Geburtshilfliches Vorgehen bei extremer Frühgeburtlichkeit
Das Management der drohenden extremen Frühgeburtlichkeit bei normalem Chromosomensatz und ohne Fehlbildungen stellt eine der häufigsten Beratungssituationen im klinischen Alltag dar. Sie läuft vorwiegend als gemeinsames ethisches Dilemma ab, bei dem das Benefizienzprinzip für den Fetus im Vordergrund steht und in dem die Patientin vom Arzt Entscheidungshilfe zwischen verschiedenen Therapiealternativen erwartet. Selten kommt es zum Konflikt über die Verweigerung einer Therapie, wie z. B. der
Tokolyse oder der Lungenreifung.
Bei Kindern in der 23.–25. SSW sind in jüngster Zeit große Fortschritte durch aktives perinatologisches Management (
Tokolyse, Lungenreifung, Antibiotikaeinsatz,
Sectio caesarea, künstliches Surfactant,
Hochfrequenzbeatmung etc.) erzielt worden, die Morbidität und Mortalität ist in dieser Gruppe aber noch immer hoch (Marlow et al.
2005). Die derzeitige Untergrenze für potenzielles Überleben ist die vollendete 23. SSW (=23 + 0 bis 23 + 6); die zu erwartenden Geburtsgewichte der Neugeborenen liegen inSSW 23–25 bei 500–750 g. Es existieren zwar anekdotische Berichte über ein morbiditätsfreies Überleben von Kindern vor der 23. SSW, diese können jedoch nicht als Basis für Routineentscheidungen herangezogen werden.
Die Prognose der Mortalität und Morbidität des Neugeborenen ist eng an den jeweiligen Standard der perinatologischen Einheit gebunden und somit örtlich und zeitlich sehr variabel. Als Entscheidungsgrundlage für Patientin und Arzt müssen die Ergebnisse der eigenen perinatologischen Einheit und nicht die internationale Literatur herangezogen werden (Obladen et al.
1994).
Die prognostische Unsicherheit schließt die Bandbreite zwischen dem Tod, einer lebenslangen schweren Behinderung, einer milden Behinderung und einem unbehinderten Leben ein. Die besondere Schwierigkeit wird dadurch illustriert, dass es durchaus unklar ist, ob man „durch aktives Handeln oder durch Zuwarten größeren Schaden anrichtet oder Nutzen stiftet“ (Hepp, persönliche Mitteilung). Diese Einsicht richtet sich zu Recht gegen eine unkritische Maximaltherapie, die oft als Ausweg und Scheinlösung gewählt wird, um sich nicht in Differenzierungen und Entscheidungsitutationen begeben zu müssen. In der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass Verzicht auf eine integrierte, aktive Therapie von Geburtshilfe und Neonatologie im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ zu schlechten Ergebnissen führte. Daher wird heute ab der SSW 24 ein proaktives Management bevorzugt.
Die möglichen Entscheidungsdilemmata betreffen das gesamte Spektrum perinatologischer Interventionen. Sie reichen von der Frage der Sectio aus kindlicher Indikation an der Grenze der Lebensfähigkeit bis zu neonatologischen Fragen der Reanimation, der „comfort care“ oder der
Beatmung. Bei Blasensprung und/oder Amnioninfekt in der SSW 18–22 („extremely premature preterm rupture of membranes“; EPPROM) sind die Ergebnisse derart ungünstig, dass der
Schwangerschaftsabbruch eine mögliche Therapiealternative darstellt und in den USA auch in einem relativ hohen Prozentsatz (39 %) gewählt wird (Falk et al.
2004).
Sowohl im Konsensfall, d. h. bei gleicher Einschätzung durch Arzt und Patientin, als auch im Konfliktfall, d. h. bei Patientenwunsch nach Therapieabbruch, stellt die autonome Entscheidung der Schwangeren das Bindeglied zwischen dem vorlebensfähigen Fetus und dem späteren Kind dar. Mit ihrer Entscheidung kann die schwangere Frau dem vorlebensfähigen Kind den „Status eines Patienten“ (McCullough und Chervenak
1994) übertragen oder eben nicht und – beraten durch den Arzt – eine dementsprechende Auswahl aus dem therapeutischen Angebot treffen. Im strukturierten Gespräch (Abschn.
2.2) mit der Schwangeren (und ihrem Partner) wird also zu erarbeiten sein:
-
Welche Bedeutung hat dieses spezielle Kind und diese Schwangerschaft im gesamten Lebenszusammenhang?
-
Was bedeutet der Nutzen einer Therapie für das Kind?
-
Welches Ergebnis eines geburtshilflichen Vorgehens hätte welche Folgen für die Eltern?
-
Wie stehen sie zu einer eventuellen Behinderung des Kindes?
Die Beratung und das klinische Vorgehen werden sich in einem abgestuften Modell stark nach dem Gestationsalter und dem physiologischen Reifegrad des Fetus orientieren. Die Direktivität des Gespräches kann dann etwa nach dem folgenden Rahmen vorgenommen werden (modifiziert nach McCullough und Chervenak
1994):
Dieser Rahmen kann eine erste Ausgangsbasis bilden, die dann mit den Wertvorstellungen der Schwangeren/des Paares verglichen wird. Von größter Bedeutung ist das gemeinsame Gespräch mit dem später für das Neugeborene verantwortlichen Neonatologen, um die Einheitlichkeit des Vorgehens herzustellen und zu signalisieren. Die Entscheidung wird dann meist in einem gemeinsamen Gespräch dieser 3 Parteien fallen. In jedem Fall sollte der Frau/dem Paar eine kontinuierliche klinisch-psychologische Betreuung angeboten werden.
Schwangerschaftsabbruch aus genetischer oder Fehlbildungsindikation
Nur ein kleiner Teil der im späteren Leben als behindert bezeichneten Menschen leidet an einer Erkrankung, die auch pränatal zu diagnostizieren gewesen wäre.
Dies bedeutet, dass die Gesellschaft auch bei Anwendung der
Pränataldiagnostik und des Abbruchs aus medizinischer Indikation auf jeden Fall weiter aktiv an einer behindertengerechten Gestaltung der Alltagswelt arbeitet und dass parallel zur Ausweitung der PND und ohne Widerspruch zu ihr die Gesellschaft behindertengerechter wurde. Des Weiteren lassen Vertreter aller Positionen innerhalb des Spektrums möglicher Fehlbildungen irgendeine Form von Relativierung zu (Holzgreve
1995): So verweigert niemand ernsthaft den Wunsch nach Abbruch bei Anenzephalie, niemand befürwortet ihn bei Hexadaktylie. Bei Anwendung dieser Überlegungen wird es möglich sein, viele Diagnosen in unterschiedlichen Gestationsaltern außer Streit zu stellen und so zur Vertrauensbildung zwischen den unterschiedlichen Positionen beizutragen.
Doch selbst wenn man eine grundsätzlich flexible Position zu einzelnen Indikationen einnimmt, bleibt es für viele eine irritierende Erkenntnis, dass es keinen feststehenden Kanon von Diagnosen geben kann, die einen Abbruch rechtfertigen. Der Konsens darüber ist historisch und kulturell beeinflusst und muss immer wieder neu erarbeitet werden. Manchmal wird das Vorliegen einer Chromosomenaberration als entscheidendes oder sogar einziges Kriterium herangezogen; ein internationaler Vergleich zeigt jedoch, dass z. B.
Aneuploidien der Geschlechtschromosomen (z. B. 45 X0, 47 XXY) in deutschsprachigen Ländern praktisch nicht, in anderen Kulturen aber sehr wohl als Indikation angesehen werden. Weitgehende Übereinstimmung herrscht in Industrieländern darüber, dass Geschlechtsselektion
(„Gendering“) von Feten abzulehnen ist, wobei auch hier Gegenstimmen erhoben wurden.
Angesichts milder chromosomaler und schwerer somatischer Fehlbildungen sollte eine möglichst gesamtheitliche Evaluation der späteren kindlichen Entwicklungschancen Ausgangspunkt des Entscheidungsprozesses sein.
Manche schweren somatischen Fehlbildungen, die frühzeitig (12.–16. SSW) diagnostiziert werden können, weisen zwar keine Chromosomenaberration und keine Beeinträchtigung des kognitiven Entwicklungpotenzials auf, lassen aber doch eine massiv behinderte kindliche Entwicklung mit dementsprechender Belastung der Eltern erwarten. Bei der Bewertung des Schweregrades dieser Fehlbildungen werden Arzt und Patientin die schwierige Abwägung zwischen den Extremen von Gesundheits- bzw. Perfektionsvorstellungen vom Kind einerseits und der Unantastbarkeit des Lebens andererseits vornehmen müssen. An zwei häufigen Diagnosen,
Trisomie 21 und rechtsseitigen
Zwerchfellhernien, wird das Auseinanderklaffen zwischen den zweifellos vorhandenen Lebensaussichten der Kinder bei meist guter sozialer Integrationsfähigkeit einerseits und der narzisstischen Kränkung der Eltern andererseits besonders deutlich. Die derzeit geübte Praxis – maximaler Aufwand zur Entdeckung und „Elimination“ der Trisomie, hingegen sehr zurückhaltende Einstellung bei Diaphragmahernien – offenbart die bestehenden Widersprüche, die nicht weiter auflösbar sind.
Daher kommt den Verfahrensregeln für die Entscheidung und die Durchführung eines Abbruchs im 2. Trimenon besondere Bedeutung zu. Die wesentlichsten sind in der Übersicht gelistet.
Die Frage des
Schwangerschaftsabbruchs im 2. Trimenon ist an Perinatalzentren mit einem Schwerpunkt in
Pränataldiagnostik ein häufiges Problem. Dies bringt zwar einerseits beträchtliche psychische Belastungen für das Personal mit sich, andererseits aber auch eine professionelle Routine bei den Entscheidungsabläufen und eine große Vergleichsbasis (Langer et al.
1990). Einzelne Gynäkologen dürfen keinesfalls zu Eingriffen herangezogen werden, die sie innerhalb ihres ethischen Rahmens nicht billigen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit relevanten Fachkollegen, wie Neonatologen, pädiatrischen Kardiologen, Kinder- und Neurochirurgen etc. gewährleistet eine Medizin „state of the art“ und den notwendigen, kontinuierlichen Diskussionsprozess.
Besonders seltene Konstellationen, wie frühes, schweres
fetofetales Transfusionssyndrom mit der Fragestellung des Fetozids bei einem Mehrling, um dem anderen eine Chance zu bieten, wird nur ein sehr erfahrenes Zentrum lösen können.
Im seltenen Fall der Geburt eines Kindes mit einer bis dahin nicht bekannten und möglicherweise nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Fehlbildung sollten die betreuenden Neonatologen einen evtl. Therapieabbruch unter Berücksichtigung des Begriffs „futility“ mit den Eltern diskutieren.
Diese Ultima ratio darf aber nicht von vornherein in das Gesamtkonzept einkalkuliert werden, sondern die ethischen Probleme der
Pränataldiagnostik und des
Schwangerschaftsabbruchs im 2. Trimenon müssen durch konsequente Argumentation innerhalb der
Pränatalmedizin und zeitlich innerhalb der Schwangerschaft gelöst werden.
Das Groningen-Protokoll
wurde von der Holländischen Gesellschaft zum Umgang mit Neugeborenen mit schweren Fehlbildungen, wie Spina bifida, vorgeschlagen. Es kann vor dem Hintergrund des Standes der
Pränataldiagnostik in Holland verstanden werden, der nicht vergleichbar mit anderen westeuropäischen Ländern war, und steht im Kontext der Euthanasieregelung in den Niederlanden. Das Groningen-Prokokoll hat heftige Reaktionen hervorgerufen, wie z. B. vom Medizinethiker F. Chervenak, der es „als klinisch unnötig, unwissenschaftlich und unethisch“ bezeichnet und auffordert, es zu widerrufen (2009). Analog argumentiert auch die österreichische Rechtsordnung, die auf den Begriff des „Geburtsbeginns“ abstellt, nach dem eine Tötung nicht mehr straffrei möglich ist und im Extremfall als Mord geahndet werden kann (Abb. 55.1).
Die bisherigen Überlegungen gingen von einem geteilten Dilemma zwischen Patientin und Betreuer aus. Wünscht die Schwangere jedoch einen Abbruch, während die Abteilung nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen ist, dass bei der vorliegenden Fehlbildung keine Indikation vorliegt, dann besteht ein ethischer Konflikt. Die Betreuer haben dann – entsprechend den Grundsätzen einer Diskursethik – die Verpflichtung, die Patientin an eine andere Abteilung zuzuweisen, die den Abbruch evtl. doch durchführt. Eine Abteilung, die
Pränataldiagnostik anbietet, sich aber aus Gewissengründen weigert, überhaupt irgendwelche Abbrüche aus medizinischer Indikation durchzuführen, wird sich ernsthaft mit den eigenen Widersprüchen auseineinandersetzen müssen.