Alzheimer-Erkrankung. Als „untypisch“ gilt der Verlauf deswegen, weil die typischerweise sehr prominenten Gedächtnisstörungen zu Beginn einer Alzheimer-Erkrankung nicht beobachtet werden. Andere Ätiologien sind eine Erkrankung mit Lewy-Körpern, eine kortiko-basale Degeneration oder die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit.
Es handelt sich um eine seltene Erkrankung. Schätzungen zur Prävalenz liegen nicht vor. Gemäß einer Untersuchung bestehen etwa 5 % der Alzheimer-Fälle aus der Variante der posterioren kortikalen Atrophie (Crutch et al. 2017). Der berühmte Fall des „Mannes, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, die titelgebende Falldarstellung in Oliver Sacks‘ gleichnamigem Buch (Sacks 1985), ist wahrscheinlich ein Patient mit posteriorer kortikaler Atrophie gewesen (Hughes 2015).
Die Kernkriterien der PCA sind ein schleichender Beginn mit langsamem Fortschreiten, Ausschluss einer Tumorerkrankung, einer vaskulären Ursache, einer Schädigung im N. opticus, Chiasma oder Tractus opticus sowie Ausschluss internistischer Ursachen. Die kognitiven Beschwerden umfassen generell Symptome eines Balint- oder eines Gerstmann-Syndroms, darunter eine Simultanagnosie (Unfähigkeit, mehr als ein Objekt gleichzeitig wahrzunehmen), ein Defizit in der Raumwahrnehmung, eine visuelle Agnosie, eine räumlich-konstruktive Störung (auch als „konstruktive Apraxie“ bezeichnet), eine okuläre Apraxie (Beeinträchtigung der Blickbewegungen) und eine optische Ataxie (Störungen der Objektlokalisation bei Greifbewegungen und Fixationen) (Crutch et al. 2017). Es müssen aber nicht alle Symptome gleichzeitig auftreten, der Verlauf kann zudem individuell variieren und stärker die visuelle Identifikation oder räumliche Leistungen betreffen. Weil Sprache und Alltagsgedächtnis in der Frühphase der Erkrankung kaum betroffen sind, bleibt die Erkrankung meist länger unentdeckt. Die Betroffenen beklagen häufig Sehstörungen und stellen sich bei Augenärzten vor.

Diagnostik

Sehstörungen infolge zerebrovaskulärer Erkrankungen

Bei akutem Einsetzen neurologischer Symptome, die in der Regel asymmetrisch ausgeprägt sind, werden die akuten neurologischen Symptome mit Hilfe der NIH-Stroke Scale (NIHSS) beurteilt. Eine zerebrale Bildgebung sollte schnellstmöglich erfolgen, vorzugsweise mit CT oder MRT (Diffusionsbildgebung DWI). Das CT erlaubt die Abgrenzung zwischen Ischämie und Blutung.
Gesichtsfeldeinschränkungen können am Krankenbett mittels Fingerperimetrie geprüft werden, sollten aber im Verlauf fachärztlich mittels standardisierter Perimetrie dokumentiert werden.
Für die ausführliche Diagnostik der Objekterkennung stehen mindestens zwei standardisierte Testbatterien (Birmingham Object Recognition Battery, Routledge; Visual and Spatial Object Processing, VOSP, Pearson) zur Verfügung, die verschiedene Untertests für spezifische räumliche und visuelle Leistungen bieten. Zusätzlich sollte man schwarz-weiße Strichzeichnungen benennen lassen (Brille, Fahrrad, Zange, Ananas). Farbfotos sind, wenn sie Objekte mit typischer Farbe zeigen (Tiger, Banane), weniger gut geeignet.
Ein Neglekt wird in der Regel mittels einfacher visueller Tests geprüft. Erste Anhalte gibt oft schon eine orientierende Untersuchung. Die Betroffenen wenden sich spontan nur dem ipsiläsionalen Raum, in der Regel nach rechts, zu. Standardisierte oder halbstandardisierte Verfahren bestehen aus dem Markieren der Mitte mehrerer horizontaler Linien oder Durchstreichtests, bei denen auf einem Blatt bestimmte Symbole oder andere Reize markiert werden müssen. Typisch ist beim Linien halbieren eine Abweichung nach ipsiläsional (vgl. Abb. 1), bei Durchstreichtests das „Übersehen“ der Stimuli auf der kontraläsionalen Seite. Zur ersten Orientierung können diese Tests auch selbst erstellt werden, beispielsweise indem auf einem Blatt mit vielen verschiedenen Buchstaben ein bestimmter markiert werden soll. Dabei sollte das Blatt zentral platziert und saliente Reize links oder rechts vermieden werden.

Visuelle Störungen im Rahmen neurodegenerativer Erkrankungen

Bei schleichendem Beginn im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung hat sich die Vorstellung in einer spezialisierten Gedächtnisambulanz mit neuropsychologischer Untersuchung bewährt. Hier erfolgen die Objektivierung und Einordnung der Beeinträchtigung sowie Zuordnung zu Hirnregionen. Auch die Abgrenzung zwischen verschiedenen Demenzsyndromen sowie zur sog. Pseudodemenz im Rahmen einer Depression ist anhand testpsychologischer Profile möglich. Die weitere Diagnostik umfasst Biomarker im Liquor sowie eine strukturelle oder nuklearmedizinische Bildgebung (Positron-Emissions-Tomografie). Eine nuklearmedizinische Bildgebung (FDG-, Tau-, Amyloid-PET) kann dabei sensitiver sein als eine strukturelle Bildgebung (Chételat et al. 2020). Biomarker, die durch Untersuchung des Liquors identifiziert werden können, existieren gegenwärtig nur für M. Alzheimer und die CJD. Im Liquor stellen ein erhöhter Nachweis phosphorylierten Taus und eine erniedrigte Amyloid-Beta-Rate einen Marker für eine Alzheimer-Erkrankung dar. Die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung erfolgt mit dem Nachweis des Eiweißes 14-3-3. Im FDG-PET findet sich bei PCA ein Hypometabolismus okzipito-parietal oder okzipito-temporal (Crutch et al. 2017).
Tipp
Im frühen Stadium einer kortikalen Demenzerkrankung ist eine nuklearmedizinische Untersuchung (Positron-Emissions-Tomografie) sensitiver als ein strukturelles MRT. Ein unauffälliges MRT schließt damit eine beginnende Demenzerkrankung nicht aus.

Differenzialdiagnostik

Neurologische Differenzialdiagnostik

Das klinische Bild eines Schlaganfalls ist häufiger durch eine Ischämie verursacht als durch eine parenchymatöse Blutung. Die Abklärung erfolgt mittels CT oder MRT. Weitere Differenzialdiagnosen sind eine demyelisierende Erkrankung, eine metabolische Ursache, eine Migräne mit Aura oder ein epileptischer Anfall.
Bei schleichendem Beginn ist eine Pseudodemenz bei depressiver Episode auszuschließen. Mittels Bildgebung sollten außerdem vaskuläre Ursachen (Makro- oder Mikroangiopathie) ausgeschlossen werden. In vielen Fällen liegt eine sog. Mischdemenz, eine Komorbidität aus Alzheimer-Erkrankung mit vaskulärer Beteiligung, vor. Im Fall früh auftretender motorischer Symptome, insbesondere eines hypokinetisch-rigiden Syndroms, ist an eine Erkrankung mit Lewy-Körperchen zu denken. Typisch für eine Erkrankung mit Lewy-Körperchen sind auch visuelle Halluzinationen und ausgeprägte Fluktuationen. Kennzeichnend für das Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung als häufigste „kortikale Demenzerkrankung“ sind die guten Aufmerksamkeits- und sprachlichen Leistungen („erhaltene Fassade“). Es besteht oft keine kognitive oder psychomotorische Verlangsamung. Tests für die psychomotorische Verarbeitung können aber aufgrund eines räumlichen Defizits beeinträchtigt sein und als Verlangsamung fehlgedeutet werden. Zur Unterscheidung der typisch verlaufenden und einer atypisch verlaufenden Alzheimer-Erkrankung ist eine Untersuchung des Hirnstoffwechsels und eine neuropsychologische Untersuchung notwendig.

Neuropsychologische Differenzialdiagnostik

Gesichtsfelddefekte und Neglekt können Ursache für die beeinträchtigte Wahrnehmung im kontraläsionalen Gesichtsfeld sein. Klinisch kann die Unterscheidung zwischen Hemianopsie und Neglekt schwierig sein. Hinweise geben Kerkhoff und Schindler (1997): Ein Neglekt erstreckt sich oft auch auf andere Sinnesmodalitäten, geht oft mit einem eingeschränkten Störungsbewusstsein einher (Anosognosie), sodass sich nach Hinweisreizen allenfalls kurzzeitig eine Überwindung der linksseitigen Vernachlässigung erreichen lässt. Außerdem ist Neglekt ein rechtshemisphärales Phänomen, d. h., ein Neglekt nach rechts infolge einer linksseitigen Schädigung ist selten.
Eine visuelle Agnosie muss von Benennstörungen bei einer Aphasie (erworbener Sprachstörung) abgrenzt werden. Neben unterschiedlichen Hirnschädigungen unterscheiden sich die auftretenden Fehler: Visuell bezogene Fehler, etwa die Fehlinterpretation der Strichzeichnung einer Trillerpfeife als „Rolle Klebeband“ oder „Briefkasten“ oder der Strichzeichnung eines ausbrechenden Vulkans als „Gewitter“ (wegen der angedeuteten Rauchwolke) oder sogar „Blumenstrauß“ (im unteren Teil kegelförmig, im oberen Teil die Rauchwolke), legen eine visuelle Störung nahe. Im Unterschied dazu sind aphasische Fehler beim Benennen unabhängig von der visuellen Komplexität, betreffen eher seltene Zielwörter und sind eher semantisch, aber nicht unbedingt visuell ähnlich zum Zielwort (bspw. sind „Zange“ und „Hammer“ visuell unähnlich, aber in ihrer Bedeutung verwandt).
Die Abgrenzung zwischen einer typisch verlaufenden Alzheimer-Erkrankung und atypischer Alzheimer-Varianten erfolgt anhand des regional verminderten Stoffwechsels, des Atrophiemusters und des neuropsychologischen Profils. Kennzeichnend für die posteriore kortikale Atrophie sind herausragende Beeinträchtigungen visueller und räumlicher Leistungen bei besser erhaltenen episodischen Gedächtnisleistungen.
Tipp
Das Lesen von kurzen und längeren einzelnen Wörtern erlaubt eine erste Einschätzung, ob eine Alexie vorliegt und ist nach einem linksseitigen Posteriorinfarkt immer indiziert. Die zweisilbigen Wörter „Zeitung“ und „Fenster“ sind im Deutschen etwa so häufig wie die Wörter „Tür“ und „Arm“. Die Wörter sollten bspw. in Schriftgröße 24 kontrastreich auf einzelne Karten gedruckt sein. Eine deutlich längere Latenz bei den Zweisilbern mit sieben gegenüber drei Buchstaben mit Hinweisen auf buchstabenweises Lesen legt eine visuelle Störung und eine Alexie nahe. Das Abzeichnen der überlappenden Fünfecke aus dem Mini-Mental-Status-Test (MMST) ist sensitiv gegenüber räumlich-konstruktiven und visuellen Beeinträchtigungen (vgl. Abb. 2). Zudem sollte das Benennen von Strichzeichnungen (Zigarre, Tiger, Omnibus) geprüft werden.

Therapie

Therapien bei vaskulären Ereignissen

Ein Schlaganfall (ischämisch, hämorrhagisch) ist immer ein medizinischer Notfall. Neben der Überwachung der Vitalparameter ist das Ziel immer die schnellstmögliche Wiederherstellung der Durchblutung („time is brain“) (Ringleb et al. 2022). Im Fall einer Ischämie stehen eine systemische Thrombolyse mit rt-PA (Recombinant Tissue Plasminogen Activator) vorzugsweise innerhalb von 4–5 h und eine endovaskuläre Rekanalisation vorzugsweise innerhalb 6 h zur Verfügung. Diese erfolgen üblicherweise auf einer zertifizierten Stroke Unit. Im Fall eines akuten Verschlusses der proximalen Hirnarterien ist eine Kombination beider Therapien der reinen systemischen Thrombolyse überlegen (Frank et al. 2022). Eine Thrombolyse jenseits des angegebenen Zeitfensters erscheint gerechtfertigt, wenn eine Perfusionsbildgebung Hinweise ergibt, dass umliegendes Gewebe („tissue at risk“) gerettet werden kann.
Im Fall einer Blutung ergab die frühe Senkung des systolischen Blutdrucks auf unter 140 mmHg in Studien einen geringen klinischen Nutzen. Epileptische Anfälle, die bei ca. 40 % der Blutungen auftreten, sollten antikonvulsiv behandelt werden (Frank et al. 2022). Zur Vermeidung eines erhöhten intrakraniellen Drucks ist ggf. die Anlage einer externen Ventrikeldrainage angezeigt.

Therapieoptionen bei neurodegenerativen Erkrankungen

Im Fall einer neurodegenerativen Erkrankung (M. Alzheimer, Lewy-Körperchen-Demenz) existiert keine kausale Therapie. Für die typisch verlaufende Alzheimer-Erkrankung im leichten bis mittelschweren Stadium sind in Deutschland drei Acetylcholinesterase-Hemmer zugelassen (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin), die das Fortschreiten der Erkrankung initial etwas verlangsamen. Es ergaben sich positive Effekte auf Kognition und die Bewältigung von Alltagsaktivitäten. Bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz empfehlen DGN und DGPPN in ihren Leitlinien (2023) Memantin, einen NMDA-Rezeptor-Antagonisten. Es ergaben sich kleine Effekte für Kognition und Alltagsbewältigung. Im Jahr 2023 wurde in den USA der Wirkstoff Lecanemab zur Behandlung der Alzheimer-Erkrankung zugelassen, der bei frühem Erkrankungsstadium den kognitiven Abbau leicht, aber signifikant verlangsamen konnte (van Dyck et al. 2023).

Interventionen auf Verhaltensebene

Die neurokognitiven Beeinträchtigungen sollten nach einer ausführlichen Diagnostik mittels neuropsychologischer Trainings beübt werden. Vereinzelt werden diese auch von niedergelassenen Ergotherapeuten angeboten. Weil die beschriebenen neuropsychologischen Syndrome insgesamt selten sind, existieren kaum systematische Therapiestudien (Goldenberg 2006). Stattdessen werden für einzelne Betroffene kognitive Therapiemaßnahmen entwickelt und deren Erfolge mittels Therapiepausen und Prüfung ungeübten Materials evaluiert.
Bei der neuropsychologischen Rehabilitation unterscheidet man generell zwei Strategien, einerseits die Funktions- oder Restitutionstherapie mit dem Ziel der möglichst umfassenden Wiederherstellung oder Reaktivierung beeinträchtigter Leistungen, andererseits die Kompensation mittels erhaltener Leistungen. Generell ist dabei zu bedenken, dass spezifische Trainings in der Regel auch sehr spezifische Effekte ergeben und wenig auf andere Leistungen generalisieren (Owen et al. 2010). Im Falle einzelner neuropsychologischer Defizite sind die Möglichkeiten einer funktionellen Kompensation darüber hinaus begrenzt. Daher lohnt sich immer auch eine alternative Strategie, nämlich im Rahmen einer Kompensationsstrategie die Erarbeitung von Ausweichstrategien (Goldenberg 2006). Für fortschreitende Erkrankungen gilt entsprechend, dass man den Abbau kognitiver Leistungen einerseits zu verlangsamen sucht, andererseits Kompensationsstrategien einübt, um die größtmögliche Selbstständigkeit zu erhalten.
Im Fall von Gesichtsfelddefekten werden üblicherweise kompensatorische Augenbewegungen trainiert. Das von einem privaten Unternehmen angebotene visuelle Restitutionstraining (VRT) hat wenig nachweisbaren Nutzen erbracht (Reinhard et al. 2005). Bewusste Exploration ins kontraläsionale Blickfeld empfiehlt sich auch im Fall eines Neglekts.
Im Fall einer reinen Alexie existieren verschiedene Therapieansätze, die einerseits das Erkennen der Buchstaben verbessern sollen, andererseits mittels kurzer Präsentation von Wörtern den Aufbau eines Repetoirs an schnell zu identifizierenden Wörtern unterstützen (Leff und Starrfelt 2014).

Prognose und Verlauf

Eine ungünstigere Prognose für die Erholung von einem Schlaganfall ergibt sich generell für ältere Betroffene, solche, die nach dem Ereignis epileptische Anfälle hatten, bereits eine Atrophie oder subkortikale Schädigung im strukturellen MRT zeigten oder bereits einen Schlaganfall erlitten hatten sowie bereits zuvor kognitiv beeinträchtigt waren. Hyperglykämie und ein Diabetes waren mit einer schlechteren Prognose assoziiert. Der Nachweis eines APOE-E4-Allels erhöhte die Wahrscheinlichkeit persistierender kognitiver Beeinträchtigungen nach einem Schlaganfall. Supratentorielle und größere Infarkte sowie frontale Schädigungen haben eine schlechtere Prognose (Gottesman und Hillis 2010).
Weil nur eine begrenzte Zahl von Fallstudien zu den meisten visuellen neuropsychologischen Syndromen existiert, gibt es wenig belastbare Zahlen über die Prognose. Für Gesichtsfelddefekte berichtete eine Studie, dass sich bei 8 % der Betroffenen der Gesichtsfelddefekt komplett zurückbildete. Bei knapp 40 % stellte sich eine graduelle Besserung ein, während bei gut 50 % das Defizit persistierte (Rowe et al. 2013). Besserungen der Gesichtsfeldausfälle ergaben sich eher, wenn weniger Gewebe um den Pol des Hinterhauptlappens um die Fissura calcarinus (Gyrus lingualis, Cuneus) betroffen war. Ein linksseitiger Posteriorinfarkt war prognostisch tendenziell etwas günstiger (Kim et al. 2015).
Im Fall einer neurodegenerativen Erkrankung ist eine Heilung gegenwärtig nicht möglich. Die Lebenserwartung liegt bei der Alzheimer-Erkrankung bei 8–12 Jahren nach der Diagnose. Im Verlauf treten Beeinträchtigungen in weiteren kognitiven Domänen (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Rechnen, Praxis), motorische und Verhaltensänderungen sowie schließlich der Verlust der Selbstständigkeit auf. Tendenziell verläuft eine Demenzerkrankung mit frühem Beginn etwas schneller als bei spätem Beginn. Für die Alzheimer-Variante PCA ist aber auch ein etwas langsamerer Verlauf mit einer Lebenserwartung von über 10 Jahren möglich (Schott und Crutch 2019). Dabei verschlechtern sich die kognitiven Leistungen aber kontinuierlich.

Besondere Aspekte

Viele der neuropsychologischen Syndrome werden erst seit wenigen Jahrzehnten systematisch untersucht. In vielen Fällen überwiegen Studien mit kleinen Probandengruppen. Der Dokumentation von klaren Dissoziationen zwischen beeinträchtigten und erhaltenen visuellen Leistungen kommt eine herausragende Bedeutung zu. So ist beispielsweise im Fall der reinen Alexie umstritten, ob andere visuelle Leistungen jenseits des Lesens tatsächlich unbeeinträchtigt sind, oder ob nicht diskrete Einschränkungen vorliegen, jedoch in früheren Fallstudien unentdeckt geblieben sind (Leff und Starrfelt 2014). Für die Prosopagnosie als Entwicklungsstörung scheint gegenwärtig noch umstritten, ob es sich um eine qualitativ veränderte Wahrnehmung handelt oder die Betroffenen die schwächsten Personen auf einem normalverteilten Kontinuum von guten bis schwachen Leistungen darstellen (Barton und Corrow 2016). Im Fall einer assoziativen Agnosie ist gegenwärtig unklar, ob es sich um Einschränkungen des Weltwissens unabhängig von einer erhaltenen visuellen Verarbeitung handelt. Die umfassende Dokumentation von Dissoziationen, das heißt Unterschieden zwischen verschiedenen visuellen Leistungen, die ein selektives Defizit belegen, inkl. einer zufallskritischen statistischen Absicherung bei Betroffenen bleibt ein Auftrag für klinisch und wissenschaftlich tätige Kollegen.
Fallbeispiele
Fallbeispiel 1: Intrazerebrale Blutung mit parazentralem Skotom und Alexie
Der 68-jährige Ingenieur im Ruhestand stellte sich wegen persistierender visueller Beeinträchtigungen und einer deutlich eingeschränkten Lesefähigkeit in der Ambulanz einer neurologischen Universitätsklinik vor. Etwa 12 Monate zuvor hatte er eine intrazerebrale Blutung links erlitten. Vorausgegangen war 4 Jahre zuvor bereits ein ischämischer Schlaganfall, von dem der Proband kurzzeitig eine Aphasie davongetragen hatte, von der er sich aber gut erholt hatte. Die Blutung betraf den linken Thalamus und verursachte ein Skotom rechts (Abb. 3), das dem Betroffenen jedoch nicht bewusst war. Es wurde erst im Rahmen eines Konsils in der Neuroophthalmologie nachgewiesen.
Im Rahmen der neuropsychologischen Untersuchung wurden dem Patienten Wörter zum Schreiben und Lesen vorgegeben. Das diktierte Wort „Pistole“ schrieb er fehlerfrei. Eine halbe Stunde später wurde ihm das Wort „Pistole“ in Druckschrift zum Lesen präsentiert. Der Betroffene las „F F F Fusss Fiss Fisspolo Fiss, nein, ‚P‛, ‚I‛, ‚S‛, Pis... Pisto Pisto Pisto ‚L‛, ‚E‛, Pistolo, nein, Pisto. le, ach, Pistole!“. Bis zur korrekten Aussprache vergingen dabei etwa 50 s. Im Mittel brauchte er zum Lesen von Wörtern mit drei Buchstaben (Tal, Ohr, Bär) 2300 ms, für Wörter gleicher Häufigkeit, bestehend aber aus sieben Buchstaben (z. B. Scheune, Elefant, Fleisch), etwa 8300 ms. Bei gesunden Personen tritt für diese Wörter in der Regel kein Längeneffekt auf. Das flüssige Lesen von Texten, das sich über einen Zeitraum von 15 Jahren leider kaum gebessert hat, ist dem Betroffenen dadurch unmöglich. Im Kontakt sind Wortfindung und Sprachverständnis unauffällig, die Beeinträchtigung des flüssigen Lesens stellt die Haupteinschränkung im Alltag dar und ist wegen des besser erhaltenen Schreibens als „reine Alexie“ zu klassifizieren.
Fallbeispiel 2: Posteriore kortikale Atrophie
Die 55-jährige leitende Angestellte stellte sich ambulant in der Neurologie nach Überweisung seitens der Psychosomatik zum Ausschluss einer neurodegenerativen Erkrankung vor. Zu diesem Zeitpunkt bestand seit 4 Jahren eine psychosomatische Betreuung aufgrund einer affektiven Erkrankung und des Verdachts auf „Burn out“. Die Betroffene berichtete von einem zunehmenden Gefühl der Überforderung in ihrer beruflichen Tätigkeit als Amtsleiterin.
Zweimal war es zu Sachschäden beim Ein- bzw. Ausparken des eigenen PKW gekommen. Mehrere Mal hatte sich die Betroffene zudem auf dem Weg zur Arbeit verfahren. Sie berichtete, dass ihr das Lesen zunehmend schwerfalle, weil sie beim Lesen von Absätzen oft in der Zeile verrutschen würde.
Orientierung, Spontansprache und formale Gedächtnisleistungen waren unauffällig. Das Benennen nach Definition (Wie heißt das graue Tier mit dem Rüssel? Wie heißt das Tier mit den beiden Höckern?) war unbeeinträchtigt. Bei Präsentation von Strichzeichnungen traten visuelle Fehler auf. Die Strichzeichnung einer Mundharmonika wurde als „Matratze, nein, ein Krankenhaus oder eine Fabrik“ identifiziert. Beim Lesen von einzelnen, ausreichend groß gedruckten Nomina kam es vereinzelt zu Fehlidentifikationen (das präsentierte Wort „Strand“ wurde als „Standort“ gelesen, das Zielwort „Biber“ als „Bier“). Liquoruntersuchung (erhöhtes Tau, reduziertes Amyloid-Beta), nuklearmedizinische Untersuchung (rechtsbetoner Hypometabolismus temporoparietal, lateral bis okzipital reichend sowie im Precuneus) und Klinik waren vereinbar mit einer posterioren kortikalen Atrophie. Der Patientin wurde Donezepil verschrieben, sie ging im Anschluss an die Vorstellung in der Neurologie in den vorzeitigen Ruhestand. Eine antidepressive Medikation führte zu einer deutlich gebesserten Stimmung und Krankheitsverarbeitung.
Tipp
Bei fortwährenden objektivierbaren oder subjektiv empfundenen Einschränkungen der visuellen Wahrnehmung ohne augenärztlich nachweisbare Ursache ist eine posteriore kortikale Atrophie zu erwägen, und es empfiehlt sich die Vorstellung beim Neurologen.

Zusammenfassung

Sofern für visuelle oder räumliche Beeinträchtigungen eine ophthalmologische Ursache ausgeschlossen werden kann, sollte eine fachneurologische und neuropsychologische Abklärung erfolgen.
Plötzlich auftretende Gesichtsfeldeinschränkungen sind ein Hinweis auf kontralaterale Schädigungen der Sehbahnen oder des visuellen Kortex.
Etwa 40 % der von einer rechtshemisphäralen Ischämie betroffenen Personen leiden zumindest initial an einem Neglekt, d. h. einer Vernachlässigung des kontraläsionellen Raumes.
Ischämien im Posteriorstromgebiet links können eine reine Alexie verursachen, Läsionen im Posteriorstromgebiet rechts eine Prosopagnosie.
Im Falle früher und prominenter visueller und räumlicher Störungen, die sich verschlechtern, kann das klinische Syndrom einer posterioren kortikalen Atrophie vorliegen, in der Regel im Rahmen einer atypisch verlaufenden Alzheimer-Erkrankung. Neben der neurologischen Abklärung sollte eine nuklearmedizinische Bildgebung veranlasst werden.
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