Ein VGE-Team umfasst medizinische und nichtmedizinische Fachpersonen. Als Minimalstandard sollte das Team folgende Disziplinen umfassen: Pädiatrische Endokrinologie und Biochemie, klinische Genetik, Kinder- und Jugendpsychosomatik/Psychiatrie,
Kinder- und Jugendgynäkologie, pädiatrische Urologie und/oder Chirurgie, klinische Ethik. Je nach Diagnose, Therapieplan, Alter des Kindes und den Bedürfnissen der Familie unterscheidet und verändert sich die Zusammensetzung des Behandlungsteams (Ahmed et al.
2015). Das Team sollte mit nationalen Vereinigungen intergeschlechtlicher Menschen und spezifischen Selbsthilfegruppen vernetzt sein. Die Eltern/Jugendlichen sollten über entsprechende Kontakt- und Austauschmöglichkeiten informiert werden.
Chirurgische Eingriffe
Die anatomischen Konsequenzen von
Varianten der Geschlechtsentwicklung sind teils chirurgisch korrigierbar, wobei diese Korrekturen kontrovers sind, wenn sie am nicht-urteilsfähigen Kind und nur mit dem Einverständnis der Eltern vorgenommen werden. Diese Sachlage verschärft sich noch, wenn sie keine medizinisch indizierte Notwendigkeit darstellen, d. h. beim Unterlassen, keine negativen gesundheitlichen Konsequenzen für das Kind haben (z. B. Infekte,
Harnobstruktion, Gewebeentartungsrisiko etc.) (Cools et al.
2018). Hat man früher bei Kindern mit atypischem Genital meist in den ersten 1–2 Lebensjahren eine normalisierende chirurgische Geschlechtsveränderung
vorgenommen, ist man heute viel zurückhaltender, v. a. in ungelösten Fällen von 46,XY, bei denen die Geschlechtsentwicklung inklusive Entwicklung der Geschlechtsidentität unklar ist. Unsicher ist die Situation aktuell aber auch bei der Hypospadie-Korrektur und bei der Korrektur eines schwer virilisierten äußeren Genitals bei Mädchen mit AGS (Prader Stadium >3–4). In beiden Situationen scheint eine frühe Chirurgie bessere kosmetische und funktionelle Resultate zu zeigen und häufig auch von Eltern und rückblickend von Betroffenen gewünscht zu sein (Eckoldt-Wolke 2014; Springer und Baskin 2014; Wolffenbuttel und Crouch 2014).
Auch in Bezug auf die Notwendigkeit zur Gonadektomie wegen Gewebeentartungsgefahr bestehen offene Fragen, die aktuell in Studien angegangen werden. Generell scheint das Tumorrisiko für verschiedene
Varianten der Geschlechtsentwicklung sehr heterogen zu sein, wobei das Vorhandensein von Y-Material essenziell ist und das Risiko durch Gewebe(marker)analyse und Scoring-Systeme kalkulierbar scheint (Cools et al.
2014; van der Zwan et al.
2015). Außerdem ist bei der Überlegung zur Frage nach einer Gonadektomie mitentscheidend, ob die künftige Hormonproduktion der Gonade in Konkordanz oder Dysharmonie zur Geschlechtsidentität des Kindes steht.
Prospektive Langzeitstudien zum Thema sollen in Zukunft Aufschluss geben, in welchen Fällen und wann operative Eingriffe vorteilhaft sind. Dafür werden heute die Daten von Menschen mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung mit deren Zustimmung in Registern geführt (
http://www.i-dsd.org).
Heute muss die Entscheidung für einen chirurgischen Eingriff am Genital von einem multiprofessionellen Behandlungsteam und zusammen mit den Eltern individuell für jedes Kind getroffen und getragen werden. In Fällen, in denen es nicht zum gesundheitlichen Nachteil eines Kindes ist, wird empfohlen, die Entscheidung für eine Chirurgie bis zum Zeitpunkt der Mitentscheidungsfähigkeit des Kindes aufzuschieben.
Hormonelle Therapien
Wird eine Variante der Geschlechtsentwicklung durch einen Steroidhormonbiosynthese-Defekt verursacht, bei welchem ein Mangel an Mineralokortikoiden und
Glukokortikoiden besteht, ist das Neugeborene wenige Tage nach der Geburt lebensbedrohlich gefährdet
.
Der Ersatz von fehlenden endogen produzierten Sexualhormonen ist hingegen erst zum Zeitpunkt der
Pubertät notwendig (Hewitt und Zacharin
2015). Eine Ausnahme bildet die probatorische Behandlung eines
Mikropenis (<25 mm bei Termingeborenen) mit
Testosteron während der Zeit der Minipubertät, um das Peniswachstum zu stimulieren. Zweck der hormonellen Therapie ab dem Zeitpunkt der Pubertät ist nicht nur die Stimulation/
Simulation der Pubertätsentwicklung (sekundäre Geschlechtsmerkmale, Wachstumsspurt) an sich, sondern auch die Stimulation anderer, sexualhormonabhängiger Veränderungen am
Metabolismus (z. B. Körperzusammensetzung zwischen Knochen – Fett – Muskel) und an der Persönlichkeit und Psyche, welche der allgemeinen
Lebensqualität (QoL) zuträglich sind (Hewitt und Zacharin
2015).
Allgemein gilt, dass bei fehlender endogener Sexualhormonproduktion ungefähr zum Zeitpunkt der üblicherweise einsetzenden Pubertätsentwicklung (Mädchen ab 10–11 Jahren; Jungen ab 12–13 Jahren) mit der Ersatztherapie von entweder natürlichen
Östrogenen oder einem Testosteronpräparat in niedriger Dosierung gestartet wird.
Unter Kontrolle wird die Dosierung dann über 2–3 Jahre zur Ersatzdosis für Erwachsene aufgebaut. Die Ersatztherapie mit
Östrogenen soll bei einem weiblichen System mit Uterus zum Schluss mit einem Gestagenpräparat ergänzt werden, was dann zu regelmäßigen Menstruationen führt; wahlweise kann dann zur Vereinfachung auch auf eine übliche antikonzeptionelle Pille gewechselt werden.
Anders ist die Situation, wenn eine funktionelle Gonade vorhanden ist, welche entweder potenziell erwünschte Hormone oder unerwünschte Hormone produziert. Ein Beispiel für den ersten Fall (erwünscht) ist die testikuläre Feminisierung bei komplettem Androgenrezeptordefekt. Unter der Stimulation durch die Gonadenachse produziert der Hoden ab
Pubertät Unmengen an
Testosteron, welche in der Peripherie durch Aromatisierung zu
Östrogenen umgewandelt werden und eine spontane Brustentwicklung und Feminisierung des Körperbaus bewirken. Leider ist die Produktion an Östrogenen ungenügend, um den Aufbau einer normalen Knochenmasse zu ermöglichen, sodass eine Zusatz-/Ersatztherapie mit Östrogenen trotzdem notwendig ist, auch wenn die Gonade in situ belassen wird.
Beginnt eine Gonade zum Zeitpunkt der
Pubertät hingegen unerwünschterweise Hormone zu produzieren, die nicht kongruent zum gewählten bzw. erlebten Geschlecht sind (z. B. partieller Androgenrezeptordefekt mit weiblicher Identität und drohender Virilisierung bei der Pubertät), kann entweder die Gonade mit GnRH-Analoga blockiert oder eine Gonadektomie erwogen werden. Die Sexualhormone des gewählten Geschlechts können dann dazu substituiert werden, um die Entwicklung der „passenden“ sekundären Geschlechtsmerkmale zu stimulieren.
Wichtig ist, dass vor einer geschlechtsbestimmenden Hormontherapie im Jugendalter die Frage der Geschlechtsidentität geklärt, mindestens aber thematisiert ist, da die geschlechtsspezifischen hormonellen Effekte im Falle einer später veränderten Entscheidung nur teilweise reversibel sind.
Weitere hormonelle Therapien, die im Zusammenhang mit
Varianten der Geschlechtsentwicklung mit teils intakten Gonaden diskutiert werden, sind Therapien mit
Gonadotropinen (LHRH, LH, FSH, hCG). Diese kommen zur Stimulation/Modulation der Gonaden zur Fertilitätserhaltung oder Eizellen/Follikel oder
Spermiengewinnung infrage. Solche Therapien werden heute bereits beim Mosaik-Turner-Syndrom oder beim Patienten mit hypogonadotropem
Hypogonadismus erfolgreich angewendet.
Psychologische Behandlung
Neben der hormonellen Therapie und Chirurgie ist eine professionelle psychologische Begleitung von Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung und deren Familien zentral. Auch wenn nicht alle Eltern und Kinder psychologische Behandlung in Anspruch nehmen, sollte eine spezialisierte Psychologin oder ein Psychiater fester Bestandteil von professionellen VGE-Teams sein. Die Geburt eines Kindes mit unklarem Geschlecht führt bei Eltern nicht selten zu grossen Versunsicherungen und vielen Fragen. Idealerweise haben alle Eltern eines Neugeborenen niederschwelligen Zugang zu psychologischer Unterstützung. Auch Jugendliche und Erwachsene, die sich in medizinischer Behandlung befinden, sollten die Möglichkeit (lebenslanger) psychologischer Begleitung erhalten (Ahmed et al.
2015).
Die Behandlung verfolgt das Ziel einer ergebnisoffenen, bedarfsorientierten und entwicklungsfördernden Unterstützung. Eltern und Jugendlichen sollen entsprechend ihren allfälligen Belastungen, Anpassungsschwierigkeiten, Ängsten und Identitätsunsicherheiten unterstützt und mit anderen Familien vernetzt werden.
Ziel einer psychologischen Behandlung ist es, die
Lebensqualität und
psychische Gesundheit zu erhalten respektive zu verbessern. Sie stärkt die Eltern-Kind-Beziehung und fördert ein akzeptierendes Diagnoseverständnis und ein positives Selbstbild. Die professionelle Haltung ist von Respekt und Akzeptanz gegenüber vielfältigen geschlechtlichen Lebensrealitäten geprägt.