Grundsätzlich stehen 3 Therapieoptionen bei Patienten mit einem Nichtseminom im cSI zur Verfügung: die Überwachung („surveillance“), eine adjuvante Chemotherapie oder die nervschonende retroperiotoneale Lymphadenektomie (RLA). In jedem Fall ist spätestens vor einer adjuvanten Therapie die Beratung über fertilitätserhaltende Maßnahmen entsprechend der aktuellen Richtlinie zur
Kryokonservierung von Keimzellen und Keimzellgewebe (
Gemeinsamer Bundesausschuss Kryo-RL
2021) indiziert. Darüber hinaus ist nach primärer Diagnosestellung eines Keimzelltumors die Einholung einer Zweitmeinung über das Zweitmeinungsprotal E-Konsil ein mittlerweile sehr gut etabliertes und auch empfohlenes Verfahren, um dem Patienten die optimale Therapie vorzuschlagen (AWMF-S3-LL KZT
2020; Kliesch et al.
2021a; Zengerling et al.
2014).
Niedrigrisikopatienten
Für die Niedrigrisiko-Nichtseminome soll entsprechend der aktuellen S3-Leitlinie als starke Empfehlung die
Surveillance favorisiert werden (AWMF-S3-Leitlinie Keimzelltumor
2020; Kliesch et al.
2021a). Eine adjuvante Therapie kommt nur in Ausnahmefällen zur Anwendung.
In der Niedrigrisiko-Situation soll die Überwachung favorisiert werden (evidenzbasierte Empfehlung 8.15. der aktuellen S3-LL)
Voraussetzung für die Surveillance ist neben der
Compliance des Patienten (und des Arztes) ein relativ engmaschiges Follow-up über 5 Jahre, wobei die Nachsorge insbesondere in den beiden ersten Jahren intensiviert erfolgt. Dadurch gelingt es, in über 80 % der Fälle eine Übertherapie zu vermeiden. In den letzten Jahren hat die Überwachung an Akzeptanz gewonnen und wurde bei 70 % der Patienten im cSIA praktiziert (Weiner et al.
2017). Die Heilungsrate bei Auftreten eines Rezidivs verändert sich nicht und liegt bei 99 % bei Applikation von 3 Zyklen PEB. Dieser Aspekt sollte mit dem Patienten besprochen werden, denn die Zahl der Zyklen bei Auftreten eines Rezidivs liegt um mindestens 2 höher als in der adjuvanten Therapiesituation. Die
psychische Belastung durch das Wissen um das Rezidivrisiko kann für einige Patienten schwerer wiegen als die Sorge um eine Übertherapie bei adjuvanter Chemotherapie und muss individualisiert abgewogen werden.
Entscheidet sich ein Niedrigrisikopatient vor diesem Hintergrund für die adjuvante Polychemotherapie, so sollte vor dem Hintergrund der publizierten Daten mit 1 Zyklus PEB mit dem Ergebnis, dass das Rezidivrisiko bei Niedrigrisiko-Tumoren auf 1,3 % gesenkt werden konnte, ein Zyklus PEB angeboten werden. Aufgrund der zwischenzeitlichen Erfahrungen und Studien hat die Therapie mit 1 Zyklus PEB in der adjuvanten Situation Eingang in die deutschen und europäischen Leitlinienempfehlungen gefunden.
Hochrisikopatienten
Beim Hochrisiko-Nichtseminom stehen als Therapieoptionen die adjuvante Polychemotherapie mit 1 (und nicht mehr 2) Zyklen
PEB (Cisplatin, Etoposid und Bleomycin) versus die Überwachung zur Verfügung und sollten (als schwache Empfehlung) entsprechend der aktuellen Leitlinienempfehlungen mit dem Patienten besprochen werden
(AWMF-S3-Leitlinie KZT
2020; Kliesch et al.
2021a). Aufgrund der zwischenzeitlichen Erfahrungen und Studien hat die Therapie mit 1 Zyklus PEB in der adjuvanten Situation Eingang in die Leitlinienempfehlungen gefunden. In retrospektiven Studien wurde beim Hochrisiko-Nichtseminom gezeigt, dass 1 Zyklus PEB das Rezidivrisko auf 3 % reduziert (und somit über 90 % der Patienten mit einem 2. Zyklus übertherapiert wären). Die Heilungsrate von 99 % bleibt unverändert. Eine sorgfältige Aufklärung der Patienten ist unerlässlich, denn auch beim Hochrisikopatienten werden 50 % der Betroffenen „unnötig“ therapiert i. S. einer Übertherapie, die zudem mit einer nicht komplett vermeidbaren Akuttoxizität einhergeht. Darüber hinaus birgt die Chemotherapie mit 1 Zyklus PEB das grundsätzliche Risiko einer mindestens passageren, selten aber auch permanenten Fertilitätseinschränkung. Ferner erhöht jede Chemotherapie, also auch 1 Zyklus, das Risiko für chemotherapieinduzierte Zweittumoren und insbesondere kardiovaskuläre Spättoxizitäten. Allerdings scheint die Reduktion auf 1 Zyklus PEB das Nutzen-Risiko-Profil für die Patienten zu verbessern mit geringerer Toxizität bei niedrigem Rezidivrisiko (AWMF-S3-Leitlinie KZT
2020).
In der Hochrisiko-Situation sollten die Therapiemodalitäten für 1 Zyklus PEB versus Überwachung mit dem Patienten besprochen werden. Ein Zyklus PEB reduziert das Rezidivrisiko von 50 % auf 3 %. Das Gesamtüberleben beider Gruppen unterscheidet sich nicht (Evidenzbasierte Empfehlung 8.16. der AWMF-S3-Leitlinie
2020; Kliesch et al.
2021a).
Die Option der Surveillance in der Hochrisiko-Situation findet bei 46 % der Betroffenen Anwendung (Weiner et al.
2017), kann jedoch an der
Compliance und Risikobereitschaft, verbunden mit einer hohen psychischen Belastung der Patienten, scheitern und setzt eine extrem gut organisierte Nachsorge voraus. Der Vorteil der Vermeidung einer Übertherapie muss mit dem Nachteil einer vielleicht späteren Diagnostik eines Rezidivs und einer dann auch um mindestens um 2 Zyklen intensiveren Polychemotherapie im Falle des Rezidivs abgewogen werden. Die primär operative Therapie mittels
modifizierter retroperitonealer Lymphadenektomie (RPLND) hat in der Patientengruppe der Nichtseminome im klinischen Stadium I aufgrund der Invasivität deutlich ihren Stellenwert früherer Jahre verloren (Albers et al.
2008; Klepp et al.
1997). Es gibt nur noch sehr selten die Indikation zur primären RPLND, beispielsweise wenn ein Patient jegliche andere Therapieoption ablehnt. Die nervenschonende RLA ist bei Patienten mit
Teratomen und einer somatischen
Transformation des Primärtumors die bevorzugte Therapie (AWMF-S3-Leitlinie KZT
2020). Aktuelle Daten zeigen, dass 2010 noch 10 % der Patienten im cSI mit einer „diagnostischen“ RLA behandelt wurden (im Vergleich zu 44 % im Jahr 1988) (Yap et al.
2017).
Der Eingriff wird standardmäßig in modifizierter Form durchgeführt: Auf der ipsilateralen Seite werden die retroperitonealen Lymphknoten innerhalb der Dissektionsgrenzen reseziert bei gleichzeitiger Schonung der sympathischen Nervenfasern. Die Operation sollte bevorzugt in entsprechend erfahrenen Zentren durchgeführt werden. Eine Erweiterung des operativen Eingriffes bei nachgewiesener Lymphknotenmetastasierung geht mit einem deutlich höheren Risiko einer Ejakulationsstörung durch Verletzung der sympathischen Nerven des Grenzstranges einher.
Das Risiko der Übertherapie liegt in der Niedrigrisikogruppe bei über 80 % und bei Hochrisikopatienten bei rund 50 % der Männer. Darüber hinaus wird im Hochrisikofall bei 48 % der Patienten eine zusätzliche, wiederum adjuvante Polychemotherapie erforderlich – mit einem erhöhten Morbiditätsrisiko bei multimodaler Therapie.
Ein relativer Vorteil der operativen RPLND liegt in der histopathologischen Sicherung des Tumorstadiums und im Fall der pN0-Situation im Vermeiden einer Chemotherapie. Allerdings bleibt unverändert das Risiko für eine pulmonale Metastasierung in einer Größenordnung von 8–10 % bestehen. Darüber hinaus werden mindestens 2 % der Männer einen Ejakulationsverlust erleiden, sofern sie in Zentren operiert werden; verteilt über alle Kliniken liegt das Risiko bei mindesten 6–8 %. Eine primäre RPLND sollte also die Ausnahme in der Behandlungssituation des Patienten mit einem Nichtseminom in klinischen Stadium I sein und definitiv erst nach ausführlicher Aufklärung des Patienten über die anderen Optionen erfolgen (Tab.
2).
Tab. 2
Adjuvante Therapieoptionen beim Nichtseminom Stadium I
Niedrigrisikopatient | Surveillance (starke Empfehlung) | Adjuvant 1 Zyklus PEB | (Modifizierte RPLND) |
Hochrisikopatient | Surveillance vs. Adjuvant 1 Zyklus PEB (schwache Empfehlung) | Nervenschonende modifizierte RPLND) | |