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Die Urologie
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Publiziert am: 18.03.2023

Adjuvante Therapie beim Nichtseminom im klinischen Stadium I

Verfasst von: Sabine Kliesch
Der nichtseminomatöse Keimzelltumor im klinischen Stadium I gehört zu den häufigsten Entitäten der malignen Keimzelltumoren und wird heutzutage risikoadaptiert therapiert und nachgesorgt. Die Bildgebung zur Festlegung des klinischen Stadiums konzentriert sich auf die Skrotalsonographie, die Tumormarkeranalyse und die CT-Diagnostik. Die adjuvante Therapie im klinischen Stadium I wird nur noch bei den High-risk-Tumoren mit einer PEB-Chemotherapie empfohlen. Die Risikostratifizierung orientiert sich an der lymphovaskulären Invasion des testikulären Primärtumors. Bei den Low-risk-Tumoren ohne Gefäßinvasion ist eine aktive Überwachung die Methode der Wahl, um eine Übertherapie der Patienten zu vermeiden. Die RLA spielt keine wesentliche Rolle mehr in der Therapie der Patienten mit einem Nichtseminom im Stadium I. Wenn eine adjuvante Therapie erforderlich wird, muss der Patient bei Diagnosestellung und vor Therapieeinleitung auf die Möglichkeit der Fertilitätsprotektion mittels Kryokonservierung von Spermien hingewiesen und ihm diese auch angeboten werden.

Epidemiologie

Der maligne Keimzellzelltumor (KZT) ist mit rund 4100 Neuerkrankungen pro Jahr zwar eine seltene maligne Erkrankung, allerdings die häufigste maligne Erkrankung junger Männer mit einem Altersgipfel für die Nichtseminome zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr und weist die höchsten Überlebenswahrscheinlichkeiten bei Malignomerkrankungen auf, die für Patienten mit nichtseminomatösem KZT im Stadium I bei 99,7 % nach 10 Jahren liegt. Die Inzidenz des KZT liegt bei 10:100.000 Männern laut Statistik des Robert-Koch-Institutes (RKI 2017). Die Nichtseminome umfassen die Keimzelltumoren mit den histologischen Gewebstypen embryonales Karzinom, Dottersacktumor, Chorionkarzinom, Teratom sowie Seminom und machen 40 % aller malignen Keimzelltumoren aus (Ruf et al. 2014). Nur 10 % der Tumoren präsentieren sich bei Diagnosestellung in einem fortgeschrittenen Stadium (klinisches Stadium III). Die meisten Patienten werden im klinischen Stadium I diagnostiziert.

Klinik

Das klinische Stadium I wird definiert durch das Vorliegen der Erkrankung ausschließlich im Hoden und den fehlenden radiologischen Nachweis von Metastasen sowie normale Tumormarkerwerte nach der Orchiektomie. Da eine okkulte Metastasierung (retroperitoneal) mit den verfügbaren bildgebenden Verfahren nicht sicher ausgeschlossen werden kann und somit das prinzipielle Risiko besteht, einen Progress der Erkrankung zu erleiden, werden die Betroffenen und ihre Ärzte vor die Frage der adjuvanten Therapie gestellt (Kliesch et al. 2021a).

Diagnostik

Klinik

Die meisten Tumoren präsentieren sich als palpable Raumforderung des Hodens und werden bei der Hälfte der Patienten als schmerzlose tastbare Verhärtung und in 90 % der Patienten als Vergrößerung, selten auch durch eine Verkleinerung des Hodens diagnostiziert. Allerdings geht die Tumorentwicklung bei 26–50 % der Patienten mit einem Schmerzereignis einher. Aus diesem Grund ist die häufigste Fehldiagnose, die zu einer Verzögerung der weiteren Diagnostik und Therapie führt, die Epididymitis. Differenzialdiagnostisch sind bei der Selbstpalpation durch den Patienten festgestellte tumoröse Raumforderungen im Skrotalfach selbstverständlich abzugrenzen von Spermatozelen des Nebenhodens, Hydrozelen, Varikozelen, Skrotalhernien, Lymphomen oder Metastasen anderer Tumoren.
Insbesondere bei Patienten mit Fertilitätsproblemen werden überproportional häufig bereits kleine, < 1 cm große Tumoren, die nicht tastbar sind, aufgrund der Skrotalsonographie im Rahmen der andrologischen Fertilitätsabklärung diagnostiziert. Diese auch als Inzidentalom diskutierten Befunde sind nicht alle maligne, sondern können in bis zu 80 % der Fälle je nach Kollektiv und Risikoprofil Stromatumoren, Narben oder zystischen Läsionen histologisch zugeordnet werden (Kliesch 2021).
Weitere klinische Symptome können Rückenschmerzen sein, die bei maximal 10 % der Patienten beobachtet werden und in diesen Fällen durch retroperitoneale Raumforderungen, eine Harnstauung oder Skelettmetastasierung mitbedingt sein können und in vielen Fällen primär zur orthopädischen Diagnostik und erst mit Zeitverzögerung zur Diagnosestellung führen.
Die ein- oder beidseitige, meist schmerzlose Gynäkomastie kann bei 5 % der Männer ein erstes Symptom für einen Hodentumor sein. Diese wird meistens durch eine passagere hormonelle Imbalance ausgelöst, bei der das Gleichwicht zwischen testosteron- und östrogenbedingtem Hormonmilieu gestört ist. Diese Symptomatik wird oftmals durch eine tumorbedingte hCG-Stimulation der Leydig-Zellen verstärkt, kann aber auch bei markernegativen Tumoren und bei primären Stromatumoren beobachtet werden. Aus diesem Grund sollte jede differenzialdiagnostische Abklärung einer Gynäkomastie zu einer Skrotalsonographie sowie einer Tumormarkeranalyse (humanes Choriongonadotropin [hCG], α-Fetoprotein [AFP]) führen.

Tumormarkerdiagnostik

Da jeweils 40 bis 60 % aller Nichtseminome mindestens einen positiven Tumormarkerbefund aufweisen (AFP oder ßhCG), besitzt diese Labordiagnostik auch für die klinische Stadieneinteilung eine hohe Relevanz und umfasst die Bestimmung von AFP, β-hCG und Laktatdehydrogenase (LDH) sowohl vor als auch nach der Orchiektomie. Zur Festlegung auf ein Nichtseminom Stadium I sind normale Tumormarkerwerte nach der Ablatio testis definiert. Bei einer initialen Erhöhung der Werte sollte ein zeitgerechter Abfall (in den Normalbereich) dokumentiert werden. Dies bedeutet jeweils für AFP eine Halbierung der Werte nach ca. 5(–7) Tagen, letztendlich mit einem Zielwert < 10 ng/ml, und für β-hCG eine Halbierung nach 2 Tagen mit einem Normalwert < 5 U/ml. LDH ist unspezifisch und korreliert mit der Metastasenlast, sollte also nach Orchiektomie normalisiert sein. Bei Erreichen eines Plateaus mit einem erhöhten Tumormarkerbefund kann nicht von einem klinischen Stadium I ausgegangen werden, und der Patient ist als metastasiert zu klassifizieren. Bei kontralateral unauffälligem Hoden und dem Fehlen von radiologischen Befunden als Hinweis auf eine Metastasierung wird dieses Stadium I mit erhöhten Serumtumormarkerwerten in die metastasierten Keimzelltumoren des Hodens eingeordnet und gesondert behandelt (cSIS) (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor 2020; Kliesch et al. 2021b).
Der neue Serumtumormarker MicroRNA miR-371a-3p befindet sich noch in der klinischen Erprobung und weist mit einer Sensitivität von 88,7 % eine hohe klinische Relevanz für die NS mit Ausnahme der Teratome auf (Dieckmann et al. 2017). Die Implementierung in die Routinediagnostik ist aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Validierungsstudien noch nicht erfolgt (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor 2020).

Bildgebung

Die primäre Bildgebung des Hodens beschränkt sich auf eine hochauflösende Sonographie der Testes mit mindestens 7,5 MHz, wobei die meisten modernen Ultraschallgeräte eine Auflösung bei 12–15 MHz bieten. Eine ergänzende MRT-Diagnostik ist nicht indiziert und liefert keine zusätzlichen Informationen. Zwingend gehört die Skrotalsonographie auch des kontralateralen Hodens zur Abklärung, um synchrone bilaterale Tumoren in 1 % der Fälle und/oder ein erhöhtes Risikoprofil für eine testikuläre Keimzellneoplasie in situ (GCNIS) nicht zu übersehen.
Um die Diagnose eines Stadiums I zu stellen, ist eine unauffällige Bildgebung des Retroperitoneums, Abdomens, des Beckens und der Lunge Voraussetzung. Aus diesem Grund gehören das Abdomen-/Becken-CT und das Thorax-CT mit oraler und intravenöser Kontrastmittelgabe zum initialen Staging. Problematisch ist die relativ hohe Rate von 30 % falsch-negativen CT-Abdomen-/Beckenbefunden bei negativen Tumormarkern, so dass die Unterscheidung zwischen Stadium I und Stadium IIA nicht immer zuverlässig gelingt. Ferner können kleine, < 1 cm große pulmonale oder pleurale Befunde im Thorax-CT falsch-positive Befunde bedeuten. Der abdominale und retroperitoneale Ultraschall ist dem CT deutlich unterlegen und spielt in der Staging-Diagnostik keine Rolle. In der Nachsorge wird die abdominale und retroperitoneale Sonographie insbesondere bei schlanken Patienten jedoch regelhaft eingesetzt.
Die Magnetresonanztomographie hat in den letzten Jahren an Stellenwert gewonnen, leider fehlen aber unverändert kontrollierte Studien, die eine Empfehlung zur Strahlenreduktion zugunsten der MRT-Diagnostik erlauben. Nur bei Vorliegen von Kontraindikationen gegen die Anwendung iodhaltiger Kontrastmittel (Allergie, Nierenfunktionseinschränkungen oder Schilddrüsenfunktionsstörungen) soll laut Leitlinie die Ausbreitungsdiagnostik mit einem MRT des Abdomens/Beckens erfolgen (S3-LL). Das CT des Thorax erfolgt bei diesen Patienten ohne Kontrastmittel (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor 2020; Kliesch et al. 2021a).
Die Positronenemissionstomographie(PET)-CT-Diagnostik hat bislang in Studien keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn im Vergleich zur CT-Diagnostik erbracht und sollte aus diesem Grund und aufgrund der erhöhten Strahlenbelastung als Routineverfahren in der Ausbreitungsdiagnostik unterbleiben; sie findet bei Patienten mit einem nicht-seminomatösen KZT generell keine Anwendung (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor 2020; Kliesch et al. 2021a).
Die erweitere Bildgebung mit Knochenszintigraphie und/oder MRT/CT des Gehirns ist nur dann erforderlich, wenn ein metastasiertes Stadium oder klinische Symptome vorliegen. Beim klinischen Stadium I sind diese Untersuchungen nicht indiziert (AWMF-S3-Leitlinie 2020; Kliesch et al. 2021a).

Differenzialdiagnostik

Die Therapieentscheidung für oder gegen eine adjuvante Therapie fokussiert auf die Risikoeinteilung des Nichtseminoms:
Entscheidend für die Beurteilung des Risikos für eine okkulte Metastasierung sind die Angaben zur vaskulären oder lymphogenen Invasion im Primärtumor, die in der pathohistologischen Begutachtung zwingend ihren Niederschlag finden müssen. Der wichtigste Parameter hierbei ist die lymphovaskuläre Invasion (S3-LL).
Die lymphovaskläre Invasion ist der wichtigste Risikofaktor für eine okkulte Metastasierung (evidenzbasiertes Statement 8,14. der S3-LL)
Das Risiko für eine okkulte Metastasierung bei Fehlen der lymphovaskulären Invasion (Niedrigrisiko-Situation) liegt bei etwa 15 % (12–19 %). Diese Tumoren werden als Niedrigrisiko-Nichtseminom eingestuft („low-risk tumour“) (cSIA). Bei Vorliegen einer lymphovaskulären Invasion steigt das Risiko für eine okkulte Metastasierung und einen Progress der Erkrankung auf bis zu 50 % (27–50 %). Es liegt damit ein Hochrisiko-Nichtseminom („high risk tumour“) (cSIB) vor. Die Therapieoptionen bei den beiden Risikogruppen unterscheiden sich (Tab. 1).
Tab. 1
Risikoparameter und Rezidivrisiko beim Nichtseminom Stadium I
 
Risikoparameter
Klinische Stadieneinteilung
Rezidivrisiko
Niedrigrisikopatient
Keine lymphovaskuläre Invasion
Stadium IA (cSIA);
pT1 cN0 cM0
15 %
Hochrisikopatient
Lymphovaskuläre Invasion
Stadium IB (cSIB);
pT2 cN0 cM0
50 %

Therapie

Grundsätzlich stehen 3 Therapieoptionen bei Patienten mit einem Nichtseminom im cSI zur Verfügung: die Überwachung („surveillance“), eine adjuvante Chemotherapie oder die nervschonende retroperiotoneale Lymphadenektomie (RLA). In jedem Fall ist spätestens vor einer adjuvanten Therapie die Beratung über fertilitätserhaltende Maßnahmen entsprechend der aktuellen Richtlinie zur Kryokonservierung von Keimzellen und Keimzellgewebe (Gemeinsamer Bundesausschuss Kryo-RL 2021) indiziert. Darüber hinaus ist nach primärer Diagnosestellung eines Keimzelltumors die Einholung einer Zweitmeinung über das Zweitmeinungsprotal E-Konsil ein mittlerweile sehr gut etabliertes und auch empfohlenes Verfahren, um dem Patienten die optimale Therapie vorzuschlagen (AWMF-S3-LL KZT 2020; Kliesch et al. 2021a; Zengerling et al. 2014).

Niedrigrisikopatienten

Für die Niedrigrisiko-Nichtseminome soll entsprechend der aktuellen S3-Leitlinie als starke Empfehlung die Surveillance favorisiert werden (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor 2020; Kliesch et al. 2021a). Eine adjuvante Therapie kommt nur in Ausnahmefällen zur Anwendung.
In der Niedrigrisiko-Situation soll die Überwachung favorisiert werden (evidenzbasierte Empfehlung 8.15. der aktuellen S3-LL)
Voraussetzung für die Surveillance ist neben der Compliance des Patienten (und des Arztes) ein relativ engmaschiges Follow-up über 5 Jahre, wobei die Nachsorge insbesondere in den beiden ersten Jahren intensiviert erfolgt. Dadurch gelingt es, in über 80 % der Fälle eine Übertherapie zu vermeiden. In den letzten Jahren hat die Überwachung an Akzeptanz gewonnen und wurde bei 70 % der Patienten im cSIA praktiziert (Weiner et al. 2017). Die Heilungsrate bei Auftreten eines Rezidivs verändert sich nicht und liegt bei 99 % bei Applikation von 3 Zyklen PEB. Dieser Aspekt sollte mit dem Patienten besprochen werden, denn die Zahl der Zyklen bei Auftreten eines Rezidivs liegt um mindestens 2 höher als in der adjuvanten Therapiesituation. Die psychische Belastung durch das Wissen um das Rezidivrisiko kann für einige Patienten schwerer wiegen als die Sorge um eine Übertherapie bei adjuvanter Chemotherapie und muss individualisiert abgewogen werden.
Entscheidet sich ein Niedrigrisikopatient vor diesem Hintergrund für die adjuvante Polychemotherapie, so sollte vor dem Hintergrund der publizierten Daten mit 1 Zyklus PEB mit dem Ergebnis, dass das Rezidivrisiko bei Niedrigrisiko-Tumoren auf 1,3 % gesenkt werden konnte, ein Zyklus PEB angeboten werden. Aufgrund der zwischenzeitlichen Erfahrungen und Studien hat die Therapie mit 1 Zyklus PEB in der adjuvanten Situation Eingang in die deutschen und europäischen Leitlinienempfehlungen gefunden.

Hochrisikopatienten

Beim Hochrisiko-Nichtseminom stehen als Therapieoptionen die adjuvante Polychemotherapie mit 1 (und nicht mehr 2) Zyklen PEB (Cisplatin, Etoposid und Bleomycin) versus die Überwachung zur Verfügung und sollten (als schwache Empfehlung) entsprechend der aktuellen Leitlinienempfehlungen mit dem Patienten besprochen werden (AWMF-S3-Leitlinie KZT 2020; Kliesch et al. 2021a). Aufgrund der zwischenzeitlichen Erfahrungen und Studien hat die Therapie mit 1 Zyklus PEB in der adjuvanten Situation Eingang in die Leitlinienempfehlungen gefunden. In retrospektiven Studien wurde beim Hochrisiko-Nichtseminom gezeigt, dass 1 Zyklus PEB das Rezidivrisko auf 3 % reduziert (und somit über 90 % der Patienten mit einem 2. Zyklus übertherapiert wären). Die Heilungsrate von 99 % bleibt unverändert. Eine sorgfältige Aufklärung der Patienten ist unerlässlich, denn auch beim Hochrisikopatienten werden 50 % der Betroffenen „unnötig“ therapiert i. S. einer Übertherapie, die zudem mit einer nicht komplett vermeidbaren Akuttoxizität einhergeht. Darüber hinaus birgt die Chemotherapie mit 1 Zyklus PEB das grundsätzliche Risiko einer mindestens passageren, selten aber auch permanenten Fertilitätseinschränkung. Ferner erhöht jede Chemotherapie, also auch 1 Zyklus, das Risiko für chemotherapieinduzierte Zweittumoren und insbesondere kardiovaskuläre Spättoxizitäten. Allerdings scheint die Reduktion auf 1 Zyklus PEB das Nutzen-Risiko-Profil für die Patienten zu verbessern mit geringerer Toxizität bei niedrigem Rezidivrisiko (AWMF-S3-Leitlinie KZT 2020).
In der Hochrisiko-Situation sollten die Therapiemodalitäten für 1 Zyklus PEB versus Überwachung mit dem Patienten besprochen werden. Ein Zyklus PEB reduziert das Rezidivrisiko von 50 % auf 3 %. Das Gesamtüberleben beider Gruppen unterscheidet sich nicht (Evidenzbasierte Empfehlung 8.16. der AWMF-S3-Leitlinie 2020; Kliesch et al. 2021a).
Die Option der Surveillance in der Hochrisiko-Situation findet bei 46 % der Betroffenen Anwendung (Weiner et al. 2017), kann jedoch an der Compliance und Risikobereitschaft, verbunden mit einer hohen psychischen Belastung der Patienten, scheitern und setzt eine extrem gut organisierte Nachsorge voraus. Der Vorteil der Vermeidung einer Übertherapie muss mit dem Nachteil einer vielleicht späteren Diagnostik eines Rezidivs und einer dann auch um mindestens um 2 Zyklen intensiveren Polychemotherapie im Falle des Rezidivs abgewogen werden. Die primär operative Therapie mittels modifizierter retroperitonealer Lymphadenektomie (RPLND) hat in der Patientengruppe der Nichtseminome im klinischen Stadium I aufgrund der Invasivität deutlich ihren Stellenwert früherer Jahre verloren (Albers et al. 2008; Klepp et al. 1997). Es gibt nur noch sehr selten die Indikation zur primären RPLND, beispielsweise wenn ein Patient jegliche andere Therapieoption ablehnt. Die nervenschonende RLA ist bei Patienten mit Teratomen und einer somatischen Transformation des Primärtumors die bevorzugte Therapie (AWMF-S3-Leitlinie KZT 2020). Aktuelle Daten zeigen, dass 2010 noch 10 % der Patienten im cSI mit einer „diagnostischen“ RLA behandelt wurden (im Vergleich zu 44 % im Jahr 1988) (Yap et al. 2017).
Der Eingriff wird standardmäßig in modifizierter Form durchgeführt: Auf der ipsilateralen Seite werden die retroperitonealen Lymphknoten innerhalb der Dissektionsgrenzen reseziert bei gleichzeitiger Schonung der sympathischen Nervenfasern. Die Operation sollte bevorzugt in entsprechend erfahrenen Zentren durchgeführt werden. Eine Erweiterung des operativen Eingriffes bei nachgewiesener Lymphknotenmetastasierung geht mit einem deutlich höheren Risiko einer Ejakulationsstörung durch Verletzung der sympathischen Nerven des Grenzstranges einher.
Das Risiko der Übertherapie liegt in der Niedrigrisikogruppe bei über 80 % und bei Hochrisikopatienten bei rund 50 % der Männer. Darüber hinaus wird im Hochrisikofall bei 48 % der Patienten eine zusätzliche, wiederum adjuvante Polychemotherapie erforderlich – mit einem erhöhten Morbiditätsrisiko bei multimodaler Therapie.
Ein relativer Vorteil der operativen RPLND liegt in der histopathologischen Sicherung des Tumorstadiums und im Fall der pN0-Situation im Vermeiden einer Chemotherapie. Allerdings bleibt unverändert das Risiko für eine pulmonale Metastasierung in einer Größenordnung von 8–10 % bestehen. Darüber hinaus werden mindestens 2 % der Männer einen Ejakulationsverlust erleiden, sofern sie in Zentren operiert werden; verteilt über alle Kliniken liegt das Risiko bei mindesten 6–8 %. Eine primäre RPLND sollte also die Ausnahme in der Behandlungssituation des Patienten mit einem Nichtseminom in klinischen Stadium I sein und definitiv erst nach ausführlicher Aufklärung des Patienten über die anderen Optionen erfolgen (Tab. 2).
Tab. 2
Adjuvante Therapieoptionen beim Nichtseminom Stadium I
 
Empfohlene Therapie
Therapiealternative I
(Therapiealternative II)
Niedrigrisikopatient
Surveillance (starke Empfehlung)
Adjuvant 1 Zyklus PEB
(Modifizierte RPLND)
Hochrisikopatient
Surveillance vs. Adjuvant 1 Zyklus PEB (schwache Empfehlung)
Nervenschonende modifizierte RPLND)
 
PEB Cisplatin, Etoposid, Bleomycin; RPLND retroperitoneale Lymphknotendissektion

Verlauf und Nachsorge und Prognose

Im Fall der Surveillance ist die Nachsorge intensiver als nach einer adjuvanten Therapie. Das aktuelle Nachsorgeschema orientiert sich an den publizierten Daten von Cathomas et al. (2010) und Hartmann et al. (2011). Die Nachsorgepläne in Tab. 3, 4 und 5 können den Patienten ausgehändigt werden sie fassen die Nachsorge im klinischen Stadium I, Nichtseminom, „low risk“ unter aktiver Surveillance, „high risk“ unter aktiver Surveillance und „high risk“ nach adjuvanter Therapie mit PEB zusammen. Allerdings unterliegen sie einem ständigen Wandel und die Rö-Thorax-Untersuchung gerät zunehmend in den Hintergrund.
Tab. 3
Nichtseminome Stadium IA „Niedrigrisiko-Tumoren unter Überwachung“ Nachsorgeschema, S3-LL
Nachsorge
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
Jahr 6–10
Anzahl Termine pro Jahr
6
6
4
2
2
1
CT Abdomen (Monat)
4 + 12
     
Ultraschall Abdomen (Monat)
-
24
36
48
60
-
Ultraschall Hoden pro Jahr
1
1
1
1
1
1
Röntgen Thorax (Monat)
6 + 12
18 + 24
30 + 36
48
60
-
Klinische Untersuchung; RR/BMI/Marker (pro Jahr)
6
6
4
2
2
1
Erweitertes Labor (Hormone; Lipide) (pro Jahr)
1
1
1
1
1
1
Tab. 4
Nichtseminome Stadium IB „Hochrisiko-Tumoren unter Überwachung“ Nachsorgeschema, S3-LL
Nachsorge
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
Jahr 6–10
Anzahl Termine pro Jahr
6
6
4
2
2
1
CT Abdomen (Monat) (alternativ MRT)
4 + 12
24
36
48
60
 
Ultraschall Abdomen (Monat)
6
18
30
42
54
-
Ultraschall Hoden pro Jahr
1
1
1
1
1
1
Röntgen Thorax (Monat)
6 + 12
18 + 24
30 + 36
48
60
-
Klinische Untersuchung; RR/BMI/Marker (pro Jahr)
6
6
4
2
2
1
Erweitertes Labor (Hormone; Lipide) (pro Jahr)
1
1
1
1
1
1
Tab. 5
Nichtseminome Stadium IB „Hochrisiko-Tumoren nach adjuvanter Therapie mit 1xPEB“ Nachsorgeschema, S3-LL
Nachsorge
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
Jahr 6–10
Anzahl Termine pro Jahr
4
4
2
2
2
1
CT Abdomen (Monat) (alternativ MRT)
12
24
-
-
-
-
Ultraschall Abdomen (Monat)
6
18
36
48
60
-
Ultraschall Hoden pro Jahr
1
1
1
1
1
1
Röntgen Thorax (Monat)
6 + 12
18 + 24
36
48
60
-
Klinische Untersuchung; RR/BMI/Marker (pro Jahr)
4
4
2
2
2
1
Erweitertes Labor (Hormone; Lipide) (pro Jahr)
1
1
1
1
1
1
Erfassung Spättoxizität (pro Jahr)
1
1
1
1
1
1
BMI Body-Mass-Index, RR Blutdruck
Aufgrund der Strukturen im gegenwärtigen Gesundheitssystem bestehen durchaus berechtigte Sorgen, dass die Compliance ein Risikofaktor für den Patienten unter Surveillance darstellt, da keine systematisierten Recall-Systeme in Klinik oder Praxis bestehen und daher die Organisation der Nachsorge von der individualisierten Struktur von Arzt und Patient abhängig ist. Unter Studienbedingungen konnte ein Verlust von Patienten in einem hohen Prozentsatz beim Nichtseminom im klinischen Stadium I gezeigt werden (Albers et al. 2003).
Die Prognose im klinischen Stadium I beim Nichtseminom ist exzellent und liegt bei einer Heilungswahrscheinlichkeit von 99 %, unabhängig von der gewählten Behandlungsform.

Besondere Aspekte

Grundsätzlich sollte mit allen Hodentumorpatienten die Frage der Fertilität angesprochen werden. Fast drei Viertel der Patienten weisen zum Zeitpunkt der Erkrankung eine Einschränkung der Samenqualität auf, und rund 14 % der Patienten sind azoosperm. Diese Verteilung ist aufgrund der primären Erkrankung des Keimepithels nicht verwunderlich und unterscheidet sich signifikant z. B. von Lymphompatienten (Tab. 6).
Tab. 6
Verteilung der Ejakulatqualität bei Hodentumorpatienten im Vergleich zu Lymphompatienten (nach Kliesch 2012)
Ejakulatparameter
(nach WHO)
Hodentumor (n = 563)
(Kliesch et al. UK Münster)
Hodgkin-Lymphom (n = 474)
(van der Kaaij et al. 2009)
Normozoospermie
25 %
41 %
OAT-Syndrom
56 %
56 %
Azoospermie
(Anejakulation)
14 %
(5 %)
3 %
OAT Oligoasthenoteratozoospermie, WHO World Health Organization, UK Universitätsklinikum
In jedem Fall sollte bei Planung einer adjuvanten Therapie oder bei Vorliegen einer bilateralen Hodenerkrankung die Möglichkeit der Kryokonservierung von Spermien angesprochen und angeboten werden (AWMF-S2k-Leitlinie Fertilitätserhalt 2017; AWMF-S3-Leitlinie KZT 2020). Statistisch gesehen erholen sich > 90 % der Patienten nach 1 oder 2 Zyklen PEB bezüglich ihrer Spermatogenese, so dass man versucht sein könnte, diesen Punkt der Beratung zu vernachlässigen. Allerdings gibt es eine individuelle und nicht sicher vorhersagbare Empfindlichkeit der Spermatogenese gegenüber einer platinbasierten Therapie. Insgesamt 18,8 % aller Hodentumorpatienten werden durch die durchgeführten Therapien azoosperm, und zwar verteilt über alle Stadien und Therapieformen – also auch nach 1 Zyklus Carboplatin-Monotherapie beim Seminom oder 1 Zyklus PEB beim Nichtseminom oder 20 Gy Radiotherapie paraaortal (Sander 2014). Dies gilt also auch für Nichtseminom- oder Seminompatienten im Stadium I. Lediglich im Fall einer Surveillance ist mit zeitlichem Abstand zur Orchiektomie eine Verbesserung der Spermatogenese in rund 15 % der Patienten zu verzeichnen, während nur bei 1 % eine Verschlechterung beobachtet werden kann. Grundsätzlich kann es von Vorteil sein, die Kryokonservierung bereits vor der Ablatio testis durchzuführen, da die Patienten hier eine bessere Samenqualität aufweisen können. Die seit 1. Juli 2021 gültige Kryokonservierungs-Richtlinie des G-BA ermöglicht nach entsprechender Beratungsdokumentation die Kryokonservierung von Spermien aus dem Ejakulat oder aus dem Hodengewebe (bei Vorliegen einer Azoospermie) als Kassenleistung (G-BA Kryo-RL 2021).

Zusammenfassung

  • Nichtseminom klinisches Stadium I: risikoadaptiertes Vorgehen, lymphovaskuläre Invasion im Primärtumor ist der wichtigste prognostische Parameter.
  • Stadium pT1, cN0, cM0 (cSIA, Niedrigrisiko-Patienten): Überwachung Therapieoption der 1. Wahl.
  • Stadium pT2, cN0, cM0 (cSIb, Hochrisiko-Patienten): 1× PEB-Therapie versus Überwachung Therapieoptionen der 1. Wahl.
  • Modifizierte retroperitoneale Lymphadenektomie in Ausnahme- oder Sonderfällen (Teratome, somatische Transformation).
  • Bei geplanter adjuvanter Therapie oder bilateralem KZT bzw. KZT mit kontralateraler GCNIS bei Patienten mit nicht abgeschlossener Familienplanung: Empfehlung zur Kryokonservierung von Spermien aus Ejakulat (oder Hodengewebe bei Azoospermie) obligat.
  • Nachsorge: Anpassung an Risikoprofil, Orientierung an evidenzbasierten Empfehlungen.
Literatur
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AWMF-S2k-Leitlinie „Fertilitätserhalt bei onkologischen Erkrankungen (2017) 015/082. https://​www.​awmf.​org/​uploads/​tx_​szleitlinien/​015-082l_​S2k_​Fertilitaetserha​ltung-bei-onkologischen-Therapien_​2017-12-verlaengert.​pdf. Zugegriffen am 28.02.2023
AWMF-S3-Leitlinie „Diagnostik, Therapie und Nachsorge bei Keimzelltumoren des Hodens“ (2020) (043/049OL). https://​www.​awmf.​org/​uploads/​tx_​szleitlinien/​043-049OLl_​S3_​Keimzelltumoren-Hoden-Diagnostik-Therapie-Nachsorge_​2020-03.​pdf. Zugegriffen am 28.02.2023
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Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) (2021) Richtlinie zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende medizinische Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie: Erstfassung. https://​www.​g-ba.​de/​beschluesse/​4393/​. Zugegriffen am 28.02.2023
Hartmann U, Krege S, Souchon R, DeSantis M, Gillessen S, Cathomas R, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Hodentumor (2011) Nachsorge von Patienten mit Hodentumoren. Interdisziplinäre evidenzbasierte Empfehlungen. Urologe 50:830–835CrossRef
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