Wie in den vorangehenden Abschnitten dargelegt, erfordert auch ein normaler, komplikationsloser Schwangerschafts- und Geburtsverlauf beträchtliche Adaptationsprozesse. Treten Probleme auf – sei dies im körperlichen, psychischen oder sozialen Bereich, so haben diese in der Regel wechselweise Auswirkungen aufeinander und können nur verstanden und angegangen werden, wenn die jeweiligen anderen Ebenen mitberücksichtigt werden. Die psychosoziale Komponente kann dabei hauptverantwortlich (negierte Schwangerschaft), ein anzunehmender Kofaktor (Hyperemesis, peripartale Depression) oder eine Folge sein (Nachweis kindlicher Fehlbildungen bei der PND, intrauteriner Fruchttod). Den Besonderheiten dieser Komponenten in Bezug auf die einzelnen Probleme und Fragestellungen widmen sich die nachfolgenden Abschnitte.
Hyperemesis gravidarum
Übelkeit und Erbrechen sind weitverbreitete Beschwerden in der Frühschwangerschaft. Sie beginnen etwa in der 6.–8. Schwangerschaftswoche und klingen in der Regel zu Beginn des 2. Trimenons ab. Bei gut 50 % der Schwangeren kommt es neben der Übelkeit auch zum Erbrechen und bei 0,3–1,5 % entwickelt sich eine Hyperemesis gravidarum (HG), die schwere Form des Schwangerschaftserbrechens, die nicht selten bis gegen Ende des 2. Trimenons anhält und eine der häufigsten Ursachen für Hospitalisationen in der Frühschwangerschaft ist.
Eine Hyperemesis gravidarum ist charakterisiert durch andauerndes Erbrechen ab dem ersten Trimenon ohne andere identifizierbare Ursache; sie kann begleitet sein von einem Gewichtsverlust von mehr als 5 % des Körpergewichts, Dehydratation und Elektrolytentgleisung.
Die Ätiologie der HG ist nach wie vor nicht geklärt. Frühere Theorien, wonach psychische Mechanismen wie Konversion oder Konditionierung maßgebend sein könnten, ließen sich nicht erhärten. Hohe Spiegel des humanen Choriongonadotropins (hCG) werden für die HG verantwortlich gemacht, wobei die Studienresultate zur Rolle des hCGs uneinheitlich sind. Neuerdings wurde mit dem growth differentiation factor GDF15 ein anderes plazentares Hormon identifiziert, dessen Erhöhung mit einer Verstärkung des Schwangerschaftserbrechens assoziiert ist (Fejzo et al.
2019). Insgesamt spricht viel für eine multifaktorielle Pathogenese, bei der neben diesen endokrinen auch genetische und gastrointestinale Faktoren sowie psychosoziale Aspekte eine Rolle spielen (Edozien
2017a). Letztere tragen auf jeden Fall maßgeblich zur Aufrechterhaltung und Verstärkung der Symptomatik bei. Obwohl die Symptome der HG bei allen Frauen Stress auslösen, deuten Studienresultate darauf hin, dass bei Migrantinnen der zusätzliche Migrationsstress, verbunden mit dem Verlust der familiären Unterstützung und fehlendem Verständnis seitens der Familie, wesentlich zum besonders hohen Leidensdruck beitragen (Groleau et al.
2019).
Im Hinblick auf eine erfolgreiche Behandlung sollten auf jeden Fall konkrete Stressoren, wie z. B. Partnerschaftskonflikte, die Erwünschtheit der Schwangerschaft, Schwierigkeiten mit der Familie oder am Arbeitsplatz identifiziert werden. Nicht selten ist eine vorübergehende Hospitalisation notwendig, nicht nur zum Volumen- und Elektrolytersatz, sondern auch zur Identifizierung dieser Stressoren und um die psychosoziale Unterstützung in die Wege zu leiten.
Häusliche Gewalt
Häusliche
Gewalt während der Schwangerschaft stellt ein ernstzunehmendes Public-Health-Problem dar, mit erheblichen negativen gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Frauen und Kinder. Es gibt verschiedene Definitionen häuslicher Gewalt; nachstehend ist jene der Istanbul-Konvention des Europarats wiedergegeben (Istanbul Convention on violence against women and domestic violence
2011).
Der Begriff „
häusliche Gewalt“ bezeichnet alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher
Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen bzw. Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter bzw. die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte.
Gemäß der Literatur erfahren zwischen 3 und 9 % der Frauen häusliche
Gewalt während der Schwangerschaft, wobei der Prozentsatz beim Vorliegen gewisser Risikofaktoren deutlich höher sein kann. Zu diesen gehören junges Alter, alleinstehende Frauen, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und Armut (Alhusen et al.
2015). Studien, bei denen Schwangere nicht nur im 1. Trimenon, sondern wiederholt befragt wurden, ergaben höhere
Prävalenzen. Bei gewissen von Gewalt betroffenen Frauen erweist sich die Schwangerschaft als protektiver Faktor, aber es kommt nicht selten vor, dass häusliche Gewalt während der Schwangerschaft zum ersten Mal oder häufiger als zuvor ausgeübt wird. Dies kann vor allem dann der Fall sein, wenn die Schwangerschaft nicht geplant war, für den Partner unerwünscht ist oder dieser anzweifelt, dass er der Kindsvater ist.
Gewaltbetroffene Frauen nehmen die Schwangerschaftskontrollen weniger regelmäßig wahr, ernähren sich schlechter,
rauchen häufiger und konsumieren eher Alkohol
sowie andere psychotrope Substanzen
mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Kind. Demzufolge ist es wichtig, gewaltbetroffenen Frauen in präventiver Hinsicht so früh wie möglich Hilfe zukommen zu lassen. Aus Scham-, Schuld- oder Angstgefühlen sprechen betroffene Frauen allerdings selten von sich aus über häusliche
Gewalt. Gleichzeitig haben Studien gezeigt, dass sich von Gewalt betroffene Frauen am häufigsten an Institutionen des Gesundheitswesens wenden und in diese am meisten Vertrauen haben (Gloor und Meier
2004). Dementsprechend ist es eine wichtige Aufgabe der in die Schwangerenbetreuung involvierten Fachpersonen, Gewaltbetroffene zu identifizieren und ihnen Unterstützung anzubieten. Dies sollte durch aktives Nachfragen mit Taktgefühl, aber auch ohne Beschönigung, erfolgen. Einerseits ist dies sicher immer indiziert, wenn Verdachtsmomente bestehen, andererseits werden Schwangere in gewissen Geburtskliniken auch routinemäßig auf häusliche Gewalterfahrung angesprochen. Ist die Frage entsprechend formuliert und zum Beispiel in die Erklärung eingebettet, dass es sich um eine Routinefrage handelt, die in Anbetracht der hohen
Prävalenz von häuslicher Gewalt eingeführt wurde, dann stößt sie in der Regel auf gute Akzeptanz bei den Befragten. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass eine solche Frage unbedingt wahrheitsgemäß beantwortet wird, weiß die Frau zumindest, dass die Betreuenden für das Thema sensibilisiert sind und Ansprechpartner wären. Als solche sollten sie den Betroffenen offen, unterstützend und respektvoll begegnen, ohne dabei den Anspruch zu haben, die zugrundeliegenden Probleme lösen zu müssen. Entscheidend ist es hingegen, die lokalen Anlaufstellen und Unterstützungsangebote zu kennen.
Negierte Schwangerschaft
Es gibt wohl keine FrauenärztIn, die während ihrer Berufskarriere nicht mindestens einmal die Situation erlebt hat, dass eine Frau wegen akuter Bauchbeschwerden eine Notfallstation aufsucht und sich dann herausstellt, dass sie hochschwanger und unter der Geburt ist, ohne von dieser Schwangerschaft gewusst zu haben. Die
Prävalenz sog. negierter Schwangerschaften
liegt bei ca. einer auf 475 Schwangerschaften. Man versteht darunter Schwangerschaften, die erst nach der 20. Woche diagnostiziert werden, bei denen subjektive Zeichen der Schwangerschaft bis zu diesem Zeitpunkt fehlen und bis dahin auch keine Schwangerenvorsorge stattgefunden hat. Bei etwa einem Drittel der Fälle erfolgt die Diagnosestellung erst zum Zeitpunkt der Geburt (Wessel et al.
2007). Die Verdrängung oder Negation der Schwangerschaft kann vollständig oder auch nur partiell sein, und es können unterschiedliche, teils bewusste, teils unbewusste Beweggründe maßgebend sein.
Die Annahme, dass soziale Isolation, verminderte Intelligenz, tiefer Sozialstatus, Unreife, junges Alter, Alleinstehende, Naivität und Unwissenheit Risikofaktoren für die Verdrängung einer Schwangerschaft sein könnten, erwies sich nicht als stichhaltig. Einzig für sehr junges und fortgeschrittenes reproduktives Alter, fehlenden Migrationshintergrund, instabile soziale Situation und instabile Partnerschaft ergab sich diesbezüglich Evidenz (Wessel et al.
2007). Allerdings lassen sich die meisten Frauen nicht durch Risikofaktoren identifizieren. Vielmehr scheint es sich um eine sehr heterogene Population zu handeln.
Wie kann es sein, dass keinerlei Schwangerschaftsveränderungen wahrgenommen werden und die Schwangerschaft auch nicht vom Umfeld, d. h. vom Partner und ärztlicherseits erkannt wird? Bei der
Schwangerschaftsverdrängung scheint es sich um einen intrapsychischen Prozess zu handeln, bei dem die innerpsychisch nicht programmierte Schwangerschaft nicht realisiert wird. Werden die tiefgreifenden hormonellen, organischen und psychischen Veränderungen während der Schwangerschaft in erster Linie krisenhaft und destabilisierend erlebt, so können sie statt eines Reifungsprozesses Schutzmechanismen wie
Regression und Verdrängung in Gang setzen. Die Schwangerschaftsverdrängung wäre dann als Versuch einer inneren Stabilisierung bzw. als Anpassungsstörung zu verstehen. Schwangerschaftssymptome werden im Sinne einer Rationalisierung umgedeutet als Verdauungsbeschwerden oder menstruationsartige Blutungen, und typische körperliche Veränderungen zum Teil gar nicht wahrgenommen.
Mit der
Schwangerschaftsverleugnung kann sich die Schwangere im Sinne eines Schutzes nach außen einer Fremdbeeinflussung durch den Partner oder die Eltern und damit einem Druck in Richtung
Schwangerschaftsabbruch entziehen, und umgekehrt im Sinne eines Schutzes nach innen der eigenen Ambivalenz aus dem Wege gehen. Die Verleugnung ermöglicht es, die Auseinandersetzung mit der Realität zu vermeiden.
Jens Wessels, auf den viele der geschilderten Erkenntnisse zurückgehen, untersuchte auch die Auswirkungen der Schwangerschaftsverdrängung auf die Neugeborenen bzw. die Mutter-Kind-Beziehung. Dabei zeigte sich, dass das Outcome Neugeborener aus verdrängten Schwangerschaften im Vergleich mit der Gesamtheit der im Berliner Geburtenregister erfassten Kinder signifikant schlechter war bezüglich
Frühgeburten, Geburtsgewicht und Mangelgeburt, Aufnahme auf die neonatologische Intensivstation (NICU) sowie der Häufigkeit von Kaiserschnitten und vaginal operativen Geburten (Wessel et al.
2003).
Die Betreuenden sollten Frauen nach negierter Schwangerschaft darin unterstützen, mit der Tatsache, dass sie ein Kind geboren haben, vertraut zu werden, und darin bestätigen, dass sie nicht „abnormal“ und negierte Schwangerschaften gar nicht so selten ist. Darüber hinaus sollten sie psychologische Unterstützung in die Wege leiten und unter Einbeziehung des zur Verfügung stehenden Sozialdienstes ein Betreuungsnetz organisieren.
Entscheidend ist eine vorurteilsfreie und multidisziplinäre Herangehensweise. Dabei sollte die Schwangerschaftsverdrängung nicht banalisiert und allen Frauen, auch denen mit partieller Verdrängung, eine Nachbetreuung angeboten werden.
Dem
Infantizid, d. h. der Tötung des Neugeborenen durch die Mutter innerhalb der ersten 24 h nach der Geburt, geht sehr häufig eine negierte Schwangerschaft voraus. Es handelt sich um ein seltenes Ereignis und die
Prävalenz liegt in Deutschland bei ca. 4 pro 100.000 Geburten. Während früher der Infantizid mit dem Stigma illegitimer Kinder unverheirateter Frauen in Verbindung gebracht wurde, zeigte eine registerbezogene Studie aus den beiden Ländern Österreich und Finnland, dass die Mehrheit der Täterinnen in einer stabilen Partnerschaft lebte (Amon et al.
2012). Die Angst vor dem Verlassenwerden und vor negativen Reaktionen waren die Hauptgründe für das Negieren der Schwangerschaft. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit waren häufig bei diesen Frauen. Sofern sie bereits Kinder hatten, waren viele aufgrund prekärer sozialer Verhältnisse fremdplatziert. Infantizid könnte dementsprechend als extreme Reaktion auf den früheren Kindsverlust interpretiert werden. Denkbar ist auch, dass die früheren eigenen Traumatisierungen reaktiviert werden und negative Assoziationen gegenüber dem Feten auslösen. Die Studie hat die Bedeutung einer psychosozialen Unterstützung betont. Diese zu gewährleisten, dürfte die erfolgversprechendere Strategie sein als die Einrichtung von Babyklappen
und das Angebot anonymer Geburten
. Eine Alternative für Frauen, die die Geburt ihres Kindes vor der Umgebung verheimlichen müssen, ist die sog. „vertrauliche Geburt
“, bei der die Schwangere unter einem Pseudonym gebiert, das Recht des Kindes, seine Wurzeln zu kennen, aber gewährleistet ist.
Vorzeitige Wehentätigkeit, Frühgeburtlichkeit, Präeklampsie
Konkrete Anhaltspunkte, um eine
Frühgeburt vorauszusagen, sind auch heute noch limitiert. Umso wichtiger ist es, eventuelle psychosoziale Risikofaktoren zu identifizieren, die möglicherweise ein Ansatzpunkt für präventive Intervention sein könnten. Mögliche biologische Mediatoren, die für die Auswirkungen von psychosozialem Stress auf die
vorzeitige Wehentätigkeit und
Frühgeburtlichkeit in Frage kommen, sind neuroinflammatorische, immunologische und neuroendokrine Prozesse, wobei vor allem
Kortisol als Mediator der physiologischen Stressantwort und die durch psychosozialen Stress aktivierte hypothalamische Freisetzung des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH) eine Rolle zu spielen scheinen. Zudem werden stressassoziierte Verhaltensweisen wie
Rauchen, Suchtmittelkonsum und Mangelernährung mit Frühgeburtlichkeit in Verbindung gebracht (Shapiro et al.
2017). Nicht die sozioökonomische Benachteiligung per se sondern der dadurch bedingte Stress scheint dabei maßgeblich zu sein. Verschiedentlich wurde nach Möglichkeiten gesucht, über stressreduzierende Interventionen die vorzeitige Wehentätigkeit zu reduzieren, und es gibt Hinweise dafür, dass mit Entspannungstechniken gewisse biologische Stressparameter gezielt beeinflusst werden können (Urech et al.
2010). Darüber hinaus sind solche Interventionen auf jeden Fall wichtig, um Schwangeren zu helfen, mit den tokolysebedingten persönlichen Einschränkungen und den Ängsten bezüglich des Wohlergehens ihres Kindes besser zurechtzukommen.
Auch betreffend die
Präeklampsie weisen einzelne Studienresultate auf einen Zusammenhang mit psychosozialem Stress hin. So scheinen Depressionen und Ängste vor oder während der Schwangerschaft das Präeklampsierisiko um das 2- bis 3-Fache zu erhöhen, und auch beruflicher und sonstiger Stress während der Schwangerschaft waren mit einer Risikoerhöhung verbunden (Yu et al.
2013). Auch hier dürften die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse
und die Auswirkungen der Kortisolerhöhung auf die uteroplazentare Durchblutung maßgebend sein (van Esch et al.
2020). Diese Resultate sind ein zusätzlicher Hinweis dafür, dass es essenziell ist, psychosoziale Stressoren und Interventionen zu deren Minderung zu identifizieren.
Glücklose Schwangerschaft
Als glücklos können all jene Schwangerschaften bezeichnet werden, die erwünscht waren und vorzeitig mit dem Verlust des Kindes durch Fehlgeburt, intrauterinem Fruchttod (IUFT), oder induziertem
Abort bei fetalen Fehlbildungen oder Chromosomenstörungen enden. Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft oder postpartal zählt gemäß Life-event-Forschung zu den am stärksten belastenden Lebenserfahrungen und hat nachhaltige Auswirkungen auf das weitere Leben der Betroffenen. Für in der Geburtshilfe Tätige ist es wichtig zu wissen, was ein solcher Verlust bei den Betroffenen auslöst und wie sie am besten unterstützt werden können.
Reaktionen auf eine glücklose Schwangerschaft
Das Problem beim frühen Verlust einer Schwangerschaft, der
Fehlgeburt besteht darin, dass dieser etwas Unreales hat und häufig von der Umwelt und eventuell auch von der Frau selbst banalisiert wird (Cote-Arsenault et al.
2001). Dass das verlorene Objekt nicht sicht- und fassbar ist, kann die Trauerarbeit erschweren.
Wird beim Kind eine
Fehlbildung oder
Chromosomenstörung festgestellt, so nimmt für die werdenden Eltern die Hoffnung auf ein gesundes Kind ein jähes Ende. Viele Paare wähnen sich in einem Alptraum. Es folgt ein häufig von starker Ambivalenz geprägter, konflikthafter Entscheidungsprozess. Erschwerend ist dabei, dass Schweregrad und Ausmaß der festgestellten Störung häufig vage bleiben und die Prognose unklar ist. Entscheiden sich die werdenden Eltern für den Abbruch der Schwangerschaft, so wird der Verlust des Kindes aktiv durch sie herbeigeführt. Dies evoziert in der Regel widersprüchliche Gefühle wie Trauer, Erleichterung, Wut und Neid, aber auch Schuld- und Schamgefühle. Die Aborteinleitung wird bewusst erlebt und bringt eine Konfrontation mit dem Kind mit sich. Dass der Verlust des Kindes in gewisser Hinsicht „selbstverschuldet“ ist, kann den Trauerprozess beeinträchtigen. Es führt auch dazu, dass betroffene Paare zum Teil den wahren Grund des glücklosen Endes der Schwangerschaft ihrem Umfeld gegenüber verheimlichen und bei der Verarbeitung des Erlebten sehr auf sich allein gestellt sind (Kersting und Wagner
2012).
Beim intrauterinen oder peripartalen Versterben des Kindes sind die betroffenen Eltern mit einem Tod am eigentlichen Beginn des Lebens konfrontiert. Hier gibt es ein reales totes Kind, sodass diese Situation mehr dem erfahrbaren und teilbaren Todeserleben entspricht. Die Betroffenen sind Eltern ohne ein Kind, jedoch mit allen Zeichen einer durchgemachten Schwangerschaft. Die Reaktionen der Familie und der Umwelt zeichnen sich häufig durch Hilflosigkeit aus, und es ist für die Betroffenen schwierig, das Erlebte sozial zu integrieren.
Der Trauerprozess
Bei der Mehrheit der Betroffenen dauert die Trauer 6–9 Monate. Nach Bowlby lassen sich nach dem Verlust eines Kindes im Trauerprozess
4 typische Phasen von je unterschiedlicher Dauer beobachten: Dem „Schock“, der Tage bis Wochen dauert, folgt eine Phase, die geprägt ist von Grübeln und Verzweiflung. In der anschließenden Zeitspanne wird die Realität des Verlustes deutlich, während die letzte Phase die Integration und Akzeptanz des Verlusts und ein neues affektives Gleichgewicht mit sich bringt (Bowlby
1980). Allerdings verläuft der Trauerprozess individuell sehr unterschiedlich und heben neuere Theorien mehr die Oszillation zwischen verlust- und erholungsorientiertem Coping und das Nebeneinander von Konfrontation und Vermeidung hervor (Stroebe und Schut
1999).
Auswirkungen und Folgen glückloser Schwangerschaft
Pathologische Trauerreaktionen
kommen je nach Literatur bei 20–30 % der Betroffenen vor, und Faktoren, die mit einem langwierigen Trauerprozess assoziiert sind, sind mangelnde partnerschaftliche und soziale Unterstützung, vorbestehende psychische Probleme sowie Kinderlosigkeit (Hughes und Riches
2003). Die Inzidenz seelischer Morbidität ist je nach Art der glücklos verlaufenen Schwangerschaft unterschiedlich hoch und nimmt mit steigendem Gestationsalter zu. Zu den klinischen Korrelaten der prolongierten (chronischen) Trauer zählen Depression, Angst- und
Panikstörungen,
generalisierte Angststörung, PTBS,
somatoforme Störungen und auch Substanzabusus.
Wenig untersucht sind die Auswirkungen auf die Väter und Geschwister. Männer trauern anders als Frauen, aber deswegen nicht unbedingt weniger intensiv. Sie sind in der Regel lösungsorientierter und sehen sich häufig in der Position desjenigen, der unterstützen und handeln muss. Gleichzeitig sind sie oft emotional überfordert und können ihre Emotionen schlechter verbalisieren (Samuelsson et al.
2001). Mögliche Folgen davon sind Rückzug, Overinvolvement in außerfamiliäre Aktivitäten, sexuelle Schwierigkeiten und Suchtverhalten. Grundsätzlich bekommen Geschwister so bedeutende Ereignisse wie eine glücklos verlaufene Schwangerschaft immer mit. Jüngere Kinder haben häufig ambivalente Gefühle einem neuen Geschwister gegenüber, was zu Schuldgefühlen und der Vorstellung führen kann, mitverantwortlich oder verursachend für den Tod gewesen zu sein. Auch ältere Kinder können Ahnungen und ängstigende Fantasien entwickeln. Demzufolge sollten Geschwister ihrem Alter entsprechend einbezogen und nicht mit wenig hilfreicher „Schonung“ bedacht werden.
Nachfolgende Schwangerschaften sind durch die gemachte Erfahrung belastet. Schwangere mit einer entsprechenden Vorgeschichte leiden gemäß Studienresultaten in der nächsten Schwangerschaft häufiger unter übermäßiger Ängstlichkeit und Depression (Cote-Arsenault et al.
2001). Dies scheint besonders der Fall zu sein, wenn das Intervall bis zur nächsten Schwangerschaft sehr kurz ist. Das Risiko ist dann auch größer, dass die Schwangerschaft und damit das erwartete Kind eine problematische Ersatzfunktion haben könnte. Eine (jahre-)lange Wartezeit kann hingegen auf Verdrängungsmechanismen hinweisen (Franche
2001).
Hilfe bei der Bewältigung einer glücklosen Schwangerschaft
FrauenärztInnen haben als ärztliche Vertrauenspersonen und BegleiterInnen eine wichtige Aufgabe in der Akutsituation, während des Trauerprozesses und vor und während einer nachfolgenden Schwangerschaft. Das Verhalten der Umwelt hat sich als wichtiger Prädiktor für die Verarbeitung erwiesen. Die FrauenärztIn kann dazu beitragen, dass die Betroffenen den Angehörigen, ArbeitskollegInnen, Vorgesetzten etc. besser vorbereitet begegnen und sich entsprechend besser schützen können. Spürbare Kompetenz seitens des Personals und ein individuell angepasstes, empathisches, aber gleichwohl strukturiertes Vorgehen kann den Betroffenen Sicherheit geben und dazu beitragen, dass sie die verlorene Kontrolle über das Geschehen wiedergewinnen können. Gleichzeitig wird auch die betreuende FrauenärztIn möglicherweise mit der eigenen Hilflosigkeit in solchen Situationen konfrontiert. Es ist wichtig, diese wahrzunehmen und sich einzugestehen und entsprechend innerhalb des jeweiligen Teams den eigenen Bedarf an Unterstützung zu signalisieren und diese auch einzufordern.
Gemäß heutigen Erkenntnissen wird die
Begegnung mit dem toten Kind von den Paaren, bei denen es dazu gekommen ist, in der Regel als gut und hilfreich eingestuft. Allerdings sind die Studienresultate darüber, ob das aktive Abschiednehmen dem Verarbeitungs- und Trauerprozess wirklich förderlich ist, kontrovers (Hughes und Riches
2003). Die Reaktionen auf den Kontakt mit dem toten Kind sind individuell unterschiedlich und können gelegentlich sehr heftig sein. Entsprechend sollte niemand zu einer Begegnung mit dem toten Kind gedrängt werden. Es sollten hingegen immer (Erinnerungs-)Fotos erstellt werden. Fragen betreffend Abschiednehmen vom Kind sollten beim Aufklärungsgespräch über die Aborteinleitung angesprochen werden, damit das Paar die Möglichkeit hat, sich über seine Vorstellungen und Bedürfnisse klar zu werden, bevor es mit der Situation konfrontiert oder von dieser überwältigt wird.
Rituale sind im Allgemeinen eine hilfreiche Unterstützung in Trauerprozessen. Sie sollten dem jeweiligen soziokulturellen, weltanschaulichen und religiösen Kontext der Betroffenen angepasst und in erster Linie von diesen selbst gestaltet werden.
Wichtig sind auch Hinweise auf die heutzutage vielerorts zur Verfügung stehenden Hilfsangebote für Trauernde, wie Wochenbettbetreuung durch spezialisierte Hebammen, Gedenkstätten für ungeborene Kinder, Gedenkgottesdienste, Bücher, Internetangebote, aber auch Selbsthilfegruppen und Trauerseminare.
Das Trauern um eine glücklose Schwangerschaft ist eine normale Reaktion auf einen schmerzlichen Verlust. Die Betreuenden sollten sich einerseits hüten, diesen Prozess zu pathologisieren, andererseits aber wachsam sein für Zeichen einer Chronifizierung oder einer PTBS. Zudem sollte bei einer nachfolgenden Schwangerschaft das Erlebte mitberücksichtigt und die Betreuung entsprechend angepasst werden.